Landesmuseum Württemberg (Hrsg.): Kunstkammer Herzöge Württemberg

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Titel
Die Kunstkammer der Herzöge von Württemberg. Bestand, Geschichte, Kontext


Herausgeber
Landesmuseum Württemberg
Erschienen
Ostfildern 2017: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
3 Bde.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva Dolezel, Berlin

Die Stuttgarter Kunstkammer hatte weder die Dimensionen noch die Strahlkraft der Konkurrenzprojekte etwa in München oder Dresden, doch zählte sie in der frühen Neuzeit zu den wichtigsten Vertretern ihrer Art. Sie wurde von Herzog Friedrich I. von Württemberg (reg. 1593–1608) Ende des 16. Jahrhunderts gegründet, musste nach erheblichen Plünderungen im Dreißigjährigen Krieg neu aufgebaut werden und bestand dann bis ins frühe 19. Jahrhundert. Nach ihrer Auflösung gingen die Objekte, wie vielerorts, in die neu entstehenden Museen ein: Ein großer Teil befindet sich heute im 1862 eröffneten Württembergischen Landesmuseum. Objekte aus der Kunstkammer sind aber auch beispielsweise im Stuttgarter Naturkundemuseum, im Linden-Museum oder in der Staatsgalerie zu finden. Denn wie die meisten höfischen Kunstkammern umfasste die Stuttgarter Sammlung neben einem umfassenden Bestand an kostbaren kunsthandwerklichen Arbeiten auch eine Vielzahl von Objekten unterschiedlicher Wissensgebiete. Weit über Stuttgart hinaus bekannt waren etwa bereits im 18. Jahrhundert die sogenannten Fossilia Canstadiensia – der erste umfangreiche Fund eiszeitlicher Mammutknochen und -stoßzähne wurde 1700 auf Anweisung Herzog Eberhard Ludwigs (reg. 1693–1733) geborgen. Zu den prominentesten Stücken der Sammlung zählen außerdem zwei prachtvolle, aus dem frühen 16. Jahrhundert stammende aztekische Federschilde.

Fast 4.000 Objekte aus der Stuttgarter Kunstkammer werden noch heute in den Museen der Stadt aufbewahrt. Aber nicht nur das: Zugleich ist die erstaunliche Anzahl von über 120 Inventaren erhalten, die die 200-jährige Geschichte der Sammlung dokumentieren (zum Vergleich: Im Fall der Berliner Kunstkammer sind es für den gleichen Zeitraum gerade einmal vier). Insgesamt also eine sammlungshistorische Überlieferungssituation, von der man vielerorts nur träumen kann!

Intensiv hat man sich zuletzt in den 1970er-Jahren mit der Geschichte der Stuttgarter Sammlung befasst.1 Umso verdienstvoller ist es, dass jetzt eine umfangreiche Publikation zu der Kunstkammer der Württemberger Herzöge erschienen ist. Sie geht auf ein viereinhalbjähriges DFG-Projekt unter der Federführung des Württembergischen Landesmuseums zurück, geleitet von dem Kunsthistoriker Fritz Fischer (bis er 2017 als Direktor der Kunstkammer und der Kaiserlichen Schatzkammer an das Kunsthistorische Museum Wien wechselte).

Über 50 Mitarbeiter der verschiedenen, mit den Beständen der Kunstkammer verbundenen Stuttgarter Institutionen wirkten an diesem Projekt mit. Das Ergebnis sind drei schwergewichtige, mehr als 1.000 Seiten umfassende Bände. Sie werden durch eine online verfügbare Datenbank ergänzt, die alle noch erhaltenen Objekte der Kunstkammer mit Bild und Beschreibungstext erfasst. Ebenfalls online einsehbar ist das komplette Transkript des im frühen 18. Jahrhundert von dem damaligen Kustos Johann Schuckard (1640–1725) abgefassten Inventars der Sammlung (das in seiner Struktur für alle späteren Inventare der Sammlung prägend war).2 Zugleich wurde auf der Basis der neuen Forschungsergebnisse 2016 die neue, ebenso prachtvolle wie konzise Präsentation der Kunstkammer in der Dauerausstellung des Württembergischen Landesmuseums realisiert.

Man folgt damit dem Vorbild verschiedener Publikationsprojekte, wie sie seit den 1990er-Jahren etwa zu den Kunstkammern in Kopenhagen, Gottorf und Dresden realisiert wurden.3 Maßstäbe gesetzt in diesem Genre hat ohne Zweifel die Münchner Veröffentlichung von 2008, die das 1598 von Johann Baptist Fickler (1533–1610) erstellte Inventar der wittelsbachischen Kunstkammer ausführlich kommentiert und sogar mittels Vergleichsbeispielen auf nicht erhaltene Objekte eingeht.4 Auch in Stuttgart lag dem Projekt selbstverständlich die Beschäftigung mit dem Inventarmaterial zu Grunde. Anders als in den Vorgängerprojekten hat man sich hier jedoch dazu entschieden, den Fokus bei der Veröffentlichung statt auf die Inventartexte auf die heute noch erhaltenen Objekte zu legen.

Das Zentrum der Publikation bildet ein Katalog, der eine Auswahl von über 300 dieser Objekte mit zum Teil sehr ausführlichen Beschreibungstexten präsentiert. Dies gibt Raum, um die Objekte aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, von der kunst- und kulturhistorischen Einordnung bis hin zur sammlungsspezifischen Kontextualisierung. Erfreulicherweise sind auch die entsprechenden Inventareinträge sowie Angaben zum Erhaltungszustand abgedruckt. Viele der hier beschriebenen und in durchweg sehr ästhetischen Fotografien wunderbar in Szene gesetzten Objekte waren bisher unveröffentlicht. Über die Hälfte der erhaltenen Kunstkammerobjekte wurden überhaupt erst im Rahmen des Projekts als solche identifiziert. Allein dies macht die Stuttgarter Bände zu einer – der Kalauer sei verziehen – Schatzkammer der Sammlungsforschung.

Doch birgt die hier gewählte, auf die heutigen Bestände fokussierte Darstellungsweise auch ihre Tücken, denn der Erhaltungszustand einer Sammlung ist, wie die Autoren selbst anmerken, nur mit Einschränkung aussagekräftig, wenn es um ihre historische Verfasstheit geht. Auf welche Weise, möchte man fragen, vervollständigt sich das Bild, wenn auch die in den Inventaren verzeichneten, heute verlorenen Objekte einbezogen werden? Und wie ist es mit den verschiedenen Aggregatszuständen, die die Sammlung im Laufe der Zeit durchlaufen hat? Denn selbstverständlich wurden Kunstkammern von Generation zu Generation und im Zusammenklang mit wissenschaftlichen und museologischen Entwicklungen immer wieder neu interpretiert und entsprechend immer wieder neu bestückt, geordnet und inszeniert.

Um Fragestellungen wie diesen gerecht zu werden, hat man den Katalogteil mit 36 (!) Essays flankiert. Die Entwicklung jedes Sammlungsbereichs wird in einem eigenen Beitrag nachgezeichnet. Dem Katalogteil vorangestellt sind zudem Beiträge zur Geschichte der Kunstkammer, ihrer Ordnung, Präsentation und Nutzung, zur archivalischen Überlieferung, Rezeption und Forschungsgeschichte. Auch in diesen Texten ist die Darstellung außerordentlich materialreich. Doch bleibt das hier gezeichnete Bild der Stuttgarter Kunstkammer erstaunlich blass. Unweigerlich fragt sich der Leser, ob die exzeptionelle Quellensituation nicht eine plastischere Darstellung ermöglicht hätte. Gerade hier hätte man sich einige, wenn auch nur punktuelle Vertiefungen gewünscht, wodurch der Wandel von Bestandsschwerpunkten und Ordnungsmodellen stärker konturiert worden wäre; auch hätte man damit dem sich beim Durchblättern des Katalogs zuweilen einschleichenden Eindruck eines mehrere Jahrhunderte umspannenden Kunstkammerkontinuums deutlicher entgegenwirken können.

Diese kritischen Einwände sollen aber keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass es in den drei Bänden für die sammlungshistorische Forschung unendlich viel zu entdecken gibt. Das ist nicht zuletzt dem interdisziplinären Zuschnitt des Autorenteams zu verdanken. Neben Kunsthistorikern gehören hierzu unter anderem auch Ethnologen, Archäologen, Paläontologen, Botaniker und Mineralogen. So finden sich, trotz der überlieferungsbedingten Vorrangstellung des Kunsthandwerks, die verschiedensten Objektbereiche aus der Sicht des Fachspezialisten beschrieben – und ganz nebenbei wird noch einmal deutlich, wie anspruchsvoll die universale Anlage der Kunstkammern auch heute für die Forschung ist.

Zu den Eigenheiten der Stuttgarter Kunstkammer zählte etwa das seit dem 17. Jahrhundert über Generationen anhaltende Interesse an der Archäologie, das neben den eher erwartbaren antiken Funden auch ur- und frühgeschichtliche und sogar frühneuzeitliche Stücke einschloss. Diese Bestände sind in einer eigenen Sektion beschrieben, die auch auf die hier besonders virulenten Verschiebungen in der Deutung der Objekte eingeht. Eine echte Entdeckung ist der kleine Bestand an Maschinen-Modellen aus dem 18. Jahrhundert. Nur selten haben Beispiele dieser ursprünglich in so vielen Sammlungen vorhandenen Objektkategorie bis heute überdauert. Hier gewinnt man einen lebendigen Eindruck davon, wie eng eine frühneuzeitliche Kunstkammer mit tagesaktuellen ökonomischen Fragen und dem Wissenstransfer technischer Innovationen verknüpft sein konnte (in Dresden hat man diesen Aspekt 2010 mit dem schönen Ausstellungstitel „Zukunft seit 1560“ gewürdigt). Hervorzuheben ist zudem, dass auch den Manuskript- und Buchbeständen der Kunstkammer ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Sie umfassten kostbar gestaltete Gebetsbücher ebenso wie Kataloge anderer Kunstkammern und hatten so auch eine selbstreferenzielle, museologische Dimension.

Es ist in erster Linie die unendliche Fülle an präzise recherchierten und bisweilen überraschenden Informationen, die die Stuttgarter Publikation zu einer großen Bereicherung für die Kunstkammerforschung macht – und zum weiteren Forschen einlädt. Dazu tragen auch die im dritten Band zusammengestellten Register und Quellenübersichten erheblich bei und, nicht zuletzt, die begleitenden, sehr umfassend angelegten digitalen Angebote.

Mitunter werden frühneuzeitliche Sammlungen aufgrund ihrer häufig eher rudimentären Erschließungssituation wie Black-Boxes behandelt, die immer wieder neuen und zuweilen nicht besonders tiefgehenden Interpretationen unterzogen werden. Publikationen wie die Stuttgarter zeigen nicht nur, wie viel aufwändige Grundlagenforschung in diesem Bereich nötig ist. Sie vermitteln auch eine Ahnung davon, wie vielfältig die hier noch zu entdeckenden Themengebiete sein können. Es bleibt zu erwarten, dass die Kunstkammerforschung noch einmal in ganz andere Bereiche vorstoßen wird, wenn mehr Sammlungen als bisher mit vergleichbarer Umsicht aufgearbeitet sind.

Anmerkungen:
1 Werner Fleischhauer, Die Geschichte der Kunstkammer der Herzöge von Württemberg in Stuttgart, Stuttgart 1976.
2https://www.landesmuseum-stuttgart.de/sammlungen/digitaler-katalog/kunstkammer/ (13.07.2018); http://www.landesmuseum-stuttgart.de/sammlungen/forschung/kunstkammer/transkription-kunstkammerinventare/ (02.07.2018).
3 Bente Gundestrup (Hrsg.), Det kongelige danske Kunstkammer 1737, 3 Bde., Kopenhagen 1991–1995; Mogens Bencard / Heinz Spielmann (Hrsg.), Gottorf im Glanz des Barock. Kunst und Kultur am Schleswiger Hof 1544–1713, Bd. 2, Die Gottorfer Kunstkammer, Schleswig 1997; Dirk Syndram / Martina Minning (Hrsg.), Die kurfürstlich-sächsische Kunstkammer in Dresden, 5 Bde., Dresden 2012; Barbara Marx / Peter Plaßmeyer (Hrsg.), Sehen und Staunen. Die Dresdner Kunstkammer von 1640, Berlin 2014.
4 Dorothea Diemer u.a. (Hrsg.), Die Münchner Kunstkammer, 3 Bde., München 2008.

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