Das vorliegende Buch ist eine hochwillkommene und vielschichtige Ergänzung zu existierenden Studien, die der Bedeutung des Ersten Weltkrieges für den Wandel internationaler Ordnungen im 20. Jahrhundert nachgehen. Marcus Payk, Professor an der Helmut-Schmidt-Universität (Hamburg), stellt fest, dass der Erste Weltkrieg im Zuge der 100. Jährung von Kriegsanfang und -ende zwar viel diskutiert, aber der Friedensschluss von Versailles in der Konsequenz kaum eine Neuinterpretation erfahren habe. Nach wie vor gelte er als defizitärer Frieden, als „unausgegorener Kompromiss zwischen widersprüchlichen Prinzipien“ (S. 4). Dieser Deutung folgt Payk nicht. Zwar habe der Friedensvertrag nicht für politische Stabilität gesorgt, doch habe er einen substanziellen Fortschritt in der Entwicklung des modernen Völkerrechts bedeutet. Entsprechend steht auch nicht die Frage nach der politischen Wirkung des Friedens im Zentrum von Payks über 700 Seiten starker Studie, sondern die Frage nach dem Rahmen, in dem er entstand, also nach existierenden Normen, nach völkerrechtlichem Diskurs sowie nach politischen Zwängen. Nur dadurch, so Payk, lasse sich die Bedeutung des Friedens im Kontext der modernen Institutionalisierung zwischenstaatlicher Beziehungen einordnen.
Payks Buch ist ein hocherfreulicher Vertreter solcher historischer Studien, die ihre Mikroperspektiven so geschickt in größere Kontexte einbetten, dass sie dem Leser nicht nur einen neuen Blick auf das Forschungsthema im engeren Sinne eröffnen, sondern auch auf die Geschichte der Beendigung von Kriegen und der Aushandlung von Frieden an sich. Payk ist natürlich auch an völkerrechtlichen Debatten und der Ideengeschichte interessiert, aber eben auch an Völkerrecht als Praxis, als soziales Kapital, als außenpolitisches Instrument. Sein Buch ist daher am ehesten als politische Geschichte des Völkerrechts zu verstehen. Zentral ist daher die Frage, welche Bedeutung einzelne Akteure dem Völkerrecht als leitendes Ordnungsprinzip beigemessen haben. Zu deren Beantwortung wurde ein breites Spektrum von solchen Quellen herangezogen, die Rückschlüsse auf Diskurs wie Praxis sowie auf Gestaltungskraft und Erfahrungshorizonte individueller Akteure zulassen: Korrespondenzen, Memoranden und Protokolle, Presseberichte aus aller Welt, Nachlässe von Rechtsexperten, Politikern, Diplomaten und Journalisten.
Payks Thesen stehen in enger Beziehung zu Isabel Hulls Deutung des Ersten Weltkrieges (auch) als Krieg um die Herrschaft und Interpretation von Völkerrecht.1 Dem Krieg vorangegangen sei ein Jahrhundert, das von der Institutionalisierung und Formalisierung von Staatenverhältnissen geprägt war und damit zugleich von der Ausschaltung internationaler rechtlicher Beziehungen nicht-staatlicher Kollektive (z.B. Handelsgesellschaften). Das Völkerrecht wurde so zur Grundlage der internationalen Ordnung, zu einem zunehmend institutionalisierten Normensystem, aber auch zu einer höchst suggestiven Meistererzählung von Fortschritt und Frieden. Spätestens mit der zweiten Haager Konferenz von 1907, so Payk, erfuhr juristische Expertise eine deutliche Aufwertung in der internationalen Politik, was sich in einem gesteigerten politischen Selbstbewusstsein selbiger Juristen niederschlug. De facto blieben sie jedoch in der Außenpolitik hinter den Diplomaten in der zweiten Reihe.
Payk gliedert seine Studie in sechs Kapitel. Das erste liefert einen Überblick über die Entwicklung des Völkerrechts im 19. Jahrhundert. Das zweite Kapitel zeichnet Interpretationen des Krieges von Ausbruch an (insbesondere mit der Verletzung der belgischen Neutralität) als Krieg von Recht – in Gestalt der Entente – gegen Unrecht – in Gestalt Deutschlands. Das folgende Kapitel widmet sich dem Aufbau von Institutionen zur Erörterung von Friedensfragen im Herbst 1918, die nach dem Waffenstillstand die Basis für die Institutionen der Friedenskonferenz lieferten. Anschließend lotet Payk den Spielraum juristischer Akteure, also ihre Aufgaben und Befugnisse, innerhalb der Delegationen und Ausschüsse der Friedenskonferenz aus. Das fünfte Kapitel behandelt die formale Gestaltung der Friedensverträge mit den Verlierermächten. Die Verträge, so Payk, waren Produkte normativer Erwartungen und liberal-imperialer Sinnwelten des ausgehenden 19. Jahrhunderts; sie spiegelten eine politische Willenserklärung wider, aber vor allem den Glauben, die Nachkriegswelt ließe sich vertragsförmig ordnen. Das sechste Kapitel schließlich widmet sich dieser Nachkriegsordnung als der eines „staatszentrierten Internationalismus“ (S. 495), also eines nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Systems, das von einem Vertrauen in internationale Institutionen einerseits sowie dem Glauben an einen territorial, rechtlich und ethnisch möglichst klar definierten und von größtmöglicher Souveränität geprägten Staat charakterisiert war.
Frieden durch Recht ist ein ausgesprochen wertvolles Werk. Es bietet eine greifbarere und empirisch solidere Fallstudie zur Institutionalisierung von Völkerrecht als William Mulligans artverwandtes Buch zum Ersten Weltkrieg als Katalysator internationaler Friedensanstrengungen.2 Zudem trägt Payks Arbeit zu einem besseren Verständnis von Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit bei, die nicht mehr nur Feld der Diplomaten war, sondern zunehmend auch von (juristischen) Experten. Rechtliche Argumente waren kein Elitendiskurs, sondern außenpolitische Instrumente, wie Payk zeigt. Dieses Argument zieht seine Überzeugungskraft aus einer ausgezeichneten und komplexen Rekonstruktion juristischer Kulturen innerhalb der unterschiedlichen Mitgliedsstaaten der Entente (Rechtsfragen genossen beispielswiese in der französischen Delegation zur Friedenskonferenz einen höheren Stellenwert als in der britischen). Nicht zuletzt schärft Frieden durch Recht unser Bild von Staatlichkeit und ihrer Legitimation in der Zwischenkriegszeit. Vorstellungen zivilisatorischer Reife verloren an Bedeutung, Menschenrechte hingegen waren noch ein praktisch unbekannter Faktor. Im Mittelpunkt standen die Fähigkeit, Souveränität auszuüben, und der Wille, zugleich die auf Rechtsgrundlagen aufgebaute internationale Ordnung zu respektieren.
Die wenigen Schwächen des Buches hängen fast ausschließlich mit dessen Umfang zusammen. Neben viel Neuem findet man auch längere Passagen, die bekannt scheinen. Payks Kapitel zum Ersten Weltkrieg orientiert sich an sehr ähnlichen Marksteinen wie die Studie von Isabel Hull: die Verletzung belgischer Neutralität, die Seeblockade, der uneingeschränkte U-Boot-Krieg. Während Payk eine hervorragende institutionsgeschichtliche Darstellung der Friedenskonferenz liefert, ist die Deutung, dass der eigentliche Entscheidungsort das „Reich der Hinterzimmer und Kulissen“ (S. 266) war, nicht neu. Die detaillierten Beschreibungen von Konferenzorten und Verhandlungsatmosphäre, mittlerweile für Kulturgeschichten internationaler Politik üblich, führen nicht immer zu relevanten Einsichten und manche Zitate sind eher illustrativ. An einigen anderen Punkten hingegen würde man gerne noch mehr wissen. So erfährt man wenig über den deutschen Diskurs zum Deutschen Reich als Vorkämpfer des Rechts, der insbesondere nach der Russischen Revolution Legitimationsgrundlage deutscher Herrschaft im Osten wurde. Zudem hätten Vorstellungen „fragwürdiger Staaten“ und ihrer Rolle im Völkerrecht, wie kurz am Beispiel der amerikanischen Inquiry gezeigt (S. 175), mehr Aufmerksamkeit verdient.
Payks in anspruchsvoller Prosa verfasste Studie sollte von allen Historikern gelesen werden, die sich mit dem Wandel der Welt durch den Ersten Weltkrieg befassen, mit dem Aufstieg von Expertenkulturen, mit Außenpolitik, mit internationalem Recht und Normen. Frieden durch Recht ist ein hervorragendes Buch, das eine Vielzahl von Fragen beantwortet und hoffentlich eine breite Leserschaft erreichen wird.
Anmerkungen:
1 Isabel V. Hull, A Scrap of Paper. Breaking and Making of International Law during the Great War, Ithaca 2014.
2 William Mulligan, The Great War for Peace, New Haven 2014.
Anm. der Red. zum 100. Jahrestag des Friedensschlusses:
Siehe jetzt auch Marcus M. Payk, Die Urschrift. Zur Originalurkunde des Versailler Vertrages von 1919, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 16 (2019), https://zeithistorische-forschungen.de/2-2019/5714 (26.06.2019).