Wurden Kalter Krieg und Dekolonisierung in der Geschichtsschreibung lange getrennt voneinander behandelt, so hat sich jüngst eine Strömung etabliert, deren Vertreter Ost-West- und Nord-Süd-Verhältnisse produktiv als sich gegenseitig beeinflussende Dynamiken zusammendenken.1 Die Neubewertung der Position der beiden deutschen Staaten in der Welt ist Teil dieses größeren globalhistorischen Umbruchs in der Forschungslandschaft. Während die ersten vergleichenden (oder „Verflechtungen“ aufzeigenden) Studien zur Außen- und Entwicklungspolitik der BRD und DDR bereits vorliegen, sind wirtschaftshistorische Studien noch Mangelware.2 In diese Lücke stoßen die Wirtschaftshistoriker Christian Kleinschmidt und Dieter Ziegler mit ihrem Sammelband, der aus einer Tagung zu Außenpolitik und Außenwirtschaftsbeziehungen der beiden deutschen Staaten zum globalen Süden hervorgegangen ist.
Die BRD und die DDR werden in der Einleitung als „Dekolonisierungsgewinner“ bezeichnet – so auch der Titel des Buches. Die in diesem Begriff enthaltene Leitthese wirkt geradezu bestechend einleuchtend, wirft aber spätestens auf den zweiten Blick zahlreiche Fragen auf. Indem sie „Möglichkeiten einer kolonial-unbelasteten wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Windschatten der Siegermächte des Weltkriegs“ nutzten, argumentieren Ziegler und Kleinschmidt, konnten DDR wie BRD ab den 1950er-Jahren neue Beziehungen zu Staaten in der Peripherie knüpfen und Märkte erschließen (S. 3). Die Bedeutung der Beziehungen zu den Staaten der Peripherie habe aber letztlich vor allem im politischen, nicht im wirtschaftlichen Bereich gelegen. Dieser Einschätzung liegt ein methodologischer Nationalismus zugrunde, der mit der Kategorie der Volkswirtschaft operiert und Perspektiven aus jenen Ländern, mit denen die Beziehungen unterhalten wurden, keinerlei Bedeutung beimisst. Zieglers Überblickskapitel über die deutschen Beziehungen zum Weltmarkt im 20. Jahrhundert konstatiert dementsprechend, unter unverständlicher Ausklammerung der DDR, dass die Westintegration für die Expansion des Außenhandels die größte Rolle gespielt habe, während der Kalte Krieg oft ein Hindernis gewesen sei. Die Nord-Süd-Ebene wird hier, von einer Erwähnung erdölexportierender Länder abgesehen, einmal mehr als Marginalie abgehandelt. Das ist jedoch nicht der Grundtenor der folgenden Beiträge. Sie argumentieren zumeist qualitativ statt quantitativ und bilden verschiedene Blickwinkel ab. Während sich einige Beiträge auf Strategien von Akteuren aus der Privatwirtschaft konzentrieren (Siemens in der Türkei, BMW in Südafrika), verlegen sich andere auf die Untersuchung bilateraler Handelsbeziehungen (DDR-China, BRD-Indien, BRD-China) oder kultur- und außenpolitische Beziehungen (europäisch-afrikanische Beziehungen am Beispiel des Yaoundé-Vertrags, DDR-Indien). Die Behauptung, die deutschen Staaten hätten von der (rezenten) nicht-kolonialen Vergangenheit profitiert, wird jedoch kaum in kohärente Problemstellungen übersetzt. Die Herausgeber haben es auch versäumt, sinnvolle Bezüge zu anderen möglichen „Dekolonisierungsgewinnern“ wie den skandinavischen Ländern, mittelosteuropäischen Staaten, Jugoslawien oder der Schweiz herzustellen.3 Es ist daher wenig überraschend, dass sich die meisten Beiträge nicht mit dem Einfluss von (und Umgang mit) kolonialer Vergangenheit oder damit verbundenen personellen und kulturellen Kontinuitäten befassen, sondern die Eigenlogiken von Akteuren in Entwicklungs-, Handels- und Außenpolitik diskutieren – das jedoch in teils außergewöhnlichem Detail und auf der Basis umfassender Recherchen.
Die Dekolonisierungsgewinner-These des Sammelbandes stützt am deutlichsten Mark Jakobs‘ ausgezeichnete Darstellung der Bremer Tabakbörse. Diese ging aus dem Konflikt zwischen Indonesien und den Niederlanden im Anschluss an die Nationalisierung der Tabakplantagen als Nutznießer hervor. Die Bremer Händler waren – ganz im Gegensatz zu Ludwig Erhards idealisiertem freien Markt – bereit, den Handel mit indonesischem Tabak weitgehend zu monopolisieren und von innereuropäischen Konkurrenzbeziehungen zu profitieren. Interessant ist insbesondere, dass selbst das Bremer Oberlandesgericht bestätigte, dass Indonesiens „diskriminierendes“ Vorgehen gegen die niederländischen Unternehmen gerechtfertigt war, da es sich bei den Niederlanden um die ehemalige Kolonialmacht handelte (S. 249). In einer Mikrostudie zum letztlich nie umgesetzten Mega-Entwicklungsprojekt „Kattara“ etwa seziert Theresa Lennert die Aushandlung wechselnder Erwartungshorizonte, Prestige- und Profiterwägungen zwischen der BRD und Ägypten und arbeitet dabei Kehrtwendungen und interne Differenzen heraus, die in rein quantitativ orientierten Darstellungen ausgeblendet bleiben. Die Einbeziehung derartiger kulturwissenschaftlicher und akteurszentrierter Ansätze, mit denen amorphe Makrokategorien wie BRD und DDR desaggregiert werden, ist einer der Vorzüge dieses Sammelbandes. Erfreulich und für gegenwärtige Diskussionen hochrelevant ist auch, dass Rüstungsexporte der BRD in den Nahen Osten Berücksichtigung finden. Wie Stefanie van de Kerkhof ausführt, waren bundesdeutsche Unternehmen stets bemüht und oft erfolgreich, Beschränkungen in Bezug auf Rüstungsexporte in Spannungsgebiete zu umgehen und Schlupflöcher auszunutzen. Auf den Rückfluss von Petrodollars in die BRD abzielend förderte die Bonner Regierung Waffenexporte seit den 1980er-Jahren sogar. Nicht zuletzt aufgrund dieser (immer wieder angefochtenen) Komplizenschaft von Unternehmen und Politik ist die BRD heutzutage der weltweit drittgrößte Waffenexporteur.
Bei fortschreitender Lektüre stellt sich angesichts der Vielfalt erwähnter politischer und wirtschaftlicher Akteure aber zunehmend die Frage: Wer „gewinnt“ hier und was bedeutet „gewinnen“ für wen? In vergleichender Hinsicht wäre es interessant gewesen, den Beiträgen, die auf Materialien aus westdeutschen Firmenarchiven basieren, Beiträge gegenüberzustellen, die sich mit DDR-Unternehmen befassen, und darüber hinaus danach zu fragen, inwiefern verschiedene Sektoren und Akteure im Staatsapparat unterschiedlich auf Dekolonisierungsprozesse reagierten. Sahen sie postkoloniale Staaten eher als Absatzmärkte, Rohstoffquellen und Devisenbringer an, suchten sie potentielle Verbündete für die nationale Außenpolitik bzw. den jeweiligen Machtblock oder Räume, die als Laboratorien für modellhafte Entwicklungsprojekte dienen konnten?
Da in dem Band nicht nur Beziehungen zu postkolonialen Staaten im engen Sinn, sondern auch jene zu Südafrika, China und der Türkei während des Kalten Krieges und sogar die deutsche Außenpolitik im „Arabischen Frühling“ thematisiert werden, drängt sich zudem die Frage auf: Wie passt all das unter den Begriff der Dekolonisierung? Ist letztendlich doch ein peripherer Status gemeint? Der Band umschifft in seiner Anlage (wenngleich nicht zwangsläufig in allen Einzelbeiträgen) neuralgische Punkte gegenwärtiger Debatten über Rassismus, Initiativen für eine neue Weltwirtschaftsordnung und Forderungen nach einer Regulierung transnationaler Konzerne. Um die Relevanz deutscher Außenbeziehungen besser zu erfassen, wäre es auch produktiv gewesen, dependenztheoretische Ansätze wieder aufzugreifen und danach zu fragen, wie Handel und Entwicklungspolitik mit Verschuldung und wirtschaftlichen Abhängigkeiten in Verbindung stehen, inwiefern Handel und „Entwicklungshilfe“ Machtungleichheiten konsolidierten, ob Wirtschaftsmacht in politischen Einfluss umgemünzt werden konnte und wie ökonomische und finanzielle Asymmetrien zur Remarginalisierung vieler Länder des globalen Südens beitrugen.4
Dass derartige Fragen weitgehend ausgeblendet oder implizit bleiben, scheint nicht zuletzt der Quellenbasis geschuldet zu sein, denn fast alle Beiträge stützen sich auf Materialien deutscher Akteure. Das Anliegen von Anandita Bajpai, in ihrem Beitrag über die Freundschaftsgesellschaften zwischen Indien und der DDR auch Perspektiven indischer Akteure jenseits der Staatsführung zu erschließen, ist damit programmatisch zu verstehen. Daniel Speich Chassé erinnert daran, dass afrikanische Regierungschefs sehr unterschiedlich auf die postimperiale Assoziierung Afrikas mit Westeuropa, wie sie im Vertrag von Yaoundé (1963) festgeschrieben wurde, reagierten. Speich Chassés Verdienst ist es, den Blick über den germanozentrischen Tellerrand hinaus zu erweitern und den Vertrag als Übergang von einer imperialen zu einer technokratisch-multilateralen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg zu zeichnen: ein Projekt, mit dem nicht zuletzt die Souveränitätsansprüche postkolonialer Länder im wirtschaftlichen Bereich gezähmt werden sollten (S. 165).
Der Begriff „Dekolonisierungsgewinner“ birgt fraglos heuristisches Potenzial; mangels einführender Diskussion, was überhaupt unter den Begriffen „Dekolonisierung“ und „Gewinner“ zu verstehen sei, wird selbiges im vorliegenden Band jedoch zu oft verschenkt. Die versammelten Studien bieten empirisch wertvolle und teils auch im Ansatz innovative Beiträge zu den Diskussionen. Zu einer erschöpfenden Behandlung der Frage, wie sich Dekolonisierung und Wirtschaftsbeziehungen zueinander verhalten, fehlt es jedoch an einem konzeptuellen und methodischen Gerüst. So kommt das Potential der teils hervorragenden Einzelbeiträge nicht zur Geltung. Die mangelnde Sorgfalt bei der Herausgabe schlägt sich auch in Redundanzen und Auslassungen mit inhaltlichen Konsequenzen nieder. Einige Beiträge begnügen sich mit einer empirischen Beschreibung von Ereignissen und enden abrupt ohne Fazit. Die Handelsbeziehungen zwischen China und der BRD (einmal 1949 bis 1990, einmal 1949 bis 1978) werden gleich zwei Mal behandelt; die dadurch entstehenden Wiederholungen strapazieren die Geduld des Lesers. Eine Neubetrachtung der außenwirtschaftlichen Beziehungen der beiden deutschen Staaten, die den multiperspektivischen und konzeptuellen Herausforderungen einer Integration von Ost-West- wie Nord-Süd-Beziehungen gerecht wird, bleibt somit ein Desiderat – nicht zuletzt weil der DDR-Außenhandel stiefmütterlich behandelt und nur für den Fall Chinas diskutiert wird. Derartigen Schieflagen gilt es in der Untersuchung von „Nord-Süd-Ost-West“-Beziehungen weiter entgegenzuwirken.5
Anmerkungen:
1 Odd A. Westad, The global Cold War. Third world interventions and the making of our times, New York 2005; Andreas Hilger (Hrsg.), Die Sowjetunion und die Dritte Welt. UdSSR, Staatssozialismus und Antikolonialismus im Kalten Krieg 1945-1991, München 2009; Leslie James / Elisabeth Leake (Hrsg.), Decolonization and the Cold War. Negotiating Independence, London 2015; Maud A. Bracke / James Mark, Between Decolonization and the Cold War. Transnational Activism and its Limits in Europe, 1950s–90s, in: Journal of Contemporary History 50 (2015), S. 403–417; Jürgen Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik (1927-1992), Berlin 2015; Ismay Milford, Zoom In, Zoom Out, Change Lens. New directions in the historiography of decolonisation, in: Journal of Colonialism and Colonial History 18/2 (2017).
2 Ulf Engel / Hans-Georg Schleicher, Die beiden deutschen Staaten in Afrika. Zwischen Konkurrenz und Koexistenz, 1949-1990, Hamburg 1998; Berthold Unfried / Eva Himmelstoss (Hrsg.), Die eine Welt schaffen. Praktiken von „Internationaler Solidarität“ und „Internationaler Entwicklung“, Leipzig 2012; Hubertus Büschel, Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960–1975, Frankfurt am Main 2014; Young-Sun Hong, Cold War Germany, the Third World, and the Global Humanitarian Regime, New York 2015. Außenhandelsbeziehungen werden u. a. thematisiert bei Anne Dietrich, Zwischen solidarischem Handel und ungleichem Tausch. Zum Südhandel der DDR am Beispiel des Imports kubanischen Zuckers und äthiopischen Kaffees, in: Journal für Entwicklungspolitik 30/3 (2014), S. 48–67; Hans-Joachim Döring, Es geht um unsere Existenz. Die Politik der DDR gegenüber der Dritten Welt am Beispiel von Mosambik und Äthiopien, Berlin 1999; Ulrich van der Heyden, Zwischen Solidarität und Wirtschaftsinteressen. Die „geheimen“ Beziehungen der DDR zum südafrikanischen Apartheidregime, Münster 2005; William G. Gray, Waffen aus Deutschland?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 64 (2016), S. 327–364; Immanuel Harisch, Bartering Coffee, Cocoa and W50 Trucks. The Trade Relationships of the GDR, Angola and São Tomé in a Comparative Perspective, in: Global Histories. A Student Journal 3/2 (2017), S. 43–60.
3 Helge Ø. Pharo / Monika Pohle Fraser (Hrsg.), The Aid Rush. Aid Regimes in Northern Europe During the Cold War, Oslo 2008; Patricia Purtschert / Barbara Lüthi / Francesca Falk (Hrsg.), Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien, 2., korrigierte Aufl. Bielefeld 2013; Philip Muehlenbeck, Czechoslovakia in Africa, 1945–1968, New York 2016.
4 Jüngst dazu etwa Abou B. Bamba, African Miracle, African Mirage. Transnational Politics and the Paradox of Modernization in Ivory Coast, Athens 2016; Christopher R. W. Dietrich, Oil revolution. Sovereign rights and the economic culture of decolonization, Cambridge 2017; Matteo Landricina, Nkrumah and the West. “The Ghana Experiment” in British, American, German and Ghanaian archives, Zürich 2018; Stefan Pimmer / Lukas Schmidt (Hrsg.), Dependenztheorien Reloaded, Journal für Entwicklungspolitik 31/3 (2015).
5 Margarete Grandner / Arno Sonderegger (Hrsg.), Nord-Süd-Ost-West-Beziehungen. Eine Einführung in die Globalgeschichte, Wien 2015.