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Titel
Eduard Winter zwischen Gott, Kirche und Karriere. Vom böhmischen katholischen Jugendbundführer zum DDR-Historiker


Autor(en)
Luft, Ines
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 603 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lorenz Erren, Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg Universität Mainz

Der Deutschböhme Eduard Winter (1896–1982) gehörte zu den schillerndsten Vertretern des Fachs „osteuropäische Geschichte“ des 20. Jahrhunderts. Nacheinander war er katholischer Priester, Mitarbeiter der SS-nahen „Reinhard-Heydrich-Stiftung“ und schließlich Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Unter allen Regimen beschäftigte er sich mit denselben Themen und war vor seinem Tod überzeugt, sein Leben hindurch der Völkerverständigung gedient zu haben. Wie muss man sich einen solchen Menschen vorstellen?

Luft bleibt die Antwort nicht schuldig: Winter war ein hochbegabter Workaholic, ein machtsensibler Anpasser und zugleich ein ängstlicher, zur tieferen Reflexion letztlich unfähiger Narzisst. Seit den frühen 20er-Jahren produzierte er Monographien wie am Fließband, habilitierte sich in drei Fächern (Theologie, Philosophie und Geschichte) und blieb dabei stets in Tuchfühlung zu den in seinem Umfeld jeweils mächtigsten Kräften – nacheinander zur katholischen Kirche, zu den Nazis und schließlich zum Regime der SBZ/DDR. Zwischendurch heiratete er eine wohlhabende Tirolerin, die Immobilien und Personal in die Ehe mitbrachte, ihm Kinder gebar und die Aufgaben einer wissenschaftlichen Hilfskraft übernahm. Großen Wert legt Luft auf den Nachweis, dass der 1941 exkommunizierte Winter sich dennoch weiterhin als Priester fühlte, in der DDR Kirchensteuer zahlte und sich vor dem Tod die Sterbesakramente spenden ließ.

Leider verzichtete die Autorin auf eine Auseinandersetzung mit Winters wissenschaftlichem Gesamtwerk und den Versuch, ihm innerhalb der Osteuropa-Historiographie des 20. Jahrhunderts einen Platz zuzuweisen. Ihre hier und dort eingeschobenen Analysen ausgewählter Texte erweisen sich dennoch als aufschlussreich. Winters Denken kreiste immer um dasselbe Gegensatzpaar: Die finstere „Machtkirche“ gegen die menschenfreundliche „Geistkirche“, wobei erstere zuverlässig mit dem römischen Papsttum, der Kurie, dem Zölibat, den Jesuiten, den Habsburgern, Metternich, Masaryk und Kardinal Kašpar assoziiert werden kann, letztere hingegen je nach Kontext mit Kyrill und Method, Wycliff, der Priesterehe, den Hussiten, der Reformation, der Aufklärung, der josefinischen Reform, mit Bernard Bolzano, dem „Staffelstein“ – und letztlich auch mit Winter selbst.

Zweifellos hat Winter sein eigenes Wirken, sowohl das kirchliche wie das akademische, spätestens von 1919 an als Beitrag zur „Wiedergeburt des Sudetenvolks“ betrachtet, also zu einem Projekt, das gemeinhin auch als „Volkstumskampf“ bezeichnet wird. Katholische Gemeindearbeit und deutsche Volkstumspflege sollten nach Winters Vorstellung nahtlos ineinander übergehen. Die von ihm mitbegründete und bald von ihm allein geleitete katholische Jugendorganisation „Staffelstein“ warb mit ihrem ehrgeizigen Bildungsangebot, das deutschen Schülern helfen sollte, ihre angebliche Benachteiligung gegenüber tschechischen Altersgenossen zu kompensieren. In ihren Schriften feierte der „Staffelstein“ die historische Rolle der Deutschen als „Kulturträger“; in den 30er-Jahren adaptierte er dann auch bereitwillig die Symbolik und Lexik der reichsdeutschen NS-Bewegung. Bei alldem bestand Winter vehement darauf, dass seine katholische Jugendarbeit „unpolitisch“ sei und auch bleiben müsse – was immer er damit meinte. Als Universitätsdozent für Theologie entwickelte er zunehmendes Interesse, ja tiefe Sympathie für verschiedene religiöse Bewegungen der Slawen (für die Orthodoxie, die unierten Kirchen und die Hussiten) und fand auch schon in den 1920er-Jahren sein lebenslanges Idol, den Philosophen Bernard Bolzano (1781–1848), der seinerzeit Deutsche und Tschechen zur Freundschaft aufgerufen hatte.

Wie passte das alles zusammen? Winters latente Slawophilie, sein Eifer im Volkstumskampf und die vorgebliche „Unpolitik“? Leider hat die Autorin diese Frage nicht einmal klar formuliert, geschweige denn überzeugend beantwortet. Dasselbe gilt für die tieferen Gründe von Winters Missbehagen über den tschechoslowakischen Kirchentag von 1935, über die Umstände der Auflösung des „Staffelsteins“ (Luft nennt kein genaueres Datum als „1938“) und die Vorgeschichte des von Winters 1940/41 endgültig vollzogenen Bruchs mit der römisch-katholischen Kirche. Der Hinweis auf seinen Wunsch nach Heirat mit seiner langjährigen Geliebten Maria Kögl oder die persönliche Antipathie zwischen ihm und Karel Kardinal Kašpar reichen zur Erklärung nicht aus. Mit Blick auf Winters späteren Hass auf die Kurie scheint die Vermutung näher zu liegen, dass seine zeitweilig sehr erfolgreiche, aber eben auch allzu deutschnationale Laienbewegung von einem bestimmten Zeitpunkt an durch Rom beziehungsweise Kardinal Kašpar gezielt sabotiert wurde – womöglich mit Rücksicht auf das Verhältnis der Kirche zur Regierung der ČSR.

Die deutsche Okkupation der Tschechoslowakei 1938/39 beschleunigte Winters akademische Karriere jedenfalls enorm. Gegenüber den Nazis präsentierte er sich erfolgreich als Opfer der römischen Amtskirche. Seine theologische Professur wurde wie von ihm gewünscht zur geschichtswissenschaftlichen umgewidmet und außerdem wurde er zum Leiter des Instituts für „Osteuropäische Geistesgeschichte“ an der üppig finanzierten „Reinhard-Heydrich-Stiftung“ ernannt. Winters Rolle bestand darin, dieser vom jungen SS-Professor Hans Joachim Beyer geleiteten Institution einen seriösen Anstrich zu geben. Als Wissenschaftler profilierte er sich nun durch den Umfang und die Qualität seiner Produktion, wobei er sich nun auf den russischen Panslawismus und das Potential der „artverwandten“ Tschechen und Ukrainer konzentrierte. Als politischer Berater erwog er die Möglichkeiten, unierte wie orthodoxe Kirchen in der Ukraine und auf dem Balkan zur Kollaboration heranzuziehen. Nebenbei hielt er auch Schulungsvorträge vor SS-Auditorien, wo er sich dann auch des von ihm ansonsten eher vermiedenen rassistischen Jargons dieses Milieus bediente. 1942 unternahm er eine mehrwöchige Reise in die Ukraine – leider kann Luft nicht sagen, welche Orte Winter besuchte und wer seine ukrainischen Gesprächspartner waren.

Den Werdegang der Nachkriegsjahre 1945 bis 1950 dokumentiert Luft recht genau. Doch das große Rätsel – wie es ihm trotz seiner Nazi-Belastung gelang, in der SBZ/DDR Fuß zu fassen – vermochte auch sie eingestandenermaßen nicht zu lösen. Immerhin kommt sie zur deutlichen Einschätzung, dass es eher sowjetische als ostdeutsche Instanzen waren, die ihm den nötigen Rückhalt gaben. Sie hält es für möglich, dass Winter die entscheidenden Kontakte gleich in der „Stunde Null“ angeknüpfte, als er die frisch einmarschierten sowjetischen Truppen auf sein Anwesen in Liboch (eine Kleinstadt nördlich von Prag) einlud, sie auf Russisch ansprach und freundlich bewirtete. Sie beschützten ihn dann auch vor Racheakten und transportierten ihn sicher nach Wien. Dort erwarb er die österreichische Staatsbürgerschaft, die er bis zum Tod beibehielt. Seine Bemühungen um einen Wiener Lehrstuhl scheiterten allerdings am Widerstand der katholischen Kirche und der amerikanischen Besatzer. Die sowjetischen Stellen, die seine Vergangenheit mindestens ebenso gut kennen mussten wie der Vatikan, eröffneten ihm dennoch einen Karriereweg in der SBZ – erst in Halle, dann in Berlin. Eine Zusammenarbeit mit sowjetischen Geheimdiensten vermochte Luft nicht nachzuweisen – eine Tätigkeit für die Stasi erscheint eher unwahrscheinlich angesichts der Intensität, mit der er selbst bespitzelt wurde. In der restlichen Erzählung rücken Winters Privatreligion und sein Narzissmus wieder stark in den Vordergrund – der Rezensent hätte stattdessen lieber genaueres über seine Kontakte ins westliche und östliche Ausland erfahren. Besuchte er während der Nachkriegsjahrzehnte denn keine Kongresse, reiste er nicht nach Rom, München, Prag oder Moskau? Und sah man ihn dort gern? Begegnete er im Westen niemals Funktionären der Vertriebenenverbände, unter denen sich schließlich viele ehemalige „Staffelsteiner“ befanden?

So hat dieses Buch Mängel und Vorzüge. Es fehlen ein Namensregister, eine einleitende Einbettung in politik-, religions- und geistesgeschichtliche Zusammenhänge sowie eine Zusammenfassung, die der erbrachten Forschungsleistung gerecht würde. Luft, der die umfangreichen Tagebuchaufzeichungen ihres Helden zur Verfügung standen, konzentriert sich zu allzu sehr auf die Erstellung von Winters Psychogramm und vernachlässigt dabei Rekonstruktion seines Umfelds. Dennoch lohnt sich die Lektüre! Wer sich für die Geschichte der katholischen Kirche der ČSR, des deutsch-tschechischen Verhältnisses sowie der deutschen Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts interessiert, wird sich über diese Arbeit neue Erkenntnisse erschließen können. Die von der Autorin angebotenen Interpretationen reichen nicht aus, aber das in ihr aus vielen entlegenen Orten zusammengetragene, umfangreiche und aussagekräftige Quellenmaterial verschaffen dem interessierten Leser komfortable Möglichkeiten, selbst weiterführende Überlegungen anzustellen.

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