Eine aktuelle Biographie des Kirchenvaters Hieronymus aus historischer Sicht und in deutscher Sprache ist ein Desiderat, das der Saarbrücker Althistoriker Heinrich Schlange-Schöningen mit seiner ein breiteres Lesepublikum ansprechenden Darstellung ausgleichen möchte. Hierzu erarbeitet er den Lebensweg des Hieronymus hauptsächlich aus dessen eigenen Werken und Briefen. Dabei kann er auf eine reichhaltige theologische, philologische und althistorische Fachliteratur zurückgreifen. Zudem geht er auch auf die Legendenbildung um den Kirchenvater und auf Gesichtspunkte künstlerischer und theologischer Hieronymus-Rezeption ein. Das reichhaltige Schriftenkorpus des Hieronymus legt nahe, die Biographie zugleich mit dessen wesentlichen Werken zu verzahnen und dadurch auch Einblicke in sein Wirken als christlicher Schriftsteller und sein Selbstverständnis als Christ und als Römer zu bieten.
Im ersten Kapitel „Eine Trauerfeier in Rom“ (S. 12–23) fällt in einer Art Augenblicksaufnahme aus dem Jahr 384 ein besonderes Schlaglicht auf die Praxis der Askese als Schlüssel zu einem gottgefälligen Leben, die in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts unter den überzeugten Christen der Oberschicht immer mehr in den Vordergrund rückte. Damit stellt Schlange-Schöningen einen wichtigen Leitgedanken vor, der Hieronymus und sein Einwirken auf seine Umgebung, namentlich auf Witwen und Jungfrauen aus der aristokratischen römischen Gesellschaft, bestimmte, auch wenn eine dieser Damen, Blaesilla, gerade wohl an den Folgen überzogener Askese gestorben war. Die Idee der von diesem Kreis und ihrem Vordenker vertretenen radikalen Askese ist in den Konflikt eingebettet, dem sich der gebildete christliche Römer stellen musste: Er hatte sich der Konsequenzen bewusst zu sein, die aus dem Christentum erwuchsen, und die Probleme zu bedenken, die mit der paideia in das eigene Selbstverständnis übernommene Haltung zur römischen Tradition und den christlichen Anspruch an die einzelne Persönlichkeit miteinander in Einklang zu bringen. Diesen Sachverhalt veranschaulicht Schlange-Schöningen an Hieronymus’ Bericht über den Traum, er sei vor dem göttlichen Richterstuhl angeklagt, Ciceronianer statt Christ zu sein (epist. 22,30).
Nachdem Schlange-Schöningen auf diese Weise zentrale Fragestellungen im Zusammenhang mit dem römischen Beziehungsnetzwerk, der Askese und den literarischen Interessen des Hieronymus beleuchtet hat, wie diese sich im Jahre 384 darstellen mochten, widmen sich die weiteren Kapitel den Lebensstationen der Hauptperson in vorwiegend chronologischer Ordnung. Im Abschnitt „Kindheit und Jugend“ (S. 24–55) bietet Schlange-Schöningen überzeugende quellen- und literaturgestützte Überlegungen zum Geburtsjahr des Hieronymus – er plädiert für 348/49 n.Chr. – und zur geographischen Lage seines Geburtsortes Stridon im Norden Dalmatiens. Auch in diesem Kapitel nutzt der Autor die Gelegenheit, die Herkunft des Hieronymus mit späteren Lebensphasen zu verknüpfen, indem er einige Hinweise des Hieronymus und dessen „Schweigen über Vater und Mutter“ (S. 39) hypothetisch zu der – nicht unplausiblen – Erklärung nutzt, der Kirchenvater habe sich seinen Eltern entfremdet: Diese seien trotz ihrer christlichen Ausrichtung über die Entscheidung ihrer Kinder zu asketischer Lebensführung enttäuscht gewesen, weil diese so ihr Lebenswerk zu missachten schienen, indem sie den auf sie als die nächste Generation entfallenden Beitrag zur Fortsetzung der Familie und der damit verbundenen – weltlichen – Ambitionen nicht zu leisten bereit waren. Der beachtliche soziale Status der Eltern des Hieronymus ist daran abzulesen, dass sie ihrem Sohn eine gute Ausbildung in Rom ermöglichten, die ihm die Aussicht auf eine Ämterlaufbahn im Reichsdienst bot. In diesem Kapitel spielt immer wieder die Spannung zwischen der traditionellen Lebensführung der Oberschicht, wie sie der Ausbildung des Hieronymus entsprach, und der christlichen Erziehungslehre eine Rolle, die Hieronymus später entwickelte und die das überkommene antike Bildungserbe, in dem sich Hieronymus so souverän bewegte, zu verleugnen schien.1
Der nächste Abschnitt („Im Westen und im Osten des Reiches“, S. 56–104) hat die sich an die rhetorische Ausbildung des Hieronymus anschließenden rund zehn Jahre zum Inhalt, sozusagen den Zeitraum seiner beruflichen Orientierung: den Aufenthalt in Trier sowie die darauffolgenden Stationen in Italien, in Antiochia und in der Wüste von Chalkis. Hier diskutiert Schlange-Schöningen recht eingehend die auf den Bericht über die Bekehrung zweier agentes in rebus in Trier durch Augustinus (conf. 8,6) rekurrierende These, damit sei ohne Nennung der Namen das Bekehrungserlebnis des Hieronymus und seines Freundes Bonosus angesprochen.2 Der Autor lehnt eine solche Deutung zu Recht ab, weil sie nicht zuletzt in den – diesen Aspekt verschweigenden – Äußerungen des Hieronymus zu seinem Aufenthalt in Trier keine überzeugende Stütze findet, auch wenn in Gallien „die Entscheidung für ein gottgeweihtes Leben gefallen“ (S. 67) sein wird. Mit größerer Sicherheit äußert sich Schlange-Schöningen zum Aufenthalt in der „Wüste“ (zur Definition dieses Begriffes S. 91f.) östlich von Antiochia und stellt dessen Bedeutung für den Zuwachs „religiöser und moralischer Autorität“ (S. 79) des Hieronymus heraus; in dieses Bild integriert Schlange-Schöningen auch die von Hieronymus verfasste Vita des Eremiten Paulus.
Das vergleichsweise lange Kapitel „In den Hauptstädten“ (S. 105–172) handelt von Hieronymus’ Aufenthalt in Antiochia, Konstantinopel und Rom. Hier geht es zunächst um das Schisma in der syrischen Metropole und die Positionierung des Hieronymus auf Seiten des Paulinus, von dem er sich zum Presbyter weihen ließ, sowie um seine überraschend moderate Haltung zum Umgang mit „arianischen“ Christen, die zur Orthodoxie übertreten wollten; Schlange-Schöningen bewertet sie „als Werbung in eigener Sache“ (S. 115) angesichts des 381 nach Konstantinopel einberufenen Konzils. Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt freilich auf dem für den künftigen Lebensweg des Hieronymus ausschlaggebenden Aufenthalt in Rom mit den engen Kontakten zu Bischof Damasus3, den hierdurch motivierten Überlegungen zur Revision der Bibelübersetzung, den Gesprächskreisen mit römischen Aristokratinnen und Asketinnen, insbesondere mit Paula und ihren Töchtern, sowie der schnellen Abreise aus Rom nach dem Tod des Damasus, als offene Vorwürfe gegen Hieronymus die Runde machten.
Sodann zeichnet der Autor in dem Kapitel „Auf Pilgerfahrt“ (S. 173–201) die Reiseroute des Hieronymus und seiner Begleitung in und durch den Nahen Osten nach, bis sie ihr Ziel, erst Jerusalem und dann Bethlehem, erreichten, wo man sich nach einem Abstecher in die Nitrische Wüste 386 niederließ. Das längste Kapitel, überschrieben mit „Bethlehem“ (S. 202–283), ist dem wissenschaftlichen Wirken des Hieronymus an diesem Ort in der ihm verbleibenden, noch mehr als drei Jahrzehnte währenden Lebenszeit gewidmet. Schlange-Schöningen geht unter anderem anhand des Nachrufs auf Paula auf das Klosterleben in Bethlehem ein, bietet anschauliche Ausführungen zur Arbeit des Hieronymus an der Bibelübersetzung und -kommentierung und stellt überdies einige theologische Auseinandersetzungen vor, an denen Hieronymus beteiligt war: den Meinungsaustausch mit Augustinus zu Fragen der Bibelübersetzung, die Positionierung des Hieronymus im origenistischen Streit und den Bruch mit Rufinus sowie Hieronymus’ Haltung zum Pelagianismus. Am Schluss evoziert Schlange-Schöningen Gedanken des Hieronymus zum augenscheinlichen Verfall des römischen Reiches, die dieser „im Banne der römisch-christlichen Reichsideologie“ (S. 279) mit theologischen Aspekten auflud.
Schlange-Schöningen vermittelt ein anschauliches Bild vom Leben und Wirken des Hieronymus. Dass den Aussagen zu biographischen Details angesichts der Quellenlage gewisse Grenzen gesetzt sind, kann jeder Leser nachvollziehen. Doch gelingt es dem Autor, anhand von Äußerungen des Hieronymus aus späteren Jahren und durch deren Einbettung in Erläuterungen zu der jeweiligen Lebenswelt – zum Beispiel in Bildungs- und Erziehungsfragen – gerade auch die biographisch weniger gut zu erschließenden Lebensphasen des Hieronymus Farbe gewinnen zu lassen. Hierzu trägt ferner das Beziehungsnetzwerk des Hieronymus bei, das er sich in unterschiedlichen Zeiten und geographischen Räumen aufbaute und das eine Bühne zur Verfügung stellte, die seinen theologischen, aber auch philologischen Interessen Profil verlieh; so lässt sich bei mehreren Gelegenheiten gut nachvollziehen, dass Hieronymus „den Konflikt zwischen Glauben und Bildung kompromissbereit handhabt[e]“ (S. 124). Zur Veranschaulichung trägt auch bei, dass Schlange-Schöningen immer wieder die Rezeption des Kirchenvaters in der Kunst einbezieht und in unterschiedlichen Zusammenhängen das zeitbedingte Verständnis der Persönlichkeit des Hieronymus anspricht. Nicht weniger wichtig ist das frühneuzeitliche Interesse an den theologischen Positionen und der philologischen Arbeit des Hieronymus, wie der Autor es an Stellungnahmen Martin Luthers und des Erasmus von Rotterdam illustriert. Für die Exkurse in die Kunst wäre es schön gewesen, wenn dem Buch Farbtafeln der besprochenen Hieronymus-Gemälde hätten beigegeben werden können.
Nicht immer ganz deutlich treten die unterschiedlichen Einfärbungen der häufig durch den Arianismus-Vorwurf ausgegrenzten Abweichungen von der nizänisch orientierten Orthodoxie hervor. So wird der antiochenische Bischof Meletius als Homöer der Orthodoxie zugerechnet (S. 105 und 127)4, während Kaiser Constantius II. eindeutig als arianischer Häretiker gekennzeichnet ist (S. 105, 114 und 128f.).5 Hier hätte klarer zwischen zeitgenössischen Zuschreibungen und heutigem historischem Urteil unterschieden werden müssen. Im Anhang des Buches mutet ferner die Anordnung des Literaturverzeichnisses vor den Endnoten etwas seltsam an, auch wenn dies auf Verlagsvorgaben zurückzuführen sein sollte. Im Übrigen gibt es nur wenige kleinere Versehen.6 Es ist eine anerkennenswerte Leistung, wie Schlange-Schöningen hauptsächlich aus den Schriften des Hieronymus eine Biographie formt, die das Leben und die Leistung ebenso wie die zeitgenössische und die spätere Rezeption des bis heute einflussreichen Theologen anschauliche Gestalt gewinnen lässt.
Anmerkungen:
1 Grundsätzlich erörtert von Peter Gemeinhardt, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, Tübingen 2007.
2 Pierre Courcelle, Recherches sur les Confessions de Saint Augustin, Paris 1968, S. 183.
3 Für die Beurteilung der Zuarbeit, die Hieronymus für Damasus leistete, bezieht sich Schlange-Schöningen S. 137 auf Stefan Rebenich, Hieronymus und sein Kreis. Prosopographische und sozialgeschichtliche Untersuchungen, Stuttgart 1992, S. 144 mit Anm. 23. Diese Untersuchung zieht er auch für andere, insbesondere die persönlichen Beziehungen des Hieronymus betreffenden Fragen gern heran.
4 Charles Pietri, Von der partitio des christlichen Kaiserreichs bis zur Einheit unter Konstantius. Arianerstreit und erster „Cäsaropapismus“, in: Charles Pietri / Luce Pietri (Hrsg.), Das Entstehen der einen Christenheit (250–430), Freiburg 1996, S. 393, attestiert Meletius eine Wende vom Homöertum zum Nizänismus.
5 Bereits Richard Klein, Constantius II. und die christliche Kirche, Darmstadt 1977, S. 157, weist darauf hin, dass diese dem Kaiser zugedachte Glaubenshaltung ein „weit verbreitete[s] Klischee“ ist.
6 Dazu zählen die Nennung des Jahres 385 als Todesjahr des Damasus (S. 132; anderwärts immer richtig 384), ferner die Jahre 70–122 als Lebenszeit Suetons (S. 30), die zumindest durch „ca.“ spezifiziert werden sollten (denn angesichts der zahlreichen überlieferten Werktitel dürfte Sueton nach seiner Entlassung aus dem Hofdienst noch längere Zeit gelebt haben), und die Angabe der Jahre 350–361 als Regierungszeit Constantius II. (S. 105), die die vorausgegangene gemeinsame Herrschaft der Konstantinsöhne ausblendet. Die – eher mittelalterliche – Übersetzung von comes mit „Graf“ (S. 55) sollte vermieden werden, und auch die Wiedergabe mit „Hofrat“ (S. 57) weckt unpassende Assoziationen. Ort der Lehrtätigkeit des Ausonius war Bordeaux, nicht Toulouse (so S. 57), wo er studiert hatte; Pinianus war nicht mit Albina verheiratet (so S. 281), sondern mit Albinas Tochter Melania. Das Bild von Augustinus’ „getreue[m] Mitarbeiter“ Orosius (S. 262) hat Risse bekommen, seit dessen Selbständigkeit in den Vordergrund gerückt worden ist, vgl. Peter Van Nuffelen, Orosius and the Rhetoric of History, Oxford 2012.