Es gehört zu den Paradoxien der frühen Bundesrepublik, dass ausgerechnet der KZ-Überlebende Kurt Schumacher der als Traditionsverband gerade gegründeten „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS e.V.“ (HIAG) im Jahr 1952 öffentlich die Hand reichte und so dazu beitrug, dass deren Belange bei den Volksparteien Gehör fanden. Nach seinem Treffen am 4. Oktober 1951 mit dem HIAG-Vorsitzenden, ehemaligen SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS Otto Kumm, welcher 1944/45 Kommandeur der an zahlreichen Kriegsverbrechen auf dem Balkan beteiligten 7. SS-Freiwilligen-Gebirgs-Division „Prinz Eugen“ gewesen war, erklärte Schumacher, „er habe keine Vorbehalte gegenüber den Zusammenschlüssen ehemaliger SS-Angehöriger und lehne auch in Bezug auf die SS jede ‚Kollektivschuld‘ ab“ (Eichmüller, S. 26). Kumm soll bei dem Gespräch damit argumentiert haben – so der Militärhistoriker Jens Westemeier –, dass die SPD die Waffen-SS als positiven Bestandteil der Wehrmacht begreifen solle, weil es „noch nie in Deutschland eine Truppe gegeben [habe], deren Struktur so der alten sozialdemokratischen Vorstellung vom Volksheer entsprochen habe, wie die ehemalige Waffen-SS.“ 1
Gegenüber dem Genfer Professor und Funktionär des Jüdischen Sozialistischen Arbeiterbundes Liebmann Hersch rechtfertigte sich Schumacher, er habe nicht die Absicht, individuelle Verbrechen zu entschuldigen, aber die Waffen-SS sei zu Unrecht für die Taten des SD haftbar gemacht und in eine „ausgesprochene Pariarolle“ gedrängt worden. „Es liege im Wesen totalitärer Systeme, eine Mitschuld aller zu erzeugen, und ihm scheine es ‚eine menschliche und staatsbürgerliche Notwendigkeit zu sein, diesen Ring zu sprengen und der großen Masse der früheren Angehörigen der Waffen-SS den Weg zu Lebensaussicht und Staatsbürgertum freizumachen’.“ Dies müsse auch deshalb geschehen, um sie nicht „dem Rechtsradikalismus oder dem Kommunismus in die Hände zu treiben“. Die hierfür nötige moralische Autorität hätten nur „Verfolgte jener Jahre“. (Zitate nach Eichmüller, S. 27, mit weiteren Nachweisen.) Aber nicht nur die SPD-Spitze fürchtete, dass die „Ehemaligen“ sich radikalisieren könnten. Bundeskanzler Konrad Adenauer gab am 3. Dezember 1952 im Deutschen Bundestag eine „Ehrenerklärung“ für alle „Waffenträger unseres Volkes“ ab und erklärte in einem Brief an den ehemaligen SS-General Paul Hausser, dass dies auch für Angehörige der Waffen-SS gelte, „soweit sie ausschließlich als Soldaten ehrenvoll für Deutschland gekämpft“ hätten (Eichmüller, S. 35). Auf einer Wahlkampfveranstaltung in Hannover am 30. August 1953 prägte Adenauer dann die von den HIAG-Lobbyisten begierig aufgegriffene Losung, dass die Angehörigen der Waffen-SS „Soldaten wie andere auch“ 2 gewesen seien: Man müsse die Waffen-SS von der Allgemeinen SS, deren Gräueltaten „ein Schandfleck […] für das deutsche Volk“ gewesen seien, unterscheiden. Mit der SS habe die Waffen-SS „nur den Namen gemeinsam“ (zit. nach Eichmüller, S. 35).
So entwickelte sich – wie Karsten Wilke in seinem Beitrag zum Sammelband von Jan Erik Schulte und Michael Wildt (S. 78) unter Verweis auf den Historiker Manfred Kittel herausstellt – bald „eine große Koalition von SPD und CDU“ in der Frage der Waffen-SS. Beide Parteien bemühten sich um die „Ehemaligen“. Sie fielen damit – wie Rafael Binkowski und Klaus Wiegrefe es pointiert formuliert haben – auf den großen „braunen Bluff“ der HIAG-Funktionäre herein, die mit einer Mischung aus Drohungen und Versprechungen das vermeintlich erhebliche Wählerpotenzial der ehemaligen SS-Angehörigen ins Feld führten3, obschon deren Bevölkerungsanteil mit etwa 250.000 (Wilke, S. 76, mit Verweis auf Kurt Philip Tauber)4 wohl weit niedriger lag, als seinerzeit vermutet wurde. Die Strategie wurde den Volksparteien von der HIAG souffliert: Trotz des Nürnberger Urteils, durch welches die SS – und dazu gehörte auch die Waffen-SS – zur „verbrecherischen Organisation“ erklärt worden war, und trotz des zeitgenössischen Forschungsstandes, wonach auch die SS-Totenkopfverbände und die Konzentrationslager-SS zur Waffen-SS gehörten, schlug man die Waffen-SS zur „sauberen Wehrmacht“, was langfristig (1961) auch eine Partizipation an Versorgungsleistungen durch eine weitgehende Gleichstellung mit früheren Wehrmachtsangehörigen bedeutete.
Ehemalige SS-Angehörige drängten während der 1950er-Jahre in verschiedene Positionen in Staat und Verwaltung. Allein im Bundesministerium des Innern wurden unter den leitenden Mitarbeitern Anfang der 1960er-Jahre etwa zwei Dutzend ehemalige SS-Angehörige wieder bzw. weiter verwendet.5 Bei den Sicherheitsbehörden – etwa dem Bundeskriminalamt (BKA) – war dieser Anteil noch höher: Aus einer von der Personalabteilung des BKA im Jahr 1958 erstellten Liste geht hervor, dass 33 von 47 leitenden Beamten im kriminalpolizeilichen Vollzugsdienst SS-Ränge innegehabt hatten, die vom BKA allerdings als bloße „Angleichungsdienstgrade“ geführt wurden (Herbert Reinke, in Schulte / Wildt, S. 211). Hierbei spielten persönliche Verbindungen eine große Rolle, wie Gerhard Sälter in seinem Aufsatz zum Sammelband am Beispiel Willy Lietzenbergs verdeutlicht. Dieser hatte sich 1944 bei der Fahndung gegen seinen ehemaligen Chef Arthur Nebe hervorgetan. Nach dem Krieg genoss er die Protektion des Generalinspekteurs der Bundeswehr Adolf Heusinger, dem er geholfen hatte, die gegen Heusinger erhobenen Beschuldigungen wegen einer Beteiligung am Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 zu zerstreuen. Heusinger wiederum verwandte sich bei Reinhard Gehlen, dem Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), für Lietzenberg.
Andreas Eichmüller, vormals Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte und nunmehr am NS-Dokumentationszentrum in München tätig, geht es in seiner Untersuchung um „öffentliche Thematisierungen, Diskurse und Debatten zur SS“ (S. 9). Aus dieser Perspektive hat er die westdeutsche Presselandschaft analysiert – insbesondere deren Leitmedien im Printbereich: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Zeit“ und „Spiegel“. In einer Grafik (S. 13) macht er deutlich, welche Konjunkturen der Begriff „SS“ in diesen Medien hatte, und versucht eine Periodisierung, die drei Spitzen gesellschaftlicher Thematisierung erkennen lässt: Zumindest im seit 1947 erscheinenden „Spiegel“, der im Ruf stand, in seiner Redaktion ehemalige SD-Männer zu beschäftigen (vgl. auch Eichmüller, S. 252), hatte das Thema „SS“ Anfang der 1950er-Jahre Konjunktur. Weitere Aufmerksamkeit erlangte es im Gefolge des Eichmann-Prozesses und des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses Mitte der 1960er-Jahre sowie Ende der 1970er-Jahre im Zuge der letzten Verjährungsdebatte. Auch in der „Zeit“ und der „FAZ“ lassen sich diese letzten beiden Spitzen nachzeichnen, allerdings etwas weniger pointiert.
An einen informativen Prolog, der Aufbau und Rolle der SS im „Dritten Reich“ kurz skizziert – eine Kontextualisierung, die man sich auch im Sammelband von Schulte und Wildt gewünscht hätte – schließt sich bei Eichmüller eine knappe Beschreibung des Nürnberger SS-Urteils und des Aufbaus der HIAG an. Die öffentliche Debatte um die politische Reintegration von SS-Angehörigen in die Institutionen der Nachkriegsgesellschaft wird unter anderem mit Augenmerk auf die heftig diskutierte Frage der „Wehrwürdigkeit“ dieser „Ehemaligen“ beim Aufbau der Bundeswehr dargestellt. Das letzte Kapitel von Eichmüllers detaillierter Analyse widmet sich dann der „Skandalisierung von individuellen SS-Vergangenheiten“ und dem Umgang mit schwer belasteten SS-Tätern in der Öffentlichkeit sowie der Rolle von ehemaligen SS-Angehörigen bei BKA und BND, die erst nach der Jahrtausendwende Gegenstand umfassender Untersuchungen wurden.
Schultes und Wildts Kompendium geht auf einen Workshop des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden vom Dezember 2012 zurück. Der Sammelband ist in fünf Abschnitte gegliedert; der erste Teil widmet sich „Entschuldungsnarrativen“. Jan Erik Schulte untersucht, inwieweit bereits der Nürnberger Prozess die apologetischen Narrative der Nachkriegszeit begründete: Die SS wurde hier als kriminelle Organisation verurteilt und erschien damit als Belzebub der Nation oder – wie Gerald Reitlinger es 1956 nannte – als „Alibi of a Nation“.6 Damit konnten auch die Verbrechen der Wehrmachtseinheiten oder diejenigen der Polizei und der Ministerialverwaltung pauschal der SS angelastet werden7, während gleichzeitig – und trotz der Nürnberger Nachfolgeprozesse etwa zu den Südostgenerälen oder zur Wilhelmstraße – die Legenden zur „sauberen Wehrmacht“ und „sauberen Verwaltung“ gesponnen wurden. Daneben weist Schulte aber auch auf die apologetische Wirkung des Urteils hin: Teile der SS, etwa die Reiter-SS, sogenannte SS-Ehrenmitglieder oder eben die angeblich bloßen „Dienstrangsangleichungen“ in Polizei und Verwaltung, wurden von der Zugehörigkeit zur kriminellen Vereinigung explizit ausgenommen. Heute wissen wir, dass auch Einheiten der Reiter-SS oder SS-Ehrenmitglieder wie der Innenstaatssekretär Wilhelm Stuckart8 oder sein Homolog im Auswärtigen Amt Ernst von Weizsäcker9 ebenfalls am Holocaust und anderen Genozidverbrechen beteiligt waren.
Andrew H. Beattie untersucht im nächsten Beitrag die zeitgenössischen Reaktionen auf die Internierung von SS-Angehörigen, die vielfach als ungerechte Besatzungsmaßnahme empfunden wurde, teils aber auch auf Zustimmung stieß. Hieran schließt sich Karsten Wilkes Beitrag zur HIAG an, der auf seiner Dissertation fußt und die Netzwerkbildung unter „Ehemaligen“ sowie deren gesellschaftliche Integration illustriert. Einen kurzen Ausflug in die SBZ bzw. DDR – und damit eine sonst in dem Band leider zu kurz gekommene vergleichende Perspektive – unternimmt Martin Clemens Winter in seinem Beitrag zur SS als „Negativfolie in Narrativen der Todesmärsche“. Hier wird deutlich, dass man in Ost und West auf lokaler Ebene bestrebt war, Endphasenverbrechen des Zweiten Weltkrieges – wenn man sie überhaupt öffentlich erwähnte – exklusiv der SS „in die Schuhe zu schieben“, um andere beteiligte Akteursgruppen zu exkulpieren.
Der zweite Gliederungspunkt „Juristische Aufarbeitungsversuche“ mit nur zwei Beiträgen wäre noch ausbaufähig gewesen, zumal die justizielle Aufarbeitung die Wahrnehmung bestimmter Tatkomplexe und Tätergruppen prägte.10 In seinem sehr erhellenden Beitrag zu den Ludwigsburger Vorermittlungsverfahren gegen das Einsatzkommando 3 beschreibt Kim Christian Priemel exemplarisch, woran die juristische Aufarbeitung „im Einzelfall“ oftmals scheiterte, auch wenn das investigative Interesse gegeben war: „[…] gut vier Dutzend Aktenordner an Zeugen- und Beschuldigtenaussagen [wurden] für das Archiv produziert, anderthalb Jahre Ermittlungszeit ohne eine einzige Verurteilung, ja, ohne auch nur einen Verhandlungstag“ (S. 143). Die Gründe hierfür waren vielschichtig. Das „Pech“ spielte eine wichtige Rolle, da zentrale Beschuldigte schon während der Ermittlungen starben. Zudem begrenzte Erwin Schüle 1960 – als erster Leiter der Zentralen Stelle in Ludwigsburg – den Kreis der zu verfolgenden Täter auf Inhaber der Befehlsgewalt und Exzesstäter. Mutmaßlich ging es ihm dabei um eine pragmatische Antwort auf die schwierige Frage, wie individuelle Schuld bei „government sponsored crimes“ in arbeitsteiligen Kollektiven zugerechnet werden konnte. Zudem sollten die Ermittlungen für NS-Prozesse die Strafverfolgungsorgane auch nicht über viele Jahre lahmlegen. Die Beschränkung auf Befehlsgeber und Exzesstäter trug allerdings dazu bei, dass von den wahrscheinlich etwa 200.000 Menschen, die unmittelbar an NS-Gewaltverbrechen beteiligt gewesen waren, weniger als 7.000 vor bundesdeutschen Gerichten verurteilt wurden.11
Ein Beitrag von Mike Schmeitzner behandelt die sowjetischen Verfahren gegen SS und Polizei unter anderem am Beispiel des Prozesses gegen den Höheren SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln in Riga (1946). Trotz ihrer beeindruckenden Zahlenbilanz zeichneten sich diese Verfahren jedoch allenfalls durch „demonstrative Rechtsförmigkeit“ aus (S. 149) und genügten nicht den Anforderungen an Rechtsstaatlichkeit.
Der dritte Abschnitt betrachtet die eingangs bereits skizzierten „personellen Kontinuitäten“: Bodo V. Hechelhammer, BND-Chefhistoriker, und Gerhard Sälter, 2012–2015 Mitarbeiter der Unabhängigen Historikerkommission zur BND-Geschichte (http://www.uhk-bnd.de), erörtern die Übernahme von SS-Angehörigen bei der „Organisation Gehlen“. Herbert Reinke, ehemaliger Mitarbeiter des Forschungsvorhabens „Die Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik“12, geht demgegenüber auf die bisher wenig untersuchte Frage der SS-Angleichungsdienstränge bei Polizisten im Zuge der Verklammerung von SS und Polizei ein, die Staatsrechtler wie Theodor Maunz bereits im „Dritten Reich“ diskutiert hatten.13
Hervorstechend ist hier der Beitrag von Swen Steinberg zu dem Ornithologen und SS-Obersturmführer Günther Niethammer – unter dem provokanten, in Anführungsstriche gesetzten Titel „Birding im KZ“. Tatsächlich nutzte Niethammer seine Zeit als Angehöriger der Wachmannschaften in Auschwitz auch zur Vogelbeobachtung und scheute sich nicht, dies zum Gegenstand wissenschaftlicher Abhandlungen in der Nachkriegszeit zu machen. Ertragreich ist an Steinbergs Beitrag auch, dass er den Umgang der Zunft mit Niethammer als späterem Präsidenten der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft (1968–1973) in den Blick nimmt.
Im vorletzten Abschnitt mit dem Titel „Populäre Mythen“ erörtert der bereits zitierte Jens Westemeier den beunruhigenden Grad der Einflussnahme von SS-Ehemaligenverbänden auf die Wahrnehmung insbesondere der Waffen-SS in der Öffentlichkeit und deren Darstellung in Film und Fernsehen. Andreas Eichmüller kontrastiert dies in seinem Beitrag mit einer Analyse der filmischen „Bilder und Narrative der SS“ während der 1970er-Jahre.14 Die weiteren Beiträge von Carl-Eric Linsler / Michael Kohlstruck zur „SS in der kulturellen Praxis“ des heutigen Rechtsextremismus und von Dana Schlegelmilch zur rechtsextremen Deutung der Wewelsburg runden die Sektion ab.
Im fünften und letzten Teil werden „Europäische Erinnerungsdiskurse“ thematisiert. Hier wird der Mythos der SS als europäische Armee kritisch hinterfragt. Christiane Kohser-Spohn beschreibt die „schwierige Integration“ der Geschichte der „Malgré-Nous“, der elsässischen und lothringischen Zwangsrekrutierten, in den französischen Erinnerungsdiskurs. Angesichts der Beteiligung elsässischer SS-Angehöriger am Massaker von Oradour-sur-Glane gab es hierüber erhebliche Konflikte innerhalb der französischen Gesellschaft. Immer noch kaum thematisiert wird die „Bewährung“ französischer oder niederländischer SS-Angehörige bei den Kolonialkriegen in Indochina und Indonesien nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Erinnerung an die Handschar-SS in Bosnien nimmt Sabina Ferhadbegović in den Blick und illustriert, welche Rolle dieser Erinnerungsdiskurs bereits in der fragilen multiethnischen Gesellschaft Jugoslawiens spielte, bevor der Vielvölkerstaat in mehreren blutigen Kriegen auseinanderbrach. In Rumänien bedienten sich volksdeutsche SS-Angehörige der Strategie der Namensänderung, um der Verfolgung und Deportation durch die Sowjets zu entgehen, wie Thomas Klipphahn in seinem Beitrag erläutert.
Steffen Werther untersucht die Strategie von vorwiegend skandinavischen, aber auch deutschen ehemaligen SS-Angehörigen, wenn schon nicht in der Heimat, so doch an den Schauplätzen des „Weltanschauungskriegs im Osten“ Denkmäler für ihre gefallenen Kameraden und die entsprechenden Einheiten zu setzen. Dies gelang nicht nur im estnischen Narva, sondern – mit Hilfeleistungen örtlicher orthodoxer Geistlicher – auch in Russland und der Ukraine, wobei jedoch die Verwendung des Begriffs „SS“ vorsorglich vermieden wurde.
Den Abschluss des vielseitigen Sammelbandes bildet ein Beitrag von Jennifer Zimmermann über „die SS und die Scham im literarischen Werk von Günter Grass“. Sie zeigt, dass Grass sich schon in früheren Werken – vor dem Buch „Beim Häuten der Zwiebel“ von 2006 – immer wieder mit dem Thema befasst und durchaus Hinweise auf seine eigene Waffen-SS-Zugehörigkeit gegeben hatte, sodass die Empörung über das „Outing“ im Rückblick etwas hohl erscheint. Dennoch beschädigte die späte Enthüllung Grass’ Rolle als öffentlicher Intellektueller und moralische Instanz, soweit es den Umgang mit der NS-Zeit betraf.
Für jede zeithistorisch interessierte Leserin und jeden Leser ist die Lektüre der beiden Bücher ein Gewinn, auch wenn nicht alle Beiträge dieselbe Qualität haben und man sich noch eine stärker vergleichende Perspektive zum Umgang mit ehemaligen SS-Angehörigen nicht nur in der DDR, sondern auch in Österreich oder den westlichen Nachbarstaaten wie Belgien und den Niederlanden gewünscht hätte. Der Aufbau einer erfolgreichen Demokratie in der Bundesrepublik trotz oder gerade wegen der Integration so vieler Menschen, die an schweren Gewaltverbrechen beteiligt gewesen waren, bleibt widersprüchlich und rätselhaft. Andreas Eichmüllers Monographie und der Sammelband von Jan Erik Schulte / Michael Wildt tragen dazu bei, die Mechanismen weiter zu erhellen, die dieses Miraculum möglich machten. Die Autorinnen und Autoren haben hierdurch nicht zuletzt eine wichtige Grundlage für weitere vergleichende Studien geschaffen, die sich mit der Elitentransformation in post-diktatorischen Gesellschaften befassen. Inwieweit die Bundesrepublik Deutschland hierbei aber ein best practice case sein kann, bedarf auch künftig intensiver Forschung und Diskussion.
Anmerkungen:
1 Jens Westemeier, Himmlers Krieger. Joachim Peiper und die Waffen-SS in Krieg und Nachkriegszeit, Paderborn 2014, S. 467.
2 Paul Hausser machte diese Losung zum Titel seines Bestsellers, der zur Legendenbildung beitrug: Soldaten wie andere auch. Der Weg der Waffen-SS, Osnabrück 1966, 5. Aufl. Riesa 2006. Die Tatsache, dass z.B. auch die Totenkopfverbände zur Waffen-SS gehört hatten und dass die Waffen-SS vielfach an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen war, wurde hierbei unterschlagen.
3 Rafael Binkowski / Klaus Wiegrefe, Brauner Bluff, in: Spiegel, 17.10.2011, S. 44f., https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-81015408.html (10.08.2019), zu Karsten Wilke, Die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit“ (HIAG) 1950–1990. Veteranen der Waffen-SS in der Bundesrepublik, Paderborn 2011. Siehe auch die Rezension von Wigbert Benz, in: H-Soz-Kult, 07.02.2012, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-16982 (10.08.2019).
4 Eichmüller geht in seinem Buch (S. 18f.) demgegenüber davon aus, dass etwa 600.000 bis 650.000 Waffen-SS-Angehörige das Kriegsende überlebt haben könnten, sodass man unter Abzug der Österreicher auf etwa 400.000 bis 500.000 Veteranen der Waffen-SS und rund 150.000 ehemalige Angehörige der Allgemeinen SS in der Bundesrepublik kommen könnte.
5 Frank Bösch / Andreas Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus, Göttingen 2018, S. 734.
6 Gerald Reitlinger, The SS. Alibi of a Nation. 1922–1945, Melbourne 1956, beschrieb, wie die SS nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu einem „bequemen Sündenbock“ wurde („convenient scapegoat“, S. 452). Eichmüller (S. 4) weist darauf hin, dass die deutsche Übersetzung von 1957 bezeichnenderweise „Die SS. Tragödie einer deutschen Epoche“ hieß und dass die Sätze fehlten, die die Entlastungsfunktion der SS thematisierten.
7 Auf deren Verantwortlichkeit hatte Gerald Reitlinger bereits in seinem 1953 auf Englisch publizierten und dann auf Veranlassung von Theodor Heuss auch ins Deutsche übersetzten Buch „Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939–1945“ (Berlin 1956) hingewiesen.
8 Vgl. hierzu Hans-Christian Jasch, Staatssekretär Dr. Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik. Der Mythos von der sauberen Verwaltung, München 2012.
9 Vgl. etwa Hans-Jürgen Döscher, Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der „Endlösung“, Berlin 1987; Dirk Pöppmann, Robert Kempner und Ernst von Weizsäcker im Wilhelmstraßenprozess. Zur Diskussion über die Beteiligung der deutschen Funktionselite an den NS-Verbrechen, in: Irmtrud Wojak / Susanne Meinl (Hrsg.), Im Labyrinth der Schuld. Täter, Opfer, Ankläger, Frankfurt am Main 2003, S. 163–197; Eckart Conze u.a., Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010.
10 Vgl. Hans-Christian Jasch / Wolf Kaiser, Der Holocaust vor deutschen Gerichten. Amnestieren, Verdrängen, Bestrafen, Ditzingen 2017.
11 Vgl. Andreas Eichmüller, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945. Eine Zahlenbilanz, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), S. 621–640, https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2008_4_4_eichmueller.pdf (10.08.2019).
12 Imanuel Baumann u.a., Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik, Köln 2011, https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/PolizeiUndForschung/Sonderband2011SchattenDerVergangenheit.html (10.08.2019).
13 Vgl. Theodor Maunz, Ein Verklammerungsphänomen, in: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Idee und Ordnung des Reiches, Hamburg 1943, S. 29–31; ders., Gestalt und Recht der Polizei, Hamburg 1943.
14 Das Cover des Sammelbandes zeigt ein Bild von Götz George als Rudolf Höß in dem Film „Aus einem deutschen Leben“ von 1977 nach dem Drehbuch und unter der Regie von Theodor Kotulla, der auf Verhörprotokollen des Prozesses gegen Höß basiert.