Der vom Autor in Vorbereitung dieser Rezension durchgeführte Selbstversuch, nachträglich einen olfaktorischen Eindruck des Geruchs von Westpaketen zu bekommen, schlug gründlich fehl. Das Duschbad „Westpaket“ der thüringischen Firma Nuth bot nicht den erwarteten Duft von Kaffee, Orangen oder Pflegeprodukten, sondern enttäuschte mit dem Geruch des „Extrakt[s] der Thüringer Waidpflanze“.1 Welchen Stellenwert sinnliche Erfahrungen für die Prägung des „Päckchengedächtnis[ses]“ (S. 7) der West- und Ostdeutschen hatten und wie der innerdeutsche Paketverkehr zwischen 1949 und 1989 die gegenseitigen Vorstellungen des Lebens der Anderen beeinflusste, erkundet Konstanze Soch in ihrer an der Universität Magdeburg entstandenen, 2018 als Buch erschienenen Dissertation. Damit schließt die Autorin eine Forschungslücke, denn die bisher erschienenen Arbeiten zu diesem Thema beschäftigten sich fast ausschließlich mit der Geschichte der Westpakete.2
Um die miteinander verbundenen Wahrnehmungen der Versendenden und Empfangenden auf beiden Seiten der Grenze zu untersuchen, greift die Autorin auf den von Michael Werner und Bénédicte Zimmermann geprägten Ansatz der Histoire croiseé3 zurück. Sie versteht den Paketverkehr als eine „Plattform des sozialen Austausches“ (S. 15), die einen grenzüberschreitenden Kommunikationsraum konstituierte, in dem nicht nur persönliche Beziehungen hergestellt und aufrecht gehalten, sondern auch Selbst- und Fremdwahrnehmungen geprägt wurden. Zur Analyse der Akte des Ver- und Auspackens nutzt Soch, in Anlehnung an die Forschungen des Soziologen Gerhard Schulze zur „Erlebnisgesellschaft“, den Begriff der „alltagsästhetischen Episode“ (S. 29). Weshalb die Autorin auf die Verwendung naheliegender methodischer Ansätze aus der Konsumgeschichtsforschung, der Forschungen zu materieller Kultur oder der Emotions- und Sinnesgeschichte verzichtete, wird an dieser Stelle leider nicht erklärt.
In ihren Ausführungen zu den Quellengrundlagen erläutert Soch die Auswertungstechniken ihrer leitfadengestützten thematischen Interviews. Die Befragten unterteilt sie in drei Alterskohorten, denen sie jeweils spezifische Sozialisationserfahrungen zuordnet. Die akribisch zusammengestellten und ausgewogen auf Ost und West verteilten Kohorten umfassen jeweils acht Interviewte, die sowohl in städtischen als auch in ländlichen Räumen lebten. Die erste Kohorte besteht aus Personen, die zwischen 1923 und 1935 geboren wurden und zu den ersten Paket-Versendern unmittelbar nach Kriegsende gehörten. In der zweiten Kohorte sind Zeitzeugen der Jahrgänge 1947 bis 1955 erfasst, die ausschließlich in West oder Ost sozialisiert wurden und den Mauerbau bewusst miterlebten. Die dritte Kohorte umfasst zwischen 1958 und 1971 geborene Personen, für die „die Teilung Deutschlands und die Existenz der Mauer zum Alltag gehörten“ (S. 313). Die beiden Faktoren Alter und Sozialisation beeinflussten, so das Argument, die Motive für den Versand und die Bestückung der Pakete auf entscheidende Weise. Zur Untersuchung der medial vermittelten Vorstellungen der Lebenssituation des jeweiligen Gegenübers stützt sich die Autorin vor allem auf Zeitungsartikel.
Das Herzstück des Buches ist ein umfangreiches, in sich untergliedertes Kapitel zum privaten Päckchen- und Paketversand, dem zwei Abschnitte zum organisierten und halb-privaten Versand vorangestellt sind. Einführend widmet sich Soch den Hilfslieferungen für die Bevölkerung in den alliierten Besatzungszonen während der unmittelbaren Nachkriegszeit. Am Beispiel der CARE-Pakete (Cooperative for American Remittances for Europe) betont sie, dass nicht nur die erfahrene Solidarität, sondern auch die eigene mangelhafte Versorgungssituation im Westen eine „karitative Motivation“ prägte (S. 279), die vor allem Personen der ersten Alterskohorte zum Versand von Paketen in die DDR bewegte. Gleichzeitig förderte die Bundesregierung seit den frühen 1950er-Jahren den organisierten Paketverkehr, indem sie antikommunistisch orientierte Vereine wie den „Deutschen Frauenring“ (S. 68) mit Sach- und Geldmitteln unterstützte. Somit erfüllten die Westpakete von Beginn an eine doppelte Funktion: Einerseits dienten sie als ein Medium zur Kommunikation von politischen Botschaften und als Ausweis der wachsenden wirtschaftlichen Potenz der Bundesrepublik, andererseits sicherten sie die persönlichen Kontakte über die Grenze hinweg und minderten die Versorgungsengpässe im Alltag der DDR-Bevölkerung (was die SED-Führung durchaus einkalkulierte). Um die politische Wirkung des innerdeutschen Paketverkehrs zu kontrollieren und den Versand stärker zu regulieren, erließ die DDR-Regierung 1954 eine „Verordnung über den Geschenkpaketverkehr“ (GVO), deren Durchführungsbestimmungen bis 1989 immer wieder wirtschaftlichen und politischen Notwendigkeiten angepasst wurden.
Das Hauptkapitel zum privaten Versand unterteilt Soch in fünf chronologische Abschnitte, denen sie jeweils ein dominantes Motiv für den Versand zuordnet. Diese Ordnung irritiert, da sie nicht den vorgestellten Alterskohorten entspricht. Zudem wird nicht klar, ob die Logik der Chronologie politischen Ereignissen, administrativen Bestimmungen, medialen Berichten oder den Erfahrungen der Interviewpartner folgt. In den ersten beiden Unterkapiteln widmet sich die Autorin der Zeit von 1949 bis 1961. Anhand der Wechselwirkungen zwischen medialer Berichterstattung und dem Verhalten der Zeitzeugen beim Packen und Versenden von Paketen zeigt sie, wie sich in der Bundesrepublik das Bild einer politisch und wirtschaftlich notleidenden Bevölkerung in der DDR verfestigte. Die im Paketverkehr der 1950er-Jahre eingeübten Rollen der Gebenden und der Nehmenden, die Wahrnehmung der Lebensweise des Gegenübers als grundsätzlich anders sowie die emotionale „Schieflage“ (S. 281) zwischen Empfangenden und Versendenden prägten die Selbst- und Fremdwahrnehmungen von Ost- und Westdeutschen bis 1989. Die emotionale Differenz entstand, wie Soch an den Aussagen der Zeitzeugen immer wieder belegt, aus der unterschiedlichen Wertschätzung der verschenkten Gegenstände im Alltag. Das ritualisierte Auspacken der Westpakete im Familienkreis erinnern die Zeitzeugen als sinnlich-emotionale Erfahrung und nicht-alltägliches Erlebnis. Der Empfang und das Auspacken der „Ostpakete“ (S. 11) hingegen waren nicht mit derselben emotionalen und sensorischen Qualität verbunden. Für die Versendenden der Westpakete war die Bestückung, wenn überhaupt, mit einem finanziellen Aufwand verbunden. Wie Soch schlüssig darlegt, stellte sich die Situation für die Versendenden von Ostpaketen grundsätzlich anders dar. Die Beschaffung oder Herstellung der verschickten kunstgewerblichen Gegenstände, Backwaren oder regionalen Spezialitäten bedeutete häufig einen erheblichen organisatorischen Aufwand. Dieses grundsätzlich andere Erleben trug entscheidend zur Etablierung der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Gebenden und Empfangenden bei.
Für den Zeitraum zwischen 1961 und 1989 macht Soch drei unterschiedliche Phasen aus, die jeweils etwa zehn Jahre umfassen: die Rückkehr zu karitativen Versandmotiven, die Routinisierung des innerdeutschen Paketversands sowie schließlich dessen „Renaissance“ (S. 241). Abgesehen von den ausführlichen Schilderungen der Postüberwachung durch die Geheimdienste auf beiden Seiten der Mauer sind die von Soch festgestellten, über alle politischen Veränderungen und Alterskohorten hinweg auftretenden kommunikativen Missverständnisse zwischen Versendenden und Empfangenden spannend. Um den Empfang von Westpaketen nicht zu gefährden und nicht als unverschämt zu erscheinen, äußerten die Empfangenden in der DDR meist keine Wünsche. Die Westdeutschen hingegen kommunizierten nicht, wenn ihnen die zugeschickten Gegenstände nicht gefielen, um die ostdeutschen Bekannten und Verwandten nicht vor den Kopf zu stoßen. In den 1970er-Jahren änderte sich aufgrund der verbesserten wirtschaftlichen Situation in der DDR nicht nur die politische und mediale Rhetorik in der Bundesrepublik, sondern auch die Zusammensetzung der Westpakete. Da die Bevölkerung in der DDR nun nicht mehr als unmittelbar hilfsbedürftig galt, verschickten die Westdeutschen kaum noch Grundnahrungsmittel, sondern vorwiegend Genussmittel wie Tabak, Kaffee und Süßigkeiten sowie kleinere Luxusartikel und neuwertige Kleidungsstücke. Dass die über „Jahrzehnte praktizierte Rollenverteilung zwischen Sendern und Empfängern“ (S. 265) nach der deutschen Einheit nicht einfach überwunden werden konnte, zeigt Soch in ihrem abschließenden Kapitel. Insbesondere die Zeitzeugen aus dem Westen zweifelten angesichts des nach dem Mauerfall sichtbaren Konsums von Ostdeutschen nachträglich deren Hilfsbedürftigkeit an. Ob und wie der Kontakt auch nach 1989/90 aufrechterhalten wurde, hing in hohem Maße von individuellen Faktoren ab – der geographischen Entfernung zueinander, familiären und generationellen Konstellationen sowie der Intensität der zuvor gepflegten Kontakte.
Die mediale Berichterstattung zum Erscheinen von Konstanze Sochs Buch verdeutlicht die erinnerungskulturelle Anschlussfähigkeit und Relevanz ihres Themas.4 Positiv hervorzuheben ist ihr Rückgriff auf die Erinnerungen und Wahrnehmungen von Zeitzeugen. Sie lässt ihre Quellen ausführlich sprechen, was mitunter aber zu Lasten der Interpretation geht. Beispielsweise bleibt die Aussage eines westdeutschen Mannes unkommentiert, der sich 1983 in einem Leserbrief über eine humanitäre Paketaktion für die polnische Bevölkerung beschwerte. Es sei, so das präsentierte Zitat, nicht das Problem der Deutschen, wenn Polen nicht in der Lage sei, „mit dem von uns geraubten Land“ (S. 244) seine Bevölkerung zu ernähren. Während stellenweise eine stärkere Einordnung wünschenswert gewesen wäre, stört in anderen Abschnitten eine Überinterpretation der Quellen. So tendiert Soch zur Pauschalisierung einzelner Aussagen in Interviews, wenn sie beispielsweise von der Äußerung einer Zeitzeugin auf die Wahrnehmung aller Kinder in der DDR schließt (S. 168). Diese Probleme hätten mit einer breiteren Rezeption und Anwendung von methodischen Zugängen der Konsumgeschichtsforschung oder der Geschichte der Gefühle wohl vermieden werden können. Die Quellen werden darüber hinaus häufig in langen Passagen dargestellt, verfasst in indirekter Rede. Dies erschwert den Lesenden die Unterscheidung zwischen Zitat und Interpretation. Nichtsdestotrotz liefert das Buch spannende Einsichten zur Entstehung und Verfestigung von stereotypen Selbst- und Fremdbildern in Ost- und Westdeutschland, die ihre vollen Wirkungen erst in der Umbruchszeit nach 1989 entfalteten.
Anmerkungen:
1 Label des Duschbades „Westpaket“ der thüringischen Firma Nuth, die zu DDR-Zeiten (bzw. auch schon seit 1929) einen Fleckenentferner produzierte.
2 Siehe etwa Christian Härtel / Petra Kabus (Hrsg.), Das Westpaket. Geschenksendung, keine Handelsware, Berlin 2000.
3 Michael Werner / Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636.
4 Siehe etwa das Interview von Nils Werner mit der Autorin, in: Mitteldeutscher Rundfunk, 06.07.2018, https://www.mdr.de/zeitreise/interview-brd-kontrolliert-westpakete100.html (23.10.2018).