F. Schmieder u.a. (Hrsg.): Wörter aus der Fremde

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Titel
Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte


Herausgeber
Schmieder, Falko; Toepfer, Georg
Erschienen
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Scholl, Historisches Seminar, Universität Siegen

Der vorliegende, im Kontext des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin entstandene Band spielt damit, „sperrig“ zu sein:1 Er sperrt sich zum einen gegen die Einordnung als begriffsgeschichtliches Lexikon, wissenschaftlicher Sammelband oder lose Sammlung von essayistischen Einzelbetrachtungen. Er sperrt sich zum anderen gegen eine Verortung innerhalb der jüngeren, disziplinär eher der Geschichtswissenschaft zuzuordnenden Forschungskonjunktur, die die Programmatik und Methodik einer global-, transnational- und transferhistorisch verfahrenden Begriffsgeschichte diskutiert und erprobt.2 Zwar formulieren die Herausgeber in der Einleitung das Ziel, die „Perspektiven der Erforschung geschichtlicher Grundbegriffe mit der Reflexion von Übersetzungsvorgängen und kulturhistorischen Übersetzungspraktiken zu verbinden“ (S. 14). In den einzelnen Beiträgen wird diese Akzentsetzung indes recht unterschiedlich verstanden und unterschiedlich stark beachtet – speziell konkrete „Übersetzungspraktiken“ werden eher selten beleuchtet. Ein wenig vermisst man außerdem eine stärkere Systematisierung oder Zusammenführung der erkenntnisleitenden Fragen bzw. möglicher diesbezüglicher Ergebnisse. Dies ist zu bedauern, denn damit hätte das zu Recht betonte Potenzial einer „Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte“ – mitsamt ihrer „Verwerfungen […] als eine Art Symptom“ (S. 15) – zusätzlich zu den interessanten Einzelbeobachtungen der Beiträge noch stärker herausgestrichen werden können.

Auch sonst geben die beiden Herausgeber relativ wenig über das theoretische und methodische Rüstzeug des Bandes preis.3 Neben Reinhart Koselleck, der prinzipiell jede Begriffsgeschichte als Übersetzungstätigkeit bezeichnet, aber speziell auf die Grenzen der Übersetzbarkeit zwischen verschiedenen Sprachen hingewiesen hatte, wird in der Einleitung auf das „Dictionnaire des intraduisibles“ rekurriert, das „die epistemische Produktivität von Übersetzungen“ (S. 12) betont habe.4 Interessant ist jedoch vor allem die Bezugnahme auf den in der Begriffsgeschichte weniger häufig zitierten Theodor W. Adorno. Mit ihm schreiben die Herausgeber Fremdwörtern sehr einleuchtend eine besondere epistemische Bedeutung zu, da sie Aussagen über Empfänger- und Herkunftssprache sowie über deren jeweilige Transformationen zulassen. Eine von Adorno vorgeschlagene Charakterisierung der Funktionen von Fremdwörtern (in der Paraphrase der Herausgeber: „als Zellen des Widerstands, als exogamisches Element der Sprache, als Zeugnis misslungener Integration“ etc.; S. 14) wird zwar erwähnt, aber leider nicht weiter auf die im Band behandelten Begriffe bezogen. Auch hätte man gern erfahren, ob die Herausgeber die in der Einleitung geschilderten Ausführungen Adornos und Kosellecks zur Besonderheit der deutschen Sprache teilen (Adorno: „metaphysischer Überschuss“; Koselleck: „Theorieträchtigkeit“). Letztlich vermisst man nähere Bestimmungen zum zeitlichen und geografischen Raum sowie zum Quellenkorpus, das den Beiträgen zugrunde liegt.

Dies wäre aber vielleicht auch gar nicht möglich gewesen, denn die insgesamt 52 Abhandlungen, die jeweils drei bis höchstens acht Seiten umfassen, sind von einer äußerst großen Heterogenität gekennzeichnet. Bei einer durchgehenden Lektüre sorgt dies für erfrischende Abwechslung, macht es aber zugleich schwer, einen roten Faden zu finden. Mit entwaffnender Offenheit schreiben die Herausgeber denn auch, es habe „keinen Plan der zu behandelnden Begriffe“ gegeben (S. 15). Es wurden sowohl Fremdwörter im Deutschen als auch in andere Sprachen übernommene Wörter des Deutschen ausgewählt. Die konkrete Themensetzung erfolgte durch die Forschungsschwerpunkte „Weltliteratur“, „Theoriegeschichte“ und „Lebenswissen“ des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung sowie durch die Forschungsinteressen ausgewählter Kooperationspartner. Hierbei erstreckt sich die Bandbreite der Begriffe von „Agent“ über „Mauscheln“ bis zu „Wissenschaft“. Verdichtungen lassen sich rund um den Weltbegriff ausmachen („Welt, je schon übersetzt“, „Weltanschauung“, „Welten in Übersetzung“, „Weltmusik“, „Weltschmerz“) sowie um Lemmata, die begriffsgeschichtliche Termini selbst thematisieren („Avant la lettre“, „Begriffsgeschichte“, „faux ami/falscher Freund“, „Intellectual history“). Mehrere Beiträge knüpfen zudem explizit an gegenwärtige Entwicklungen der politischen Sprache an („Alternative“, „Autonomie“, „Empathie“, „Rettungsschirm“, „sozial“, „Troika“)5, wenn auch nicht immer in dem kulturkritischen Tonfall, den Gerd Irrlitz in seinem Beitrag zur „Sprache in der Kultur des Events“ anstimmt. Schließlich wird eine Reihe von Begriffen behandelt, die ihre Prägung entweder durch Marx oder durch die verschiedenen Stränge des Marxismus erhalten haben („Charaktermaske“, „Dialektik“, „Elend“, „Proletarier“, „Verblendungszusammenhang“).

Worin liegt bei dieser thematischen Vielfalt nun das Gemeinsame? Welche Art von Begriffsgeschichten wird hier geschrieben? Auffällig ist, dass die Betrachtungen in den allermeisten Beiträgen an einzelne Personen oder deren Werk geknüpft sind. Häufungen finden sich für Marx, Engels, Hegel, Kant, Goethe, Aristoteles, Nietzsche, Benjamin, Adorno, Blumenberg (wie durch das Personenregister leicht zu erschließen ist). Diese Konzentration auf einzelne Autoren als Ansatzpunkte der Reflexionen birgt den Vorteil, diese näher würdigen zu können. In manchen Passagen könnte man jedoch den Eindruck gewinnen, „große Denker“ erschüfen ihre Begriffe eigenständig und relativ isoliert von dem sie umgebenden historischen Kontext. Die männliche Form ist dabei mit Absicht gewählt, denn Denkerinnen sucht man in dem Band beinahe vergeblich. In vielen Fällen wird zudem als Beleg für Versuche der Bedeutungsfestlegung eines Begriffs auf Wörterbücher zurückgegriffen. Dies ist zweifellos ein in der Begriffsgeschichte oft gegangener Weg, auf dem aber auch nur eine bestimmte, bereits selbst hoch sprachreflexive Quellengattung besichtigt wird. Nur selten werden Ausblicke in andere Bereiche des Sprachgebrauchs unternommen – etwa anhand politischer Reden oder (Print-)Medien.

Hinsichtlich der thematischen Schwerpunktsetzung des Bandes – begriffliche Übersetzungsvorgänge – fällt es dementsprechend schwer, ein einheitliches Bild zu zeichnen. In vielen Fällen gelingt es den Essays, die Deutungsproblematik und Bedeutungsverschiebung aufzuzeigen, die mit der jeweiligen Übersetzung verbunden sein konnte, etwa in den Artikeln zu „Coming-out/Outing“ oder zu „Charaktermaske“. Auf die Schwierigkeit, das Unübersetzbare zu übersetzen, wird an mehreren Stellen hingewiesen. Eine über die einzelnen, zweifellos interessanten und sprachsensiblen Beobachtungen hinausgehende These oder gar methodisch-theoretische Grundlegung für eine „Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte“ (so der Untertitel) lässt sich aus dem Band allerdings nicht herauslesen.

Insgesamt bewegen sich die „miniaturartigen Fallstudien“ (S. 14) des Bandes auf einem durchweg hohen argumentativen und sprachlichen Niveau. Speziell bei Essays, die der Leserin oder dem Leser bisher unbekannte Begriffe oder Denker präsentieren, führt dies mitunter dazu, dass den Gedankengängen nur mühsam gefolgt werden kann. Lässt man sich auf den verspielten und teils assoziativen Stil der Beiträge ein, lädt das Buch jedoch genauso zum begriffsgeschichtlichen Stöbern und Schmökern ein. Die erwähnte Sperrigkeit macht dabei durchaus den Charme des Bandes aus, bietet sie doch ausreichend Gelegenheit für eigene Deutungs- und Denkarbeit und führt nicht zuletzt dazu, bisherige persönliche Vorstellungen von Begriffsgeschichte und einzelnen Begriffen zu reflektieren. Begriffsgeschichtlich interessierte Historikerinnen und Historiker werden in vielen Fällen die historische Kontextualisierung und den Nachweis gesellschaftlich-politischer Machteffekte der ausgewählten Begriffe vermissen, wie er beispielsweise Wolfert von Rahden in seinem Beitrag „Alternative. Zur politischen Karriere eines Begriffs“ sehr gut gelingt. Gleichzeitig dürften sie aber den Reflexionsgrad und die sprachliche Tiefenanalyse der Beiträge sehr zu schätzen wissen.

Anmerkungen:
1 Ein anderer Rezensent bezeichnet den Band – wohl in der doppelten Bedeutung des Worts – als „merkwürdig“: Sebastian Schmitt / Fruchtbare Infiltration der Sprache. Annäherung an den begriffsgeschichtlichen Mehrwert der „Wörter aus der Fremde“, in: literaturkritik.de, 05.03.2018, http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=24257 (16.03.2018).
2 Vgl. nur als Auswahl folgende Sammelbände: Willibald Steinmetz / Michael Freeden / Javier Fernández-Sebastián (Hrsg.), Conceptual History in the European Space, New York 2017; Margrit Pernau / Dominic Sachsenmaier (Hrsg.), Global Conceptual History. A Reader, London 2016; Margrit Pernau / Helge Jordheim / Orit Bashkin (Hrsg.), Civilizing Emotions. Concepts in Nineteenth-Cenury Asia and Europe, Oxford 2015; Hagen Schulz-Forberg (Hrsg.), A Global Conceptual History of Asia, 1860–1940, London 2015.
3 An anderer Stelle hat Falko Schmieder – zusammen mit Ernst Müller, dem der hier besprochene Band gewidmet ist – allerdings eine ausführliche und instruktive methodisch-theoretische Ausführung zu seinem Verständnis von Begriffsgeschichte geliefert: Ernst Müller / Falko Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Frankfurt am Main 2016. Siehe dazu die Rezension von Heidrun Kämper / E. Müller u.a.: Begriffsgeschichte und historische Semantik, in: H-Soz-Kult, 15.11.2016, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22915 (16.03.2018).
4 Vgl. Barbara Cassin (Hrsg.), Vocabulaire européen des philosophies. Dictionnaire des intraduisibles, Paris 2004.
5 Vgl. hierzu auch die etwas verkürzende Besprechung des Bandes in der „Süddeutschen Zeitung“, die sich ausschließlich auf diesen Aspekt konzentriert: Jens Grandt / Als sollte Sprechen überhaupt reduziert werden, in: Süddeutsche Zeitung, 12.02.2018, S. 12, http://www.sueddeutsche.de/kultur/sprache-als-sollte-sprechen-ueberhaupt-reduziert-werden-1.3862780 (16.03.2018).