Cover
Titel
Justus Möser. Anwalt der praktischen Vernunft. Der Aufklärer, Publizist und Intelligenzblattherausgeber


Autor(en)
Böning, Holger
Reihe
Presse und Geschichte - Neue Beiträge 110
Erschienen
Bremen 2017: Edition Lumière
Anzahl Seiten
375 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kai Lohsträter, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg

Was gibt es zu Justus Möser (1720–1794) „noch Neues, geschweige denn Originelles“ zu sagen? Die Frage, die Holger Böning seinem Buch über den berühmtesten Osnabrücker Sohn des Aufklärungszeitalters voranstellt (S. 11), ist keine rhetorische. Immerhin wurde über den Juristen, Staats- und Verwaltungsmann, den Historiker, Publizisten, Schriftsteller und (Alltags-)Philosophen bis heute nicht wenig geschrieben, wie ein Blick in die einschlägige Bibliographie zeigt.1 Daher muss man schon gezielter suchen, um einen noch nicht (in größerem Umfang) ausgeleuchteten Aspekt im Leben des Verfassers der berühmten, lange zum Kanon der deutschen Literaturgeschichte gehörenden Patriotischen Phantasien zu finden, der die wissenschaftliche Behandlung lohnt. Der Bremer Medien- und Aufklärungshistoriker findet ihn in der „Umgebung“, in der diese thematisch weitgefächerten literarische Kleinformen „das Licht der Welt erblickten“ (S. 16): in den seit 1766 von ihm selbst herausgegebenen Osnabrückischen Anzeigen.

Der Publizist Möser im Spiegel seines zu den sogenannten Intelligenzblättern gehörenden wichtigsten Verlautbarungsorgans steht mithin im Mittelpunkt des Buches, das eine rund 200-seitige Abhandlung mit neun Abbildungen, eine ca. 150-seitige, auf die Themen Intelligenzwesen und (Volks-)Aufklärung zugeschnittene Anthologie, ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister umfasst. Die Quellensammlung besteht aus 72 teils durch Anmerkungen aufbereiteten Texten aus der Feder Mösers und prominenter Weggefährtinnen und -gefährten. Präsentiert wird hier weder gänzlich unbekanntes noch besonders schwer zugängliches Material. Die Aufsätze und Briefe liegen – wie Böning selbst angibt (S. VIII) – ausnahmslos gedruckt bzw. ediert vor.2 Gleichwohl handelt es sich bei dem illustrativen Lesebuch um eine schöne und in Hinblick auf das Gesamtkonzept sinnvolle Ergänzung. Denn zum einen richtet sich Bönings Beitrag zum Publizisten und Aufklärer Möser keineswegs nur an das historische Fachpublikum, zum anderen ist es ihm ein sichtliches Anliegen, seinen Protagonisten und dessen Zeitgenossen möglichst umfänglich selbst zu Wort kommen zu lassen.

Dem Ton und den feinen Klangfarben der Zeit gibt der Bremer Medienhistoriker auch in seiner Abhandlung viel Raum. Hier zeigt sich, dass Böning neben seiner ausgewiesenen Expertise in der Presse- und Gesellschaftsgeschichte des Aufklärungszeitalters auch ein vorzüglicher Erzähler ist. Mühelos gelingt es ihm, vom partikularen Beispiel der Person Mösers und seines Intelligenzblattes aus ein lebendiges, anschauliches und facettenreiches Epochenbild zu zeichnen. Auf begrüßenswert quellennahe und leichtfüßig daherkommende Weise gewährt seine Darstellung tiefe Einblicke in die Medienlandschaft, den (popular-)aufklärerischen Diskurs und die schriftstellerisch-publizistische Praxis des 18. Jahrhunderts. Kurzum: Das Buch schafft den Spagat, einem komplexen geschichtswissenschaftlichen Sujet angenehm lesbare Form zu geben, ohne die Seriosität preiszugeben.

Nach der Einführung (S. 15–35), in der Möser skizzenhaft in seiner ganzen biographischen Breite vorgestellt wird, das heißt, auch diejenigen bekannteren Aspekte seines Lebens und Schaffens Erwähnung finden, die im weiteren Verlauf eher im Hintergrund bleiben, gliedert sich die Arbeit in drei Themenbereiche: Erstens die Entwicklungsgeschichte des Osnabrücker Intelligenzblattes und seine medienhistorische Verortung (S. 35–86), zweitens eine Analyse insbesondere der (popular-)aufklärerischen Inhalte des Periodikums (S. 87–172), drittens Anmerkungen zu Fragen der Autorschaft und (Leser-)Resonanz des ‚Anzeigenorgans’ sowie zur Rezeption Mösers als Publizist (S. 173–212). Dass diese recht kohärente Struktur im Inhaltsverzeichnis auf den ersten Blick nicht sichtbar wird, weil einige Kapitelüberschriften aus unkonventionell knappen, für sich genommen wenig aussagekräftigen Stichworten („Leibeigenschaft“) oder Fragen („Volksaufklärung?“, „Zulässigkeit der Volkstäuschung?“, „Rückschluss von den Adressaten auf die realen Leser?“) bestehen und damit etwas sporadisch wirken, ist eine der zwei stilistischen Unschönheiten der Arbeit. Die andere ist, dass in der Einleitung bereits sämtliche zentralen Befunde der nachfolgenden Darstellung benannt sind. Das mag als Überblick Sinn machen, führt naturgemäß aber zu gewissen Redundanzen.

Die Entwicklungsgeschichte und medienhistorische Kontextualisierung beginnt 1746/47 mit Mösers ersten Gehversuchen als Hauptautor und Herausgeber zweier Moralischer Wochenschriften (Wochenblatt, Deutsche Zuschauerin) – typische Phänomene der sich ausdifferenzierenden Zeitschriftenlandschaft des Aufklärungsjahrhunderts. Was einerseits inhaltlich und formal noch weit vom späteren Intelligenzblatt entfernt scheint, will Böning andererseits nicht als bloße Episode, sondern mit seinen autobiographischen und philanthropischen Implikationen als Teil eines publizistischen Gesamtprogramms verstanden wissen (S. 37–52). Aus solcher Langfristperspektive betrachtet er auch die mediengeschichtlichen Hintergründe der Osnabrückischen Anzeigen (S. 53–86). Über eine Schärfung des Blicks für die gestalterischen und funktionalen Eigenheiten des in den 1720er-Jahren entstandenen publizistischen Genres der Intelligenzblätter inklusive der Relativierung der älteren Auffassung, dass es sich bei Mösers Medium um eine „unikale Erscheinung“ gehandelt habe (S. 56), arbeitet er sich zur Kernthese des Buches vor: Die Osnabrückischen Anzeigen sind als Symptom des frühneuzeitlichen Intelligenzwesens integraler Schlüssel zum Verständnis von Persönlichkeit und Werk Mösers, das es ohne den impulsgebenden medialen Rahmen in seiner bekannten Form „nicht gegeben“ hätte (S. 85). Denn es waren, wie Böning plausibel vorführt, nicht die politischen Zeitungen oder Zeitschriften, sondern vor allem die 1750 gegründeten Hannoverischen Anzeigen, die Inspirationsquelle des Publizisten Möser wurden. Als eines der wichtigsten periodischen Organe der „gemeinnützig-ökonomischen Aufklärung“ (S. 75), in dem sich zeitnah Vorschläge zur Verbesserung des (lokalen oder regionalen) Alltagslebens verbreiten und diskutieren ließen, kam das Blatt seinen sozialen Reformvorstellungen näher als die gelehrten Zeitschriften oder die auf das politische Theatrum Europaeum bezogene Zeitungsberichterstattung des 17. und 18. Jahrhunderts – nicht zuletzt, weil Möser gegenüber der gesamtgesellschaftlichen politischen Teilhabe zeitlebens skeptisch blieb (S. 67, 155–164).

In seiner Inhaltsanalyse der Osnabrückischen Anzeigen, deren Funktion sich – wie bei den meisten dieser Publikationen – nicht in der Verlautbarung obrigkeitlicher, gewerblicher oder privater Inserate erschöpfte (S. 87–96), illustriert Böning, in welcher Form Möser dieses Forum der praktischen Vernunft, in dem die herkömmlich getrennten Sphären der Kopf- und Handarbeit, der Theorie und Anwendung zusammenfanden bzw. in ein Spannungsverhältnis gesetzt wurden (S. 97–113), mit Leben füllte. Seine Beiträge weisen ihn als großen Sympathisanten der land- und hauswirtschaftlichen Reformprojekte und der medizinische Volksaufklärung aus (S. 123) – allerdings als einen mit eigenem Kopf, der ein Ohr für „die Argumente der bäuerlichen Bevölkerung“ (S. 124) hatte, eine spezifische „Sitten- und Moral-Erziehung“ des Landmanns ablehnte (S. 149), Zurückhaltung gegen jegliche ‚Projektmacherei’ bewies, (auch ökologische) Einwände gegen alle Vorschläge, die „Arbeit und Gewinn zum ersten Lebenszweck“ erklärten, hegte (S. 133–135), ein zwiespältiges Verhältnis zu pädagogischen Neuerungen und zur Bekämpfung des Aberglaubens hatte (S. 136–143) und konsequent am Modell der ständischen Gesellschaft einschließlich der Leibeigenschaft festhielt (S. 154, 165–172). Die von Böning entlang der publizistischen Äußerungen beschriebene Doppelrolle Mösers als Teilnehmer und kritischer, in ein Korsett äußerer Zwänge (S. 170, 214) eingebundener Beobachter des popularaufklärerischen Diskurses ist in mehrfacher Hinsicht erhellend: weil es die Bedeutung des Intelligenzblatts für sein Werk belegt, weil es einen an Karl Welker3 anknüpfenden Beitrag dazu leistet, den älteren Etikettierungen des Osnabrückers „als Ahnherrn des Konservativismus, als Gegner der Aufklärung oder gar als Ahnherrn des Irrationalismus“ das schattierte Porträt eines „in keine Schublade“ passenden (S. 213), argumentationsfreudigen, warmherzigen, humorvollen, geselligen und vorsichtig hofkritischen Menschen (S. 33–35) entgegenzusetzen, und weil es zu einer differenzierten Sicht auf die vermeintliche Einheit der (Volks-)Aufklärungsbewegung anregt.

Im dritten Teil seiner Abhandlung geht Böning noch einen Schritt weiter, wenn er die Fragen nach der Verifizierbarkeit von Urheberschaft in einer von Anonymität und Nachdruckpraxis geprägten journalistischen Landschaft, nach dem greifbaren Publikum und seiner Sozialstruktur, nach der tatsächlichen Medienwirkung (S. 173–197) und nach den Diskrepanzen der Wahrnehmung Mösers aus lokal-zeitgenössischem und national-retrospektivem Blickwinkel (S. 199–212) diskutiert. Stärker als in den vorangegangenen Abschnitten verbindet er diese mit einer kritischen Revision der, zumindest was die Medien- und Aufklärungsgeschichte betrifft, von ihm selbst wesentlich mitgeprägten jüngeren Forschung. Umso bemerkenswerter ist, dass er dabei weniger apologetisch argumentiert, als vielmehr erfrischend schonungslos die Finger in die nicht immer offen sichtbaren Wunden legt und Desiderate benennt: Tiefenbohrungen zur zeitgenössischen Wissenszirkulation (S. 177), eine neue Lese(r)-Forschung (S. 192–195), Langfristuntersuchungen zu Mentalitätsveränderungen (S. 197), Untersuchungen zum Verhältnis von Handlungsabsicht und der (Grund-)Erfahrung des Scheiterns im patriotisch-aufklärerischen Bürgertum des 18. Jahrhunderts (S. 196–197, 215). Spätestens an diesen Stellen werden selbst die sehr guten Kenner der Materie in dem Buch eine interessante, gewinnbringende Lektüre finden.

Anmerkungen:
1 Winfried Woesler (Hrsg.), Möser-Bibliographie 1730–1990, Tübingen 1997; Martin Siemsen, Zur Möser-Bibliographie 1730–1990. Fortschreibung: 1991–2010, in: Ders. / Thomas Vogtherr (Hrsg.), Justus Möser im Kontext. Beiträge aus zwei Jahrzehnten, Osnabrück 2015, S. 291–364.
2 Martin Siemsen (Hrsg.), Justus Möser Lesebuch. Zusammengestellt und mit einem Nachwort von Martin Siemsen, Bielefeld 2017; Karl H. L. Welker (Hrsg.), Justus Möser. Politische und juristische Schriften, München 2001.
3 Karl H. L. Welker, Rechtsgeschichte als Rechtspolitik. Justus Möser als Jurist und Staatsmann, 2 Bde., Osnabrück 1996.

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