Welchen spezifischen Zugang zur Vergangenheit ermöglichen Objekte? Welche vergangenen Begebenheiten oder Umstände können sie überhaupt bezeugen? Wie unterscheidet sich der Aussage-Inhalt materieller Objekte von demjenigen, den Schrift- oder Bildzeugnisse vermitteln? Dies sind einige der grundlegenden Fragen, die sich die materielle Kulturforschung seit mehreren Jahrzehnten stellt, wenn sie Erkenntnisse über die ferne oder auch jüngste Vergangenheit erlangen will. Diese Fragen haben sich sogar zum Versprechen herauskristallisiert, das die materielle Kulturforschung glaubt erfüllen zu müssen, um die Originalität und Tragfähigkeit ihres Ansatzes zu beweisen.1
Auch die Herausgeberinnen des vorliegenden Sammelbandes, die Kulturhistorikerin Leora Auslander und die Osteuropa-Historikerin Tara Zahra, folgen dem Anspruch, die Vergangenheit und die Wege der Überlieferung mit spezifisch objektbasierten Herangehensweisen zu erkunden. Sie wählen dabei eine besonders fruchtbare Perspektive, nämlich die Analyse der materiellen Kultur im Kontext von Gewalt, etwa in Kriegen, während der Kolonialzeit und infolge erzwungener Migration. Unter diesen extremen Lebensumständen gewinnen bestimmte Objekte – so die Annahme der Herausgeberinnen – eine besondere Relevanz. Die Analyse ihrer Bedeutungsverschiebungen, Umwertungen, materiellen Veränderungen und Rekontextualisierungen verschaffe Einblick in die Emotionen und Erlebnisse von Individuen oder Gruppen, die keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterließen. Es handle sich um Aspekte, die der Geschichtsschreibung allzu oft versperrt geblieben seien oder die die Historiographie nicht näher beachtet habe.
Die zehn Aufsätze des Sammelbandes gliedern sich in drei Hauptteile, die die Bewegung von Objekten in verschiedenen Gewaltkontexten analysieren – zunächst in den durch staatliche Akteure geführten Kriegen moderner Nationalstaaten und Imperien. Oft diente die Zwangsmobilisierung der Objekte politischen Projekten: Untersucht werden der Diskurs über Kunstwerke an der Berliner Akademie der Wissenschaften im Rahmen des Napoleonischen Kunstraubs in Preußen (Alice Goff), die Aneignung römischer Altertümer durch Frankreich in Algerien während der Jahre 1830 bis 1870 (Bonnie Effros) sowie schließlich die Enteignung von beweglichem Vermögen unter den verschiedenen Gewaltregimen in Mittelböhmen zwischen 1938 und 1958 (Cathleen M. Giustino).
Der zweite Teil widmet sich der individuellen Nutzung von Gegenständen in Kriegszeiten. Bei Plünderungen eignete sich das Unionsheer im Amerikanischen Bürgerkrieg Objekte an, etwa eine versilberte Teekanne und weiteren wertvollen Hausrat, deren Bedeutung sich durch den sozialen symbolischen Wert steigerte (Sarah Jones Weicksel). Des Weiteren geht es um die Biographie eines sibirischen Soldaten der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg, die durch sein überlebensnotwendiges Gewehr und die errungenen Ehrenmedaillen erzählt wird (Brandon Schechter), die Identifikationskraft bürgerlichen Mobiliars für inhaftierte deutsche Soldaten in den Kriegsgefangenenlagern während des Ersten Weltkriegs (Iris Rachamimov) sowie die Anpassung der Häftlingsuniformen, die einige jüdische Gefangene in Auschwitz-Birkenau durchführten (Noah Benninga).
Der dritte und letzte Teil betrachtet das Nachleben der Objekte und ihre Verwandlung in Erinnerungsobjekte. Die 1933 zum Islam übergetretene Malerin Lisa Oettinger brachte deutsch-jüdische Familienobjekte 1937 mit nach Indien, wohin sie mit ihrem ersten Mann zog, dem damaligen Imam-Assistenten der Ahmadiyya-Moschee in Berlin (Gerdien Jonker).2 Einige Besitztümer von während der NS-Zeit ins Ausland geflüchteten Juden fanden Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Weg zurück nach Deutschland, ins Jüdische Museum Berlin (Jeffrey Wallen und Aubrey Pomerance). Schließlich geht es um Rocktücher, die Karen-Flüchtlinge, eine in Myanmar verfolgte Gruppe verschiedener Minderheiten, in den thailändischen Flüchtlingslagern der letzten Jahre trugen oder webten, um sich dort ein „Zuhause“ zu schaffen (Sandra H. Dudley).
Die spannenden Beiträge lassen sich gewissermaßen quer gliedern und ermöglichen einige Schlussfolgerungen allgemeiner Natur, wie zum Beispiel: Je entwurzelter und bedrohter die individuelle Existenz ist, desto mehr gewinnen bestimmte Objekte an Bedeutung und Affektivität. Entwirft man eine imaginäre Skala der Bedrohung, stehen im Sammelband auf der untersten Stufe die römischen Überreste in Algerien, zu denen die Lokalbevölkerung kaum einen affektiven Bezug hatte und die die französische Regierung unter anderem als ein Argument zur Rechtfertigung der kolonialen Herrschaft nutzte: Die Franzosen, selbsterklärte Nachfahren Roms, würden in ehemalige römische Kolonien zurückkehren, um ihnen erneut die Zivilisation zu bringen. Ganz oben auf dieser Skala stehen die für den jeweiligen Körper zugeschnittenen Häftlingsuniformen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Die vom Schneider angepassten Uniformen vermochten ihren Trägern einen gepflegten und gesunden Anschein zu verleihen, der bei den wiederkehrenden KZ-Selektionen höhere Überlebenschancen verschaffte.
Eine weitere mögliche Lesart der Aufsätze betrifft den changierenden Stellvertretercharakter der beschriebenen Objekte, die verschiedene Formen der Abwesenheit wettzumachen versuchen. Diese Funktion veranschaulichen etwa die „Stichproben“ der verlassenen Heimat, wie im Fall von Lisa Oettingers Fotoalbum und Familienkochbuch, Spitzen, Posamenten und Tischdecken, Juwelen, Büchern usw., die sie in zwei Truhen nach Indien mitnahm und die als pars pro toto ihrer jüdisch-deutschen Familie und Kultur standen; oder auch das Handtuch von Margarete Kuttner, das als Träger der unsichtbaren Spuren ihrer Hände fungiert. Sie bügelte es für ihren Sohn Paul und gab es ihm 1939, als er mit einem „Kindertransport“ nach England floh. Paul Kuttner verwendete das Handtuch nie zweckgemäß; er bewahrte es als eine Art Leichentuch auf, das die Handspuren der im KZ ermordeten Mutter enthält. Es einige Jahrzehnte später dem Jüdischen Museum Berlin zu schenken, bedeutete für Kuttner einen kleinen Sieg über die Nazis, die nicht jede Erinnerung an seine Familie haben auslöschen können. Und dieses Handtuch steht – zusammen mit ähnlichen zurückgekehrten Objekten – stellvertretend für die jüdische Kultur im Deutschland des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er-Jahre hinein. Von sich aus vermögen die Objekte nichts zu erzählen; ohne schriftliche oder mündliche Überlieferung bleiben sie stumm. Form, Farbe, teilweise das Material und bestenfalls ihre anfängliche Funktion lassen sich beschreiben, aber Geschichten, Zusammenhänge, persönliche Bedeutungen und Emotionen – eben das, was die Herausgeberinnen erschließen wollen – verraten Objekte nur dann, wenn es noch ergänzende Quellen gibt.
Damit ist ein letzter Aspekt angedeutet, der sich durch den Band zieht und mitunter für Irritation sorgt: die Vorstellung einer Agency der Objekte.3 Die Überzeugung, dass deren physische Qualität kommunikative, emotionale, expressive und performative Effekte haben kann, bringen die Herausgeberinnen sowohl in der Einführung als auch im Epilog zum Ausdruck. Dem folgen unter anderem Weicksel in ihrer Analyse zu den geraubten und zirkulierenden Objekten während des Amerikanischen Bürgerkriegs oder auch Rachamimov bei ihrer Untersuchung der sozialen Bedeutung von Kleidern und Hausmöbeln in den Gefangenenlagern des Ersten Weltkriegs. Diese Überzeugung erreicht den Höhepunkt im letzten, stark theoretisch angelegten Aufsatz, der den Rocktüchern der Karen-Flüchtlinge in Thailand gewidmet ist. Dudley zieht dort in Abgrenzung von Bruno Latours Begriff „Agency“ denjenigen der aristotelischen „Potenz“ vor, weil dieser keine anthropomorphe Intentionalität impliziere, und geht von einer Leistung aus, die Objekte ohne menschlichen Zugriff zu entfalten vermögen. Dieser Versuch bleibt insofern fragwürdig und theoretisch schwach, als dabei Aristoteles’ Akt-Potenz-Lehre vollkommen verdreht wird. Diese Lehre bezog sich ausschließlich auf Lebewesen, die seiner Ansicht nach die Eigenschaft besitzen, ihr eigenes vorbestimmtes Ziel bzw. ihren Zweck notwendigerweise zu entfalten („Entelechie“). Aber wozu Aristoteles bemühen, wenn dessen Begrifflichkeit wesentlich entstellt werden muss, damit diese nicht zur Absurdität führt, nämlich dass jedes Objekt in sich ein – teleologisch und theologisch – vorbestimmtes Schicksal trägt? Dass eine „Agency“ bzw. „Potenz“ der Objekte existiert, muss sich noch zeigen, denn kein Aufsatz des Sammelbands kommt ohne menschliche Bedeutungszuschreibungen aus. Objekten eine Stimme zu verleihen, kann lediglich metaphorisch bzw. mittels der Imagination erfolgen. Das führt zum Paradoxon, dass sich der Zugang zur „objectness of objects“ am besten durch „empathy and inventiveness“ erreichen lässt (Dudley, S. 279f.). Der methodische Zugriff durch Imagination und die rhetorische Figur der Personifikation scheint in dem Sammelband auf Sympathie zu stoßen, ohne dass die Frage der Grenze zwischen fiktionaler Literatur und Geschichtswissenschaft auch nur einmal problematisiert wird.
Diese kritischen Bemerkungen sollen andeuten, wie schwierig und tückisch es ist, eine Erkenntnistheorie der materiellen Kultur zu formulieren. Doch daran allein darf der Sammelband nicht gemessen werden. Das würde die reichhaltigen Sichtweisen auf die Vergangenheit und deren Menschen beeinträchtigen, die diese Beiträge den Leserinnen und Lesern gewähren, indem sie ihr Augenmerk auf Objekte und Mensch-Ding-Verhältnisse in Gewaltsituationen lenken.
Anmerkungen:
1 Ähnliche Fragen stellten sich bereits die frühneuzeitlichen Antiquare, wie Peter Miller gezeigt hat: Peter N. Miller, History and Its Objects. Antiquarianism and Material Culture since 1500, Ithaca 2017.
2 Siehe dazu auch Gerdien Jonker, „Etwas hoffen muss das Herz“. Eine Familiengeschichte von Juden, Christen und Muslimen, Göttingen 2018.
3 Im Sammelband wird auf Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie explizit Bezug genommen: Bruno Latour, Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005; dt. Übersetzung: ders., Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Aus dem Englischen von Gustav Roßler, Frankfurt am Main 2007.