Cover
Titel
Guerilla Networks. An Anarchaeology of 1970s Radical Media Ecologies


Autor(en)
Goddard, Michael
Reihe
Recursions
Erschienen
Anzahl Seiten
358 S.
Preis
€ 95,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonas Gloor, Historisches Seminar, Universität Zürich

Warum entstehen in den langen 1970er-Jahren, verteilt über den ganzen Globus, guerillaartige Widerstandsformen? Klandestine Untergrundzellen in den Großstädten Amerikas und Europas, Autonomiebewegungen, die urbane Räume besetzen und bespielen, radikale Medienexperimente mit Radio, Video, Film und Fernsehen, die sich gegen die dominanten Sinnkulturen des Sehens und Hörens richten. Warum werden diese „Medienökologien“ Anfang der 1980er-Jahre mit der Etablierung neoliberaler Regime kapitalistisch überformt und vereinnahmt – und warum ist Guerilla heute eine Marketingstrategie? In seiner Monografie “Guerilla Networks. An Anarchaeology of 1970s Radical Media Ecologies“ führt der Film- und Medienwissenschaftler Michael Goddard die Leser aus dem bolivianischen Dschungel in die grauen Vorstädte Westdeutschlands, aus den konspirativen Wohnungen in die Radiostationen autonomer Zentren, vom Bombenbastler im Keller zum Mao-Dada im Äther, und zeigt die Emergenz, Transformation und Desintegration verschiedener Guerillanetzwerke von Baader-Meinhof über Radio Alice bis zu den Videoaktivisten von Guerillatelevision und ihren kybernetischen Utopien eines elektronisch verschalteten Bewusstseins.

Goddard untersucht Erfindungen von Medien, Praktiken und Ausdrucksformen des Widerstands in drei Bereichen, die durch vielfältige Relationen verbunden sind: Erstens zeigt er Erfindungen von Stadtguerillas und autonomen Bewegungen im Bereich des militanten politischen Widerstands und zweitens subversive audiovisuelle Medieninventionen im Rahmen der Kunst. Drittens zeichnet er eine intensive Theorieproduktion nach, welche die Ereignisse reflektierte, inspirierte und mitformte. Goddard verwebt die drei Erzählfäden einer politischen, ästhetischen und theoretischen Widerstandsgeschichte und zeigt anhand von biographischen Verläufen (Journalistinnen, die zur Knarre greifen, Künstler, die Bomben basteln, Theoretiker, die auf die Strasse gehen) die Wege, Kreuzungen und Abzweigungen, die das Verkehrsnetz strukturieren, welches die drei Bereiche verbindet.

Die Monographie ist in zwei Blöcke geteilt: Im ersten Teil des Buches stehen Guerillagruppen wie die Roten Brigaden, die RAF, die Weathermen und die über eine Radiostation verschaltete und angetriebene Autonomia-Bewegung in Italien als Medienökologien im Zentrum. Goddard beschreibt diese Netzwerke als dynamische Systeme, die auf Umgebungsveränderungen und eskalierende Ereignisverläufe reagieren, systemintern Prozesse radikaler Subjektivierung in Gang setzen, Medientechnologien wie Video oder Radio (aber auch gewalttätigeres militärisches Gerät) aus der Umgebung implementieren und (miss-)brauchen, um Gegendiskurse zu initiieren, ein unterdrücktes Wissen hervorzubringen und die affektive Disposition der Adressaten zu beeinflussen. Besonders interessiert Goddard die Frage, wie die Guerillanetzwerke, die er mit Deleuze und Guattari auch als „Assemblagen“ oder „soziotechnische Maschinen“ bezeichnet, an den Systemgrenzen interagieren: mit der Öffentlichkeit und den Milieus, aus denen sie herauskommen, in welche sie untertauchen, von denen sie sich entfremden und isolieren.

Im zweiten Teil des Buches wird ein Erzählfaden gesponnen, der radikalen Medienexperimenten im Bereich des Films, des Fernsehens und des Videoaktivismus folgt: vom militanten Anti-Kino, das den Kinoapparat als ideologische Maschine unterwandert und die dominante Ordnung von Bild und Ton aus dem Gleichgewicht bringt, dem antipsychiatrischen Film, der symptomatologisch zeigt, was kaputt macht und was kaputt zu machen ist, bis hin zu den Fernsehexperimenten Jean-Luc Godards und den TV-Produktionen Rainer Werner Fassbinders. Beide Regisseure erhalten in den 70er-Jahren innerhalb eines abgesteckten institutionellen Rahmens (INA, WDR) den Freiraum, im Fernsehen das Fernsehen als Medium zu spiegeln, durch Bildstörungen und Noise seine Materialität sichtbar zu machen oder durch ästhetische und semantische Überzeichnungen die Genrekonventionen und die Mechanismen der dominanten Sinnproduktion vorzuführen und auseinanderzunehmen.

Der medienökologische Ansatz erlaubt es dem Autor, die Transformationen der Guerillanetzwerke in Relation zu einer Umwelt zu erklären, die sich in einem radikalen Umbruch befindet. In den 70er-Jahren wird bereits an der Infrastruktur gebaut, welche die Bedingungen schafft für das, was Deleuze Anfang der 90er-Jahre mit dem Begriff der „Kontrollgesellschaften“ als gegenwärtige Zukunft beschreibt. Goddard zeigt eine Entwicklung auf die unter dem Zeichen der Dezentrierung, Distribuierung und Verflüssigung der Produktion, des Kapitals und der Macht steht. Sie führt vom Warenlager zum Supply Chain Management, von der Fabrik zum Call Center, von gebundenen zu frei schwebenden Währungen, von Zettelkästen zu Datenbanken, von Ideologien zu Informationen. Damit werden einerseits die Ziele, gegen die sich der Widerstand richtet, beweglich, (der Palast des Souveräns oder die verstreuten Anstalten der Disziplinarmacht verschwinden zunehmend vom Radar), andererseits verlieren in gewissen Milieus (etwa innerhalb der Autonomia-Bewegung in Italien, die in einen scharfen Konflikt mit der Kommunistischen Partei gerät), traditionelle Bezugspunkte der Widerstandskultur, wie die Fabrik, der Arbeiter oder Marx, an Bedeutung. Goddard erklärt die Vielfalt und die Veränderungen der Medienökologien unter anderem aufgrund dieser instabilen und prekären Umwelt, in der sich Widerstand neu erfinden muss, um überlebensfähig zu bleiben. Er zeigt, dass die konfrontativen Strategien, die sich an einem alten Feindbild orientieren und den Staat im Herz treffen wollen (Rote Brigaden, RAF), die Muster des imaginierten Feindes reproduzieren und ins Leere laufen. Teile der RAF, in Zellen netzwerkartig organisiert, gehen einem Rechner ins Netz, der Datenbanken vernetzt und dabei um ein Vielfaches schneller ist als die Guerilleros, die nicht auf Daten- sondern auf Autobahnen Personen, Waren und Informationen zwischen den Knotenpunkten, ihren konspirativen Wohnungen und Warenlagern verschieben. Evasive Strategien und postpolitische Widerstandsformen, die dem System Raum und Zeit stehlen, in diesen Räumen und Zeiten neue Identitäts-, Lebens- und Ausdrucksformen proben, haben dagegen bis heute überlebt (Autonome, Hausbesetzer).

Michel Foucault, Gilles Deleuze und Félix Guattari sind zentrale Akteure des Buches. Sie denken in den 70er-Jahren nicht nur über die Möglichkeitsbedingungen von Gegendiskursen und Gegenwissen nach (subjugated knowledge; minor knowledge), sie gehen auch auf die Strasse gegen die Anstalten der Disziplinargesellschaft und die Regimes der Ein- und Aussperrung (etwa im Rahmen der Groupe d’information sur les prisons). Ihre Konzepte durchqueren nicht nur die Praktiken der Aktivisten und Künstler, sie liefern auch dem Autor einen Begriffsapparat, mit dem er an seinen Untersuchungsgegenstand herantritt. Durch die Aneignung der Sprache seiner Quellen wird die Distanz zur Sache aufgehoben. Goddard knüpft an einen vergangenen Widerstandsdiskurs an, den er nicht nur beschreibt, sondern mitschreibt und zu reaktivieren versucht. Dabei wird er stellenweise selber zum Aktivisten und vollzieht den Rollenwechsel, den er auch bei den Akteuren seiner Erzählung beobachtet. Die Medienökologien interessieren ihn nicht in erster Linie als Dinge der Vergangenheit, vielmehr interessieren sie ihn als „resources of the past, to be used against the present in favour of a different time to come“ (S. 21). Goddard rezipiert mit diesem Satz, der die Strategie und Programmatik des Buches offenlegt, bezeichnenderweise Deleuze, der sich wiederum auf Foucault bezieht, der seinerseits Nietzsche rezipiert.

Goddard verortet seine Untersuchung im Feld der Medienarchäologie1, einer Disziplin, in der sich heterogene Zugänge zur Erforschung der Vergangenheit und Gegenwart neuer Medien entwickelt haben. Den Ansätzen ist gemeinsam, dass sie sich gegen teleologische Narrative der Medienentwicklung richten. Unterschiedliche Foucault-Lektüren haben sowohl hardwarezentrierte Ansätze geprägt, bei denen Medientechnologien die Diskurse bestimmen, wie auch Ansätze, bei denen die Ordnung des Diskurses die Machtverhältnisse reguliert, Wissen schafft und sich in die technologischen, architektonischen und biologischen Körper einschreibt. Wenn Goddard seinen Medienbegriff in einer Abwandlung von Marshall McLuhans Diktum mit dem Satz „the socio-technical assemblage is the message“ auf den Punkt bringt, wird deutlich, dass der Autor einen Hardware-Ansatz verfolgt, nur bestehen seine Maschinen nicht mehr bloß aus Schaltkreisen: sie sind zusammengebaut aus materiell-technologischen, sozial-relationalen und subjektiv-mentalen Elementen. Wenn der Autor an anderer Stelle schreibt, er wolle eine „Geschichte der Gegenwart“ schreiben, bezieht er sich auf Foucaults genealogische Machtanalytik. Mit Guattaris Ökologie-Konzept (écosophie) und Deleuzes und Guattaris Konzept der „Assemblage“ soll der Hardware-Ansatz geöffnet, politisiert und einer genealogischen Analyse zugänglich gemacht werden.

Der Vorteil eines ökologischen Medienkonzepts ist der Komplexitätsgrad, der bei der Modellierung des Untersuchungsgegenstands erreicht werden kann, sowie die Vielfältigkeit der Instrumente und Perspektiven, die bei der Analyse zur Verfügung stehen. Aufgrund der Fülle des präsentierten Materials und der vielen Beispiele vermag Goddard auf 328 Seiten die Komplexität, welche die Theorie verspricht, allerdings nicht immer auf seine Gegenstände zu übertragen. Insbesondere im Zusammenhang mit den radikalen ästhetischen Medienexperimenten hätte man gerne mehr über ihre medienökologische Dimension erfahren. Goddard hat die Tendenz, schillernde Begriffe aus dem Repertoire von Deleuze und Guattari als Stellvertreter für eine tiefergehende Analyse zu platzieren. Was ist etwa an Fassbinder-Filmen medienökologisch? Warum sind die radikalen Medienerfinder Metallurgen und die Guerillanetzwerke Kriegsmaschinen? Der Autor erwähnt Medienexperimente ohne Teilnehmer, oder Medienökologien, die nur als Skizzen existierten. Prekär ist folglich auch die Methode der Rekonstruktion. Goddard spricht von materiellen Spuren, die eine Suggestivkraft entfalten würden, welche es erlaube, durch Kreativität, Spekulation und Imagination ein kohärentes Bild der realen und utopischen Welten zu kreieren, welche die Medienökologien zu erzeugen vermochten. Solchen schwindelerregenden Ansagen im Theorieteil folgen dann aber eher konventionelle und handfeste Darstellungen im Hauptteil.

Trotz dieser Kritikpunkte beweist Goddard als Medienarchäologe ein Gespür für gute Grabungsplätze und fördert interessantes Material aus den Archiven zutage (British Film Institute Archives London, Bibliothèque du film Paris, Antonio Gramsci Archive Bologna und Rom, Material von und über Stadtguerillas durch Kontakte zur radikalen Publikationsplattform „Kersplebedeb“). Der Autor hat auf der Grundlage seiner Funde ein detailreiches und kontroverses Buch über die 70er-Jahre geschrieben, das sich gegen die Fetischisierung von „1968“ und die reaktionären Dekadenzerzählungen über die Folgezeit wendet. Es rückt die Perspektiven zurecht, verschiebt den Fokus von 1968 auf 1977 (Autonomia, Punk, Stammheim) und zeigt, dass das oft verschmähte, in düsteren Farben gemalte Jahrzehnt nicht als Epilog zu erzählen ist: Achtundsechzig war nicht der Anfang vom Ende, sondern der Ausgangspunkt für einen zentralen Zeitabschnitt in der Geschichte unserer Gegenwart.

Anmerkung:
1 Errki Huhtamo und Jussi Parikka haben einen Sammelband herausgegeben, der Texte wichtiger Vertreter des Fachs versammelt. Die Einleitung "An Archeaology of Media Archaeology" bietet einen guten Überblick über die Disziplin und ihre Geschichte. Siehe Erkki Huhtamo / Jussi Parikka (Hrsg.), Media Archaeology. Approaches, Applications and Implications, Berkeley 2011.