Hochprofessionelle, bis zur völligen Erschöpfung trauernde Frauen, deren Schreie – wie der Sprecher, Sir Peter Ustinov, betont – meilenweit zu hören sind. So porträtiert die Kinodokumentation „Women of the World“ (1963) die „Klageweiber“, die noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein auf kaum einer Beerdigung in Süditalien fehlten. Moritz Buchner bettet dieses Phänomen in seiner Berliner Dissertationsschrift mittels eines emotionshistorischen Zugangs breit in die italienische Trauerkultur zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg ein. Buchner gehört zu einer Gruppe jüngerer Wissenschaftler/innen, die im Rahmen der seit 2010 jährlich stattfindenden „Transmortale“-Workshops gerade die geschichtswissenschaftliche Forschung zu Tod und Sterben vorantreiben.1
Zwar existiert – auch für Italien2 – mittlerweile eine ganze Reihe von Studien zur Geschichte der Sepulkralkultur, diese widmeten sich bislang jedoch selten der Trauer als einem emotionalen Phänomen. Gerade da er dezidiert die Erfahrungen und Gefühle der Hinterbliebenen, mithin die Trauerpraktiken, in den Blick nimmt, betritt Buchner historiografisches Neuland. Er versteht Trauer als ein „Ensemble unterschiedlicher Emotionen, Gefühle und Affekte“ (S. 16), die immer abhängig vom historischen Kontext sind und stets der sozialen Kontrolle unterliegen. Um sie erfassen zu können, müssen folglich zeitgenössische Wissensordnungen, Moralvorstellungen, kulturelle Traditionen, politische Rahmungen, aber auch die tatsächlichen alltäglichen Praktiken analysiert werden. Zu diesem Zweck hat Buchner eine beeindruckende Fülle an Quellen erschlossen: Druckschriften und Zeitungen, ethnografische Studien, Testamente, Nachrufe, Grabreden, Epitaphe, Romane, Friedhofsordnungen, Lexikonartikel, Verhaltensratgeber und Nekrologe.
Die Arbeit geht von der These aus, dass die bürgerliche Elite im neuen italienischen Staat die Steuerung des Trauerverhaltens als zentralen Aspekt des nation-building nach 1860/61 verstand. Das gesellschaftlich wie politisch immer einflussreicher werdende humanistisch geprägte Bürgertum, dessen verbindendes Moment die Nation als Ordnungsrahmen war, etablierte rasch ein elitäres Emotionsregime. Vor diesem Hintergrund geriet die Trauerkultur gerade im als rückständig wahrgenommenen ländlichen Süden nicht nur in den Fokus ethnologischer und anthropologischer Forschung, sie wurde vielmehr zu einer hochpolitischen Angelegenheit. Tatsächlich zeigt Buchner in seiner Studie eindrucksvoll, dass Trauer mehr war als eine individuelle Emotion und ihr nach 1861 eine hohe soziale und identitätsstiftende Bedeutung zufiel. Ein enger Kontakt mit dem Leichnam und ein zu expressives Trauerverhalten galten fortan nicht nur als schädlich für den Einzelnen, sondern für die Nation als Ganzes.
In fünf systematisch angelegten Kapiteln vermisst Buchner die unterschiedlichen Facetten des Themas. Er beleuchtet die ideengeschichtliche Bedeutung des Todes und die Konsequenzen für Trauer- und Bestattungspraktiken. So mühten sich die aufgeklärten Eliten um eine Rationalisierung des Todes, im Zuge derer sie gegen vermeintlich „abergläubische“ Trauerrituale vorgingen. Zu diesen zählte nicht nur die in Italien Ende des 19. Jahrhunderts immer noch präsente Angst vor dem Scheintod, sondern auch die Totenwache. Gerade der Umgang mit dem Leichnam geriet dabei in den Fokus, dessen emotionale Bedeutung für die Hinterbliebenen etwa über ein Berührungsverbot marginalisiert werden sollte. Zugleich betont Buchner die Bedeutung von Trauerpraktiken, die im Zusammenhang mit einem spezifischen Sozialisierungsmodell der gesellschaftlichen Eliten standen. Verlor der tote Körper auf der einen Seite an Bedeutung, so wurden im Zuge einer Emotionalisierung des Verlusts auf der anderen Seite die Verlustgefühle aufgewertet, avancierten emotionale Bindungen, zumal innerhalb der Familie, doch zu einem konstitutiven Merkmal der bürgerlichen Intimsphäre. Es galt demnach, ein korrektes Trauerverhalten – das etwa über eine gebeugte Körperhaltung, eine passende Mimik oder durch Weinen zum Ausdruck gebracht wurde – zu erlernen. Zugleich ging mit der Konzeption einer normalen Trauer auch die Pathologisierung von Trauerformen einher, die nicht dieser Norm entsprachen. Als zentral für die bürgerliche Kultur erwies sich die Wahrhaftigkeit der zur Schau gestellten Gefühle und eine Kontrolle über die eigenen Emotionen: Das „Klageweib“ stellte deshalb eine unpersönliche, „unmögliche Trauernde“ (S. 89) dar.
Ferner untersucht Buchner normative Vorgaben für Todesdeutungen und Trauerpraktiken. Neben geschlechterhistorischen Aspekten – so galt weibliche Trauer als destabilisierend und verlustzentriert und wurde von männlicher Trauer abgegrenzt, die sich plötzlich und körperlich explosiver zeigen durfte – betont er gerade in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Religion. Diese blieb stets ein bedeutender Faktor, obschon die kirchliche Religiösität zurückging und die Kirche sukzessive an Einfluss gegenüber dem immer stärker werdenden Staat verlor. Zwar wurden Traueremotionen zunehmend nicht mehr nur aus dem Glauben heraus gedeutet, jedoch bot die Religion weiterhin Verhaltensmodelle, Trostressourcen sowie das Vokabular des Trauerns an. Zugleich manifestierten sich, wie Buchner im Anschluss an neuere Forschung zur italienischen Religionsgeschichte zu zeigen vermag3, lebensweltliche Unterschiede zwischen städtischem Bürgertum und Landbevölkerung stark über die Rolle des Glaubens im Alltag und in Auseinandersetzung mit dem neuen katholischen Ultramontanismus: Vielen Liberalen galt das antimoderne Papsttum als Ursache für eine wahrgenommene Unzivilisiertheit gerade im ländlichen Süden, die mit der Nationalstaatsgründung zu einem innenpolitischen Problem wurde. Eine „wall of empathy“ (S. 182) trennte den Norden und den Süden Italiens auch hinsichtlich der Praktiken des Trauerns. Folgerichtig erschien erstmals 1877 ein Leitfaden zum korrekten Verhalten im Trauerfall, nach dem zu exzessives Trauern einen Verstoß gegen die Regeln guten Benehmens und eine körperliche Gefahr darstelle.
Das Buch ist gut geschrieben, streckenweise regelrecht unterhaltsam, wenn Buchner etwa davon berichtet, dass sich die Erben des bei einem Duell ums Leben gekommenen radikalen Politikers Felice Cavallotti jahrelang über die Art der Bestattung stritten, oder eine neapolitanische Mutter angesichts der emotionalen Trauerpraktiken der örtlichen Bevölkerung bei der Beerdigung ihrer in Kalabrien verstorbenen Tochter mit den Worten zitiert, dass sie am liebsten gleich mit dieser ins Grab hätte steigen wollen. Gleichwohl wirkt die Literaturgrundlage an einigen Stellen etwas veraltet. So rekurriert die Studie mitunter stark auf die kulturkritisch angehauchten Schriften von Michel Vovelle aus den 1970er- und 1980er-Jahren, wenn etwa pauschal das Sterben in Institutionen als „anonymisiert“ und „einsam“ beschrieben und von einem idealen Tod im Kreis der Familie abgegrenzt wird (S. 95). Dass Krankenhäuser Sterbenden stets Hoffnungslosigkeit vermittelt hätten, wird im Folgenden empirisch anhand einer einzigen Quelle postuliert.4 Bedauerlich ist auch, dass Buchner seine substanziellen empirischen Befunde am Ende kaum an die bisherige Forschung zurückbindet – ein Indiz für diesen Mangel ist bereits, dass die mehr als zwanzigseitige Schlussbetrachtung komplett ohne Fußnoten auskommt. Gerade auch ausblickhafte Vergleiche zu anderen Ländern hätten sich hier angeboten, um die Spezifik des italienischen Falles klarer herausstellen zu können. So war etwa die Debatte um Leichenverbrennung und neue Bestattungspraktiken fraglos ein europäisches Phänomen, das stark mit einem transnationalen Hygienediskurs verbunden war.
Dabei regt das Buch in vielerlei Hinsicht zum Weiterdenken an: Es lässt sich letztlich sogar als Beitrag zu der von Philippe Ariès angestoßenen Debatte um den Wandel von Tod und Trauer in der Moderne lesen. Während Ariès deren vermeintliche Verdrängung in seiner klassischen „Geschichte des Todes“ 1980 stark negativ beschrieb, zeigt Buchner klar auf, dass Veränderungen im Bereich der Sepulkralkultur nicht einfach – aufgrund anonymer Großprozesse wie der Säkularisierung oder Individualisierung – über die Gesellschaft hereingebrochen sind. Sie wurden vielmehr von Akteuren mit spezifischen Interessen ganz bewusst vorangetrieben. Diese Entwicklung sollte folglich weniger – wie bis heute oft üblich – als eine Verlustgeschichte beklagt, sondern vielmehr als ein Prozess des historischen Wandels analysiert werden, wie Buchner es selbst auf hohem Reflexionsniveau leistet. Demnach führten die Verwissenschaftlichung und Rationalisierung des Todes eben nicht automatisch dazu, dass Traueraffekte an Bedeutung verloren, sie konnten mitunter sogar intensivierend wirken – so wurde im Zuge einer Moralisierung von Gefühlen die Trauer mehr und mehr als unerträgliche Last wahrgenommen. Auch verlief die Entwicklung keinesfalls linear: Gerade nach 1900 stieß das von den nationalen Eliten etablierte „hegemoniale Trauermodell“ (S. 305) immer stärker an seine Grenzen, ehe es mit dem massenhaften Kriegstod ganz obsolet wurde. All dies macht das Buch anschlussfähig für thanatologische wie medizinhistorische Fragestellungen und für emotions- und kulturgeschichtliche Forschungen. Auch leistet die Studie einen wichtigen Beitrag zur Nationswerdung Italiens. Insofern bleibt zu hoffen, dass der italienischen Zusammenfassung (S. 325–327) auch noch eine Übersetzung des ganzen Buches folgen wird.
Anmerkungen:
1 Vgl. als Überblick hierzu: Moritz Buchner / Anna-Maria Götz (Hrsg.), Transmortale. Sterben, Tod und Trauer in der neueren Forschung, Köln 2016.
2 Jüngst erschienen: Hannah Malone, Architecture, Death and Nationhood. Monumental Cemeteries of Nineteenth-century Italy, London 2018.
3 Vgl. Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010.
4 Für einen differenzierteren Blick auf die Folgen der Medikalisierung für die Sterbekultur vgl. etwa das von Buchner nicht rezipierte Buch von Karen Nolte, Todkrank. Sterbebegleitung im 19. Jahrhundert. Medizin, Krankenpflege und Religion, Göttingen 2016.