Eine besondere Form fiktionaler Geschichtsdarstellung sind Erzählungen, die ein Geschichtsereignis anders ausgehen lassen, als es tatsächlich stattfand, wobei dieses Wissen bei den Rezipient/innen vorausgesetzt wird. Solche Erzählungen in unterschiedlichen Medien erfreuen sich großer Beliebtheit. Richard J. Evans zählt die kontrafaktische Spekulation um einen Sieg Nazi-Deutschlands über die Alliierten zu den populärsten Szenarien der Alternativgeschichte (erwähnt im Beitrag von Felix Wander, S. 350). Kontrafaktische Szenarien des Nationalsozialismus in der Film- und Fernsehgeschichte sind keine Neuheit; sie finden sich bereits in den 1940er-Jahren (S. 13). Allerdings verzeichnen die Herausgeber/innen des vorliegenden Bandes in ihrer instruktiven Einleitung seit Beginn des 21. Jahrhunderts einen Boom kontrafaktischer bzw. alternativ-historischer NS-Darstellungen, den sie auffällig stark durch audiovisuelle Medien geprägt sehen (S. 12).
Doch auch die Belletristik sorgt immer wieder für einschlägige Debatten. Anfang 2019 beschäftigte sich die deutsche Literaturkritik wochenlang mit einem Roman, der nahezu einhellig verrissen wurde, während der Buchhandel ihn gegenüber der Kritik verteidigte. Der „Spiegel“-Autor Takis Würger verwendet in Stella Aspekte der Biografie Stella Goldschlags, die 1943 mit ihren Eltern verhaftet wurde und anschließend – um das Leben der Eltern und ihres Mannes zu retten – untergetauchte Jüdinnen und Juden verriet. Der Germanist Moritz Baßler vertritt die Position, dass die Literaturkritik mit ihrem vernichtenden Urteil einen Konsens gebrochen habe. Solche Bücher, die einer „Genusslektüre“ ebenso zugänglich seien wie sie kulturelles Kapital versprächen, gelten als buchhändlerischer „Idealfall“. Während Umberto Eco dieses Genre vor einem halben Jahrhundert als „Midcult“ bezeichnete und deutlich schlimmer fand als Trivialliteratur, liebe die Literaturkritik diese Bücher normalerweise kaum weniger als der Buchhandel. Wenn die Kritik diesen Bestseller nicht für relevant oder zumindest akzeptabel erachte, mache sie daher implizit den „Midcult-Konsum“ von uns allen sichtbar.1
Die Kontroverse um die Legitimität und Qualität eines solchen Buches wirft ein Schlaglicht auf die gegenwärtige Erinnerungspolitik, die unter dem Druck der globalen rechtspopulistischen Erfolge, der Rückkehr des Nationalismus und der gezielten Verbreitung von „Fake News“ zum Schauplatz verstärkter Auseinandersetzungen geworden ist. Immer wieder entzündeten sich schon in den vergangenen Jahrzehnten Diskussionen um die Darstellbarkeit des Holocaust an künstlerisch-medialen Versuchen, das vermeintlich „Undarstellbare“ zu repräsentieren. Im Zusammenhang mit der deutschen Erstausstrahlung der TV-Miniserie „Holocaust“ 1979 hatte der Philosoph Günther Anders geschrieben, dass nur durch fictio das factum deutlich gemacht werden könne. So formulierte er bereits damals ein Plädoyer für fiktionale Auseinandersetzungen mit dem Mord an den Jüdinnen und Juden Europas. Seine Position stand in deutlicher Spannung zu dem aus Adornos bekannter Formulierung, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben sei barbarisch, bisweilen abgeleiteten „Verbot“ fiktiver Darstellungen. Auch an die Debatten um Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ Mitte der 1990er-Jahre oder um Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ vor einem Jahrzehnt sei erinnert. Einige dieser kulturellen Reflexionen integrierten nicht nur fiktive, sondern auch kontrafaktische Elemente in ihre Narrationen. Die bekannte Duschszene in „Schindlers Liste“ spielt mit der Erwartung der Zuschauer/innen, dass es sich um eine Gaskammer handle, die dann enttäuscht wird, wenn stattdessen Wasser aus den Duschköpfen strömt. Baßlers These scheint mir daher auf einen umfassenden Veränderungsprozess hinzuweisen, der längst den erinnerungskulturellen Konsens im Hinblick auf den Nationalsozialismus und den Judenmord insgesamt erfasst hat.
Das Hauptaugenmerk im Sammelband „Schlechtes Gedächtnis?“ liegt auf fiktionalen Darstellungen, was eine theoretische Unterscheidung zwischen kontrafaktischen Szenarien und gewöhnlichen historischen Fiktionen erfordert. Diese Grenzziehung freilich bleibt schwierig und ist umstritten. Eine Arbeitsdefinition findet sich auf S. 32: „Statt in der Diegese alternative Gründe […] für den Eintritt von historischen Ereignissen anzubieten, die in ihrer Abfolge aber der Realgeschichte weitestgehend gleichen, verändern Erzählungen der Alternate History die Kette des historisch Gegebenen auf eine erkennbare, nachvollziehbare Weise.“ Diese Erkennbarkeit ist ein entscheidendes Kriterium für die Einschätzung und Bewertung einer alternativ-historischen Erzählung.
Plausibel erscheint daher die im Hinblick auf eine politische Einordnung der (vor allem) audiovisuellen kontrafaktischen NS-Darstellungen im 21. Jahrhundert vorgenommene Situierung zwischen zwei Polen. So verhielten sich viele Darstellungen indifferent zu den „klassischen erinnerungspolitischen Deutungs- und Anerkennungskämpfen“, innerhalb derer sich während der 1990er-Jahre im Westen ein „erinnerungspolitischer Konsens“ etabliert habe, in dessen Zentrum die Shoah stehe (S. 42). So verstanden, könnten kontrafaktische Werke und insbesondere „Mockumentaries“ – ein Genre, das sich über die Dokumentarfilmen zugesprochene Authentizität lustig macht – „zu normativ[en] […] Aussagen über Erinnerungsformen ein Gegengewicht bilden“, wie Dominique Hipp schreibt (S. 347). Den anderen Pol der Wahrnehmung markieren Einschätzungen, die „von spekulativen Visionen eines ‚Faschismus der Gegenwart‘ geprägt“ seien (S. 42). Die politische Krise der liberalen Demokratien, die bestimmt sei von den Erfolgen des Rechtspopulismus sowie der Globalisierung und Entlokalisierung religiöser und ethnischer Konflikte, spiegele sich in einer „Blüte spekulativer Faschismus-Erzählungen“, die „den erinnerungskulturellen Konsens der letzten Jahrzehnte erschüttert“ hätten (S. 43).
Hierin liegt die Brisanz und große Ambivalenz des im Sammelband behandelten Gegenstands. Denn in den medien- und länderübergreifenden Aufsätzen werden nicht nur Formen einer ästhetisch reizvollen, „spielenden“ Alternate History vorgeführt, wie etwa in Caspar Battegays an Johan Huizingas Arbeiten zum „homo ludens“ aus den 1930er-Jahren ansetzendem Beitrag zu Michael Chabons Roman The Yiddish Policemen’s Union (2007) und Quentin Tarantinos Blockbuster „Inglourious Basterds“ (2009). Es geht eben keineswegs immer um Lernprozesse, wie sie Bernd Kleinhans in seinem Aufsatz als Plädoyer für kontrafaktische Geschichte mit dieser verbindet und gegenüber einem positivistischen Verständnis von Geschichtsschreibung ins Spiel bringt. Vielmehr schließt das Spektrum der Reflexionen explizit revisionistische Geschichtsdeutungen ein, die bewusst verwendet werden, um demokratische Selbstlegitimierungen infragezustellen.
Alexander Erokhin führt dies am Beispiel Russlands vor Augen und zeigt, dass sich in den letzten 20 Jahren am Rande des dortigen literarischen Feldes ein neues „Genre der kontrafaktischen geschichtlichen Kolportage“ entwickelt habe, das in der Mehrzahl antidemokratisch und sehr häufig zudem antisemitisch orientiert sei (S. 260). Von einer „waffentechnologischen Dolchstoßlegende des Zuspätkommens bestimmter Waffen“ (S. 352) spricht pointiert Felix Wander in seinem Aufsatz über technikgeschichtliche Mythen, aus denen sich eine Vielzahl unterschiedlichster kultureller Produktionen speist, die den Erfolg der deutschen Luftwaffe fortschreiben wollen. Dazu gehören Plastikmodellbausätze ebenso wie Dokumentarfilmserien oder Hollywood-Blockbuster.
Bernhard Runzheimer und Thomas Bendels analysieren den Umgang mit dem Nationalsozialismus in Computerspielen. Während Runzheimer sich am Beispiel von „Wolfenstein: The New Order“ (2014) kritisch vor allem mit der auf produktionsästhetischer Seite unauflöslichen Spannung zwischen einem „Ego Shooter“-Spiel und einer Reflexion des Holocaust beschäftigt – und eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust allenfalls in Serious oder Educational Games für möglich hält, die den Unterhaltungsaspekt zugunsten des „informationellen Mehrwerts“ zurückstellen (S. 235) –, thematisiert Bendels die gleiche Serie sowie das Sequel „Wolfenstein II: The New Colossus“ (2017) unter rezeptionstheoretischen Gesichtspunkten, fokussiert auf die Nazifiguren, die er unter den Begriff „Nazimonstersyndrom“ fasst. Der konkrete Mehrwert dieser Bezeichnung erschließt sich allerdings kaum, zumal Bendels in seinem Fazit zu der wenig überraschenden Einsicht gelangt, dass diese Inszenierungen „als bewusste Gegenästhetik zum sensiblen Umgang mit der NS-Zeit gesehen werden“ können (S. 336).
Ein besonders erhellender Beitrag ist derjenige von Irina Gradinari zu „ästhetische[n] Alternativen des Zweiten Weltkriegs im russischen Gegenwartskino“. Sie analysiert hierzulande wenig bekannte Filmproduktionen und erinnert daran, dass der Zweite Weltkrieg in der UdSSR eine überragende legitimierende Funktion besaß. Daher war das Genre des Kriegsfilms nachgerade staatstragend, entsprechend gut finanziert, zugleich aber auch besonders „kontrolliert […], da fast alle sowjetischen Identitätsentwürfe nach 1945 in diesem Genre verhandelt und ausformuliert wurden“ (S. 106). Kontrafaktische Geschichtsbilder fänden sich dementsprechend kaum auf der Ebene der Filmerzählung, sondern entstünden „durch eine neue Ästhetik […], die sich […] auf der Ebene von Genrelogik, Mise en Scène, Bildeinstellungen und Montageverfahren aufzeigen“ lasse (S. 108).
Der einzige Beitrag, der sich ausschließlich mit Comics zu Nationalsozialismus und Holocaust beschäftigt, verwirft die Rede von der „alternativen Geschichte“ und spricht stattdessen von „alternativen Welten“. Jonas Engelmann problematisiert die Unterscheidung zwischen fiktionalem und kontrafaktischem Erzählen im Comic am Beispiel von Art Spiegelmans „Maus“ (1986/1991). Das dort entworfene Szenario einer fiktiven Tierwelt könne kaum als Abbild der Realität gelesen werden, auch wenn Spiegelmans Comic auf Erinnerungen und historischen Fakten beruhe (S. 266). Dem Comic stünden andere ästhetische Freiräume offen als etwa dem Film oder der Literatur (S. 269), weshalb dieses Medium weniger auf kontrafaktische Szenarien angewiesen sei. Mit Blick auf den Holocaust und die Horror-Comics nach dem Zweiten Weltkrieg argumentiert Engelmann, dass die „Grenzen des Vorstellbaren“ nicht im populärkulturellen Medium, sondern in der Realität überschritten wurden (S. 278).
Ein nicht geringes Verdienst dieser materialreichen, mediengeschichtlich fokussierten und grundsätzlich transdisziplinär angelegten Anthologie besteht darin, das bislang in der Geschichtswissenschaft nur vereinzelt aufgegriffene Phänomen massenhafter alternativ-historischer Narrationen in diversen Medien breit zu diskutieren. Viele Beiträge beziehen sich auf die Pionierarbeiten von Alexander Demandt, Richard Evans oder Gavriel Rosenfeld; Letzterer hat ein kurzes Vorwort beigesteuert. Eine weitere Stärke liegt darin, dass der Band die dem Thema inhärente Ambivalenz durch die Pluralität seiner methodisch-theoretischen Zugriffe produktiv macht. So besteht unter den Beiträger/innen keine Einigkeit über die Bewertung von Tarantinos „Inglourious Basterds“: Während Andreas Stuhlmann dem Regisseur vorwirft, dass er die Idee der „poetic justice“ durch eine Fetischisierung der ausgestellten Gewalt entwerte (S. 312), gelangen Drehli Robnik oder Caspar Battegay zu positiveren Einschätzungen. Wenn Chris Wahl begründet, warum er den in der Anthologie überwiegend verwendeten Terminus der „kontrafaktischen Geschichte“ ablehnt, dann wird die ganze politische Brisanz dieses gelungenen Bands schlagartig evident: Wahl benennt das Risiko, dass der Begriff spätestens seit dem Amtsantritt von Donald Trump mit einer Leugnung von Fakten verwechselt werden könne (S. 54). Die weitere wissenschaftliche Reflexion kontrafaktischer Erzählungen in unterschiedlichen Medien erscheint dringend geboten.
Anmerkung:
1 Moritz Baßler, Der Konsens ist weg. In Leipzig treffen Leserschaft, KritikerInnen, Verlage und Buchhandel aufeinander. Zuletzt haben sie sich allerlei Kränkungen zugefügt, in: taz, 20.03.2019, http://www.taz.de/!5577851/ (15.04.2019).