Wer auch immer universitäre Kurse der alten Sprachen erlebt oder abhält, weiß um deren Problematik: Das Ausmaß an lexikalischem und grammatischem Wissen, das für ein auch nur basishaftes Verständnis leichter Originaltexte erforderlich ist, verlangt reichlich Zeit und Mühe; für die Vielzahl an historischen, literarischen und gesellschaftlichen Kompetenzen, die diese Mühsal überhaupt erst rechtfertigen, bleibt wenig Raum. Kein Wunder, dass vor allem die Lateinkurse nicht selten den Anschein erwecken, nachgeordnete Zugangskontrollen zum Studium zu sein und ein Wissen zu vermitteln, das man nach bestandener Prüfung ruhig wieder vergessen darf – eine Sichtweise, die verantwortungsbewusste und dem großartigen Reichtum ihres Faches verbundene Philologen mit Schaudern erfüllen sollte.
Nun ist dieser Sachbestand nicht neu. Seit Jahrhunderten unterziehen sich nicht nur Schüler, sondern auch Erwachsene der Herausforderung, in die Kultur des klassischen Griechenlands und des alten Roms über das Erlernen der einstmals dort gesprochenen und geschriebenen Sprachen einzutauchen. Ebendies, also der Erwerb von Latein- und Griechisch-Kenntnissen nach Abschluss der eigentlichen Schulzeit, ist das Thema der vorliegenden Monographie, die ihr Autor Marc Brüssel an einer Schnittstelle von Erwachsenendidaktik und Didaktik der alten Sprachen verortet. Er stellt hier Lehrende und Lehrwerke des Lateinischen bzw. Griechischen vor, die sich spezifisch dem Erwachsenen-Studium gewidmet haben. Dieser historische Überblick setzt bei den Experimenten mit einem „etwas erwachsenengerechteren Unterricht in den alten Sprachen“ (S. 48) ein, die Jean-Joseph Mounier 1797–1801 im Umfeld von Weimar betrieb; er endet mit dem Lehrbuch von Adolf Rusch und Gerhard Röttiger (alias Gerhard Salomon) von 1943, konzipiert als Auffrischungskurs für Kriegsteilnehmer, die ihre Reifeprüfung nachholen wollten.
Von einem Werk dieses Themas erwartet der Leser zunächst ein großes Maß an Sachinformation – und ebendies bietet Brüssel in seinem sorgfältigen Überblick mit großer Kompetenz und Souveränität: Die Autoren der verschiedenen Lehrwerke bzw. die Dozenten der Sprachkurse werden in ihren Biographien und Schriften kurz dargestellt, die Unterrichtswerke (257 an der Zahl) werden in ihrem Aufbau erläutert, nicht selten in Einzelkapiteln exemplarisch vorgestellt und im Hinblick auf die angestrebten Kompetenzen, die Methodik der Sprachvermittlung, den Rang der Originallektüre, die didaktische Aufbereitung und die Orientierung hin auf eine bestimmte Klientel untersucht. Brüssels Studie reicht aber weit über diesen im engeren Sinn enzyklopädischen Charakter hinaus: Sie vermittelt wichtige Einblicke in Bildungskonzepte und ihren Wandel, in die lange Tradition der Rechtfertigungsproblematik der alten Sprachen und in die verschiedenen Facetten des Zusammenspiels von Schule, Universität und Kultusbehörden, denen wir letztlich die gegenwärtige Konzeption von Latinum und Graecum verdanken.
Dass es Brüssel auch darum geht, sein Ungenügen an der gegenwärtigen Situation zu dokumentieren, macht schon das Einleitungskapitel deutlich: Es sucht nicht nur Erwachsenenbildung begrifflich zu klären und die Didaktik der alten Sprachen gegenüber der historischen Sprachwissenschaft und der Didaktik moderner Fremdsprachen zu verorten, sondern erläutert auch den grundsätzlichen Widerspruch zwischen dem primär auf autodidaktische Verfahren angelegten Prinzip eines Lernens jenseits der Schule und dem geläufigen Verfahren eines an schulische Vorgaben angepassten und reglementierten Kurssystems. Mit deutlicher Distanz verweist Brüssel auf den nachhaltigen Einfluss des humanistischen Gymnasiums, demzufolge erst Kompetenzen in Latein und altem Griechisch die „Zugehörigkeit zur (akademischen) Erwachsenenwelt“ (S. 25) bedeuteten.1
Auf diesem Hintergrund klärt Brüssel zunächst in Kapitel 2 die „Ausgangsbedingungen und Anfänge“ des Latein- oder Griechisch-Lernens im Erwachsenenalter, um dann in Kapitel 3 die Lern-Materialien in historischer Folge vorzustellen: Verwiesen sei hier nur auf drei Lehrwerke, die sich deutlich vom heutigen Usus abgrenzen: Friedrich Jacobs Konzept einer schnellen Heranführung an die Originallektüre erschien ab 1805 in vier Bänden, deren größten Teil eine Anthologie bildet, die weite Bereiche der griechischen Literatur erschließt; Grammatik ist hier im Sinn einer Appendix zur Vermittlung der Texte aufgenommen. Christian August Lebrecht Kästners Lehrbuch von 1802 setzte auf mnemotechnisches Lernen („Mnemonik“) und versprach dem Benutzer, innerhalb von zwei Monaten Latein nicht nur lesen, sondern auch flüssig sprechen zu können. Die Gattung der Unterrichtsbriefe (zum Beispiel Giambatista Buonaventura und Albert Schmidt, seit den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts) war für wenige Groschen im Abonnement erhältlich und verabreichte dem Lernenden die alten Sprachen in kleinen Portionen, oft in persönlicher Ansprache, bestenfalls mit Lösungen. Neben solchen Lehrschriften entstanden Hilfswerke, die eher einer Einführung in die klassische Antike verpflichtet waren bzw. die Teilhabe an einschlägigen Diskursen eröffnen sollten: Über Fremdwörtererklärungen, die Erläuterung von Fachtermini oder bekannten Sprichwörtern und Etymologien sollten Sprache und Kultur autodidaktisch erschlossen werden. Andere Lehrwerke richteten sich an eine akademisch gebildete Leserschaft, deren Interesse an den alten Sprachen eher partikulär war (Kirchenlatein, Juristenlatein, Latein für Naturwissenschaftler und Mediziner).
Kapitel 4 und 5 widmen sich der Institutionalisierung des Unterrichts der alten Sprachen an den Universitäten und der Praxis der damit verbundenen Kurse seit 1902: Das Aufblühen von Realgymnasien und Oberschulen als Konkurrenzinstituten zum humanistischen Gymnasium und die Reaktionen, die der Zugang solcher, im humanistischen Sinn mangelhaft gebildeter, Absolventen zu den Universitäten hervorrief, gipfelten in der Debatte um die sogenannte „Berechtigungsfrage“ (wer darf studieren?). In der Folge wurde die Freiheit der Universitäten, ihre Studierenden nach eigenem Gutdünken auszuwählen2, zuerst in Preußen 1834 eingeschränkt: Bedingung war nunmehr die gymnasiale Reifeprüfung. Absolventen anderer Bildungsanstalten mussten Latein- (und mitunter auch Griechisch-) Kenntnisse nacherwerben: Das war die Geburt der Ergänzungsprüfungen für Latinum und Graecum, die nun auch (dazu Kapitel 6) einen eigenen Typos von Lehrwerken (Elementa Latina, Roma Aeterna, Lingua Latina) hervorbrachten. Deren Eignung in der Erwachsenen-Didaktik beurteilt Brüssel allerdings höchst kritisch: „Die stoffliche Komprimierung wegen der knappen Lernzeit ist […] so ziemlich das Einzige, was für die Benutzung solcher Schulbücher im universitären Unterricht spricht“ (S. 220); zum lateinischen Arbeitsbuch von Friedrich Hoffmann und Hermann Hoffmann von 1932 merkt er an: „Aus heutiger Sicht markiert das […] gewählte Verfahren einen deutlichen Rückschritt gegenüber dem zweibändigen Unterrichtswerk Lateinunterricht als Kulturkunde aus dem Jahr 1925 von Friedrich Gündel und Heinrich Jungblut, […]“ (S. 221). In Kapitel 7 gibt der Berliner Fachdidaktiker Brüssel exemplarisch einen Überblick über die Entwicklung der Sprachkurse an der Berliner Universität seit der Begründung des dortigen Instituts für Altertumskunde im Jahr 1920. Hier lässt Brüssel besonders Rudolf Helm zu Ehren kommen, der schon zuvor unter der Ägide Hermann Diels mit großem Erfolg als Pionier des Lateinunterrichts an der Volkshochschule wirkte (Kapitel 4.7) und nunmehr auch den universitären Anfängerunterricht prägte. Am Rande scheinen in diesem Kapitel auch die Verstrickungen der Berliner Philologen in die Politik der Nationalsozialisten – als Parteigänger oder als Opfer – auf.
Brüssels Studie bietet angesichts des auf den ersten Blick eher trockenen Stoffs eine erstaunlich anregende Lektüre. Die Herausforderung, sprachliche Kompetenzen seriös zu vermitteln, ohne den Lernenden durch sture Stoffhuberei die Freude am Lernen zu rauben, das Ringen um eine angemessene Methodik und der Konflikt zwischen Spracherwerb und (im weiteren Sinn) kultureller Kompetenz sind ja hochaktuelle Probleme; hier wird deutlich, dass sie schon immer die Verfasser von Lehrwerken antrieben, die heute etablierten Kurssysteme und Unterrichtswerke aber durchaus Alternativen haben. Nicht nur, wer mit außerschulischen Sprachkursen Latein oder Griechisch befasst ist, wird das mit Gewinn zur Kenntnis nehmen. Denn Brüssel bietet auch ein sehr sorgfältig recherchiertes kleines Stück Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, das ohne jede Einschränkung lesenswert ist.
Anmerkungen:
1 Fehlentwicklungen im Bildungskanon des humanistischen Gymnasiums konzidiert schon Manfred Fuhrmann, Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt am Main u.a. 2000, 3. Aufl. (1. Aufl. 1999) – ohne diesen Kanon an sich aber die Berechtigung abzusprechen.
2 Die hierzu als Beleg angeführte Jobsiade (S. 175) ist freilich kein Werk Wilhelm Buschs, sondern stammt von Carl Arnold Kortum; Brüssel repetiert hier einen Fehler des von ihm zitierten Gernot Breitschuh.