T. Snyder: Der Weg in die Unfreiheit

Cover
Titel
Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika


Autor(en)
Snyder, Timothy
Erschienen
München 2018: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
376 S., 10 Karten
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lorenz Erren, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Der Brexit und Trumps Wahlsieg haben beim liberalen Teil der angelsächsischen Eliten die Ahnung erweckt, dass Kapitalismus und Demokratie nicht unausweichlich auf denselben geschichtlichen Endzustand hinauslaufen müssen. Snyders Buch dokumentiert diesen Bewusstseinswandel: Von der Protokollierung seiner persönlichen Desillusionierung gelangt der Autor rasch zur Einschätzung, dass „wir uns“ seit etwa 2010 in einer „Epoche der Transformation“ befinden. Das von Snyder so genannte Zeitalter der „(Politik der) Unausweichlichkeit“ (der globalen Integration nach den Regeln und Normen des liberalen Westens) könnte nach seiner Befürchtung bald von einer Ära der „(Politik der) Ewigkeit“ abgelöst werden, in der autoritär-kleptokratische Regime den Nationalismus wiederbeleben, um sich demokratisch-rechtsstaatlichen Regeln besser entziehen zu können. Als wichtigste Triebfedern dieser Fehlentwicklung identifiziert Snyder den russischen Präsidenten Putin, der sich angeblich inzwischen ganz den Ideen des Nationalisten Ivan Il'ins verschrieben habe, sowie dessen Klienten Donald Trump, dessen Wahlsieg bewiesen habe, dass die „Politik der Ewigkeit“ auch im Westen Erfolg haben kann.

Leider hält Snyders Buch nicht, was dieser Leitgedanke verspricht. Es handelt sich weder um eine Forschungsarbeit noch um einen Essay – sondern um eine politisch-weltanschauliche Bekenntnisschrift, deren eigentliches Anliegen seltsam unklar bleibt. Informativ sind diejenigen Passagen des Buches, in denen Snyder bekannte Untaten Putins auflistet oder nachzeichnet, wie lange und wie eng der Immobilienhändler Trump mit „Oligarchen“ aus GUS-Ländern verbunden war, auf deren Fluchtkapital sein Geschäftsmodell wesentlich beruhte. Viele der von Snyder aus Presseartikeln zusammengetragenen Fakten dürften den meisten seiner Leser noch neu sein.

Leider macht es Snyder schwer, den intellektuellen Mehrwert seiner Publikation zu erkennen. Er gönnt den Lesern weder ein Literaturverzeichnis noch ein resümierendes Schlusskapitel. Der sogenannte „Epilog“ stellt eher eine Kurzfassung seines im Vorjahr erschienenen Weltbestsellers Über Tyrannei dar als eine brauchbare Zusammenfassung des hier rezensierten Buches.1 Daraus kann ein wohlwollender Leser immerhin diesen Appell herauslesen: „Wir“ – um im Snyder‘schen pluralis tutoris zu verbleiben – sollten den demokratischen Prozess weder als „unausweichlichen“ Selbstläufer noch als „ewige“ Unmöglichkeit betrachten, sondern als ein Projekt, für das „wir“ kollektiv selbst verantwortlich sind. „Wir“ können, ja müssen, die Welt verbessern, indem „wir“ eifriger wählen gehen und gegen Kandidaten wie Trump stimmen. Befremdlicherweise scheint Snyder nicht zu wissen, dass Karl R. Popper etwa dieselben Gedanken bereits 1945 in weitaus gründlicherer und klarerer Form formuliert hat.2

Snyders Beschreibung jüngster Weltzustände ist offen tendenziös. Auffällig vermeidet er die Erwähnung von allem, woran sich liberale „Transatlantiker“ nur ungern erinnern: etwa die Mitverantwortung der Clinton-Administration für die „Reformpolitik“ Boris Jelzins, der nach seinem gewaltsamen Staatsstreich von 1993 das heutige (von Putin erst 1999 übernommene) kleptokratische Regime ermöglichte. Die Möglichkeit der Existenz eines kapitalistischen Weltsystems oder des imperialen Charakters US-amerikanischer Außenpolitik scheint Snyder nicht in Betracht ziehen zu wollen.3 Die gescheiterte „Politik der Unausweichlichkeit“ will Snyder im nostalgischen Rückblick ausschließlich durch die zivile EU repräsentiert sehen – und nicht etwa durch Henry Kissinger, Richard Cheney oder Victoria Nuland.

Viele Thesen Snyders erscheinen äußerst fragwürdig: So behauptet er (kontrafaktisch), der Tod sowjetischer Parteiführer hätte jeweils „das System selbst gefährdet“; Demokratie definiert er nicht als Volksherrschaft, sondern als „Verfahren, mit dem eine Regierung gewechselt wird“ (S. 55). Snyders Umgang mit dem Begriff „Staat“ beziehungsweise „Staatlichkeit“ wirkt bizarr. Er sagt, dass es „2013 gute Gründe für die Vermutung gab“, dass sich die europäischen Staaten „auflösen würden, wenn es kein europäisches System gäbe“ (S. 76). Den Titel „Staat“ will Snyder dem heutigen Russland nicht zugestehen: „Das Jahrzehnt nach 2000 war die vertane Chance, einen russischen Staat aufzubauen, der diesen Namen verdient hätte.“ (S. 88) Worauf will der Autor hier hinaus?

Es kommt noch schlimmer: Dieses Buch strotzt vor Falschzitaten. Ein Teil der Probleme resultiert aus der hier angewandten milchglastrüben Zitierweise, die laut Verlag vermeiden soll, „dass der Haupttext durch Anmerkungsziffern belastet wird“. Doch das Versprechen, „die Beziehung zwischen Quelle und Text“ durch Hinweise „innerhalb jeder Anmerkung“ (S. 299) herzustellen (statt wie sonst üblich durch Platzierung der Fußnote im Satzgefüge) bleibt regelmäßig uneingelöst.

Viele Passagen, die ihrem Inhalt und Duktus nach wie wörtliche Zitate klingen, hängen frei in der Luft. Ein typisches Beispiel: „Putin entschied sich für das Imperium und gegen die Integration. Wenn die EU Russlands Vorschlag einer Integration nicht akzeptiere, erklärte Putin 2011 und 2012, werde Russland dabei behilflich sein, Russland ähnlicher, eurasisch zu werden [...]. Die eurasische Idee bezeichnete er als Beginn einer neuen Ideologie und einer neuen globalen Geopolitik.“ (S. 90)

Hat Putin diese Worte nun ausgesprochen oder hat Snyder sie ihm in den Mund gelegt? Prädikate wie „erklärte Putin“ oder „er bezeichnete“ scheinen Ersteres zu behaupten – doch fehlende Anführungszeichen, Quellenhinweise sowie die unscharfe Zeitangabe „2011 und 2012“ erwecken den Verdacht, dass eher Letzteres der Fall war.

Das ungute Gefühl verstärkt sich bei der Lektüre des folgenden Absatzes. Die dort präsentierten Belege, zwei von Putin verfasste Stellungnahmen, sind zwar tatsächlich in russischen Tageszeitungen erschienen – nur enthielten sie nicht die Aussagen, die Snyder aus ihnen herauslesen wollte. Ein Beispiel: „Am 23. Januar 2012 behauptete Putin in der Nezavisimaja Gazeta, Iljin zitierend, bei Integration handele es sich nicht, wie die Europäer meinten, um eine gemeinsame Errungenschaft, sondern um etwas, was Putin „Zivilisation“ nannte. Putins Logik zufolge hörte Rechtsstaatlichkeit auf, ein allgemein erstrebenswertes Ziel zu sein. Sie wurde zum Aspekt einer fremdartigen westlichen Zivilisation.“ (S. 90) Hier lässt Snyder den nach einem scheinbar in indirekter Rede wortgenau wiedergegebenen Originalzitat klingenden Textteil („Putin behauptete, es handele sich […]“) und seine eigene Interpretation desselben Textes („was Putin ‚Zivilisation‘ nannte“; „Nach Putins Logik“) übergangslos ineinander verschwimmen. Nicht nur in akademischen Texten, sondern auch in der seriösen Publizistik ist ein solches Verfahren zu Recht verpönt. Es verwehrt dem Leser zuverlässige Auskunft darüber, was Putin tatsächlich sagte, wie auch die Möglichkeit, sich von dessen „Logik“ ein eigenes Urteil zu bilden. Der Rezensent jedenfalls hat im Originaltext4 nicht die Meinungen und Haltungen gefunden, die Snyder aus ihm herauslas – weder eine Absage an das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, noch dessen Qualifizierung als „Aspekt einer westlichen Zivilisation“, geschweige denn eine Ablehnung der Letzteren als „fremdartig“. Im Kern ging es Putin um etwas anderes: Er wollte die Russen vor dem völkischen Nationalismus warnen und sie dazu ermahnen, am multiethnischen Prinzip festzuhalten, das in Russland seit Anbeginn das staatsbildende gewesen sei. Und nur in diesem Sinne berief er sich auf Il'in.

Der Rezensent ist nur darum gerade auf diese Passage so ausführlich eingegangen, weil er seine Routineprüfung zufällig auf S. 90 begann – bevor er sich durch weitere Stichproben davon überzeugte, dass er es hier nicht mit einem Ausrutscher zu tun hatte, sondern mit der für Snyder charakteristischen Arbeitsweise. Schon auf den folgenden beiden Seiten begegneten ihm zahlreiche weitere fragwürdige Passagen. Zur Kostprobe: Angeblich „sagte [Putin], […] eine Katastrophe stehe bevor, mit der eine neue Ära der kolonialen Kriege um Ressourcen beginnen werde“ (S. 92). Tatsächlich aber hatte Putin einen Rückblick auf die längst eingetretene „demographische Katastrophe“ geworfen und davor gewarnt, dass die globale „Konkurrenz um Ressourcen künftig härter ausgetragen“ werde als bisher.5 Von „Kriegen“, gar „kolonialen“ hatte Putin nichts gesagt.

Auch an anderen Stellen finden sich fragwürdige Quellenauslegungen. So schreibt Snyder etwa: „Im Jahre 2014 erklärte ein russisches Gesetz die Behauptung, die Sowjetunion sei in Polen einmarschiert, habe die baltischen Staaten besetzt oder zwischen 1939 und 1941 Kriegsverbrechen begangen, zu einer Straftat.“ (S. 165) Doch tatsächlich verbietet das fragliche Gesetz nur ganz allgemein, „über die Handlungen der UdSSR im Zweiten Weltkrieg vorsätzlich Falschbehauptungen zu verbreiten“ – ohne zu präzisieren, welche Behauptungen es als „falsch“ ansieht. Weder Polen noch andere Länder oder Episoden werden im Text erwähnt.6

Eine vollständige Liste ähnlich problematischer Passagen würde vermutlich ebenso lang werden wie sein Buch. Doch nicht nur bei Zitaten lässt Snyder die nötige Sorgfalt vermissen. Im August 2008 „überfiel Russland“ – ihm zufolge – „[...] seinen Nachbarn Georgien und besetzte Teile seines Territoriums“ (S. 88). Dass georgische Truppen zuerst geschossen und dabei 162 Zivilisten getötet hatten, hätte in diesem Zusammenhang zumindest diskutiert werden müssen. Snyder lässt diesen Umstand jedoch unerwähnt. Die Kiewer Ereignisse 2014 schildert er so: „[...] am 20. Februar befand sich noch eine weitere russische Delegation in [...] Kiew [...]. Diese Russen waren nicht gekommen, um zu verhandeln. Während andere noch damit beschäftigt waren, erschossen Scharfschützen etwa einhundert Menschen, die meisten von ihnen Demonstranten, einige von ihnen ukrainische Bereitschaftspolizisten. Welcher Teil der ukrainischen Regierung an diesen Erschießungen beteiligt war, ist unklar, falls sie überhaupt beteiligt war. [...] das Scharfschützenmassaker und die Flucht von Janukowitsch markierten den Übergang von Russlands erstem Eurasien-Plan zum zweiten [...]. Sein [Janukowitschs] von Moskau vorausgesehener blutbefleckter Sturz schuf das Chaos, das als Tarnung für die zweite Strategie diente [...].“ (S. 146)

Haben also „diese Russen“, die „nicht zum Verhandeln gekommen waren“, auf Putins Befehl das Massaker organisiert und exekutiert? Seriöse Historiker würden diese These hier entweder kritisch erörtern oder sich eben zu ihrer Unwissenheit bekennen.7 Snyder wählt stattdessen den unzulässigen Modus des assoziativen Insinuierens, um seine Andeutungen kritischer Prüfung zu entziehen.

Aus solchen Gründen kann sich der Rezensent nicht dem positiven Urteil von „BR24“, „Foreign Affairs“, „Guardian“, „Huffington Post“, „Spiegel Online“, „Tagesspiegel“, „The Times“, „TIME“, „Welt“ und Yuval Noah Hararis anschließen, mit deren Lobsprüchen Snyders Buch im Internet beworben wird. Der Rezensent bezweifelt vielmehr, dass fake scholarship aufrichtigen Demokraten dabei helfen kann, ihre Deutungsmacht zu erhalten oder zurückzuerlangen. Unabhängig davon riskiert die Historikerzunft ihre eigene Reputation, wenn sie dreiste Köpenickiaden nicht als solche erkennt und benennt. Kein seriöser Verlag hätte diesen Text veröffentlichen dürfen.

Anmerkungen:
1 Timothy Snyder, On Tyranny. Twenty Lessons from the Twentieth Century, London 2017.
2 Und zwar als Teil des Schlusswortes zur „Offenen Gesellschaft und ihre Feinde“. Hier zitiert nach: Karl Popper, Hat die Weltgeschichte einen Sinn?, in: Glotz, Peter (Hrsg.), Versäumte Lektionen. Entwurf eines Lesebuchs, Gütersloh 1965, S. 432–439. Der Name Poppers wird im Buch nicht erwähnt. Auch vom 1944 unter dem Titel „Road to Serfdom“ erschienenen Weltbesteller Friedrich Hayeks scheint Snyder nichts zu wissen.
3 Einen imperialen Charakter US-amerikanischer Politik will Snyder ausschließlich in der zeitweiligen Benachteiligung von Ureinwohnern und Afroamerikanern erkennen; vgl. S. 77–79.
4 Vladimir Putin, Rossija. Nacional'nyj vopros, in: Nezavisimaja gazeta, 23.1.2012, http://www.ng.ru/politics/2012-01-23/1_national.html (01.04.2019).
5 Vladimir Putin, Poslanie prezidenta federal'nomu sobraniju, 12.12.2012, http://www.kremlin.ru/events/president/news/17118 (01.04.2019).
6 Gesetz vom 5. Mai 2014, Nr. 128, F3. Oficial'nyj internet-portal pravovoj informacii, http://pravo.gov.ru/proxy/ips/?searchres=&x=0&y=0&bpas=cd00000&a3=&a3type=1&a3value=&a6=&a6type=1&a6value=&a15=&a15type=1&a15value=&a7type=1&a7from=&a7to=&a7date=05.05.2014&a8=128&a8type=1&a1=&a0=&a16=&a16type=1&a16value=&a17=&a17type=1&a17value=&a4=&a4type=1&a4value=&a23=&a23type=1&a23value=&textpres=&sort=7ue=&a17=&a17type=1&a17value=&a4=&a4type=1&a4value=&a23=&a23type=1&a23value=&textpres=&sort=7 (01.04.2019).
7 Die Gegenthese (einer “false flag”-Operation) vertritt: Ivan Katchanovski, The „Sniper's Massacre“ on the Maidan in Ukraine. Paper prepared for the Annual Meeting of American Political Science Association in San Francisco, September 3–6, 2015, https://www.voltairenet.org/IMG/pdf/The_Snipers_Massacre_on_the_Maidan_in_Uk-7.pdf (01.04.2019).

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