Nicolai Hannigs gelungene und lesenswerte Habilitationsschrift diskutiert den Umgang mit Gefahren am Beispiel von Naturkatastrophen zwischen dem ausgehenden 18. und dem 20. Jahrhundert. In seiner überzeugenden Analyse arbeitet Hannig drei Leitmotive heraus, die einander ablösten und je einem spezifischen „Zeitfenster“ (S. 23) zugeordnet werden können: das Verhindern, Berechnen und Vermeiden von Gefahren. Für jeden Zeitabschnitt belegt Hannig eindrücklich, wie Vertreter aus Politik, Technik, Wissenschaft und Wirtschaft in den Aushandlungsprozessen agierten. Neben Ingenieuren, Naturwissenschaftlern und im 20. Jahrhundert auch Sozialwissenschaftlern benennt Hannig überdies die Aktuare von Versicherungsunternehmen für die Zeit ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert als entscheidende Akteure. Immer wieder geht Hannig jenseits dieser Felder auf den alltäglichen Umgang mit Naturkatastrophen ein – also das Leben mit oder im Anschluss an diese Ereignisse. Überdies verwebt er in seiner Argumentation künstlerische und kommerzielle Aspekte wie die bildliche Verarbeitung („Katastrophenbilder“) oder den Katastrophentourismus.
Drei Thesen leiten Hannigs Interpretation. Das Verhalten der Menschen gegenüber der Natur habe seit dem späten 18. Jahrhundert, erstens, die Vorsorge bestimmt. Diese Haltung stellt insofern einen markanten Einschnitt dar, als sich die Menschen nicht mehr nur ihrem Schicksal passiv ergaben und Naturgefahren als göttliche Strafe ansahen. Vielmehr wollten sie nun aktiv ihre eigene Sicherheit gestalten. Prävention entwickelte sich so zum „Allheilmittel“ (S. 13), um Naturgefahren einzuhegen. Hannigs differenzierter Zugriff erlaubt es, jenseits der Säkularisierungsthese aufzuzeigen, wie Strategien der Professionalisierung bei der Prävention entstanden und welche Erwartungen dies bei Bürgerinnen und Bürgern gegenüber den staatlichen Schutzmaßnahmen schürte. Im Zuge dieser Veränderung entstand eine neue Beziehung zur Natur. Nicht der Schutz der Natur bestimmte die Interventionen, sondern vielmehr waren der Kampf gegen sie und die Ausnutzung natürlicher Ressourcen handlungsleitend, was Hannig mit dem Begriff der „Verteidigungslandschaften“ (S. 18) einfängt. Der veränderte Umgang mit Überschwemmungen, Erdbeben, Stürmen, Vulkanausbrüchen oder Bergstürzen trug maßgeblich dazu bei, so Hannigs zentraler Befund, dass der moderne Sozial- und Vorsorgestaat im 19. und 20. Jahrhundert entstanden sei, wie er anhand seines Untersuchungsraums Deutschland, Schweiz und Habsburgerreich plausibel darlegt. Da diese drei Länder mit der Alpenregion eine gemeinsame Grenzregion besitzen, kann Hannig neben der Nationsbildung auch die internationale Verflechtung nationaler Interessen aufzeigen und so unterschiedliche Entwicklungslinien in den drei Ländern klar bestimmen. Hannig bleibt also nicht bei drei nebeneinanderstehenden Nationalgeschichten stehen. Er arbeitet Verflechtungen und Transfers heraus und zeigt so auf, wie „Isolation und Öffnung“ sowie „Abschottung und Kooperation“ stets aufeinander bezogen waren und einander abwechselten.
Zweitens führten diese Veränderungen dazu, dass für die Zeit ab 1800 nicht mehr der individuelle Schutz vor Gefahren dominierte. Vielmehr übernahmen staatliche Institutionen, Wissenschaftler und Unternehmen die Schutzaufgaben. Für moderne Staaten hatten Naturkatastrophen überdies eine wichtige Funktion: Sie ermöglichten es, eine stärkere Intervention zu rechtfertigen, und trugen somit entscheidend zur Legitimation staatlicher Autorität bei. Maßnahmen der Vorsorge beziehungsweise Prävention bewertet Hannig infolgedessen als wichtige „Erfüllungsgehilfe[n] der sogenannten ‚inneren Staatsbildung‘“ (S. 15). Um diese Austauschbeziehung zwischen staatlicher Gewalt und Naturkatastrophen differenziert nachzeichnen zu können, fragt Hannig, inwiefern moderne Staaten dezidiert Institutionen etablierten, die sich mit der Abwehr von Naturgefahren befassten. Zum Beispiel geschah dies, indem Statistiken erhoben oder Szenarien durchgespielt wurden, um daraus notwendige Präventionsmaßnahmen gegen zukünftige Naturgefahren abzuleiten.
Darauf aufbauend argumentiert Hannig drittens, dass sich Versicherungsunternehmen zu einem zentralen Impulsgeber für Vorsorgemaßnahmen entwickelten. Schließlich konnten Versicherungsnehmer, sofern sie Präventionsmaßnahmen gegen Schadensfälle ergriffen, in eine bessere Gefahrenklasse aufsteigen und so ihre Versicherungsprämien reduzieren. Das hatte weitreichende Folgen für das Verhältnis zu Naturgefahren, die nun stärker auf der Basis ökonomischer Interessen betrachtet und bewertet wurden. Zudem waren Versicherungsunternehmen auf die Kooperation mit staatlichen Behörden angewiesen, da diese statistisch die Schadensfälle und -höhen registrierten, aus denen sich wiederum Schlüsse für die Versicherungssummen ziehen ließen.
Diese Veränderungen im Umgang mit Naturkatastrophen trugen drei Basisprozesse. Erstens ist die Entwicklung von der Agrar- zur Dienstleistungsgesellschaft zu benennen, wenngleich diese schon von Sozialwissenschaftlern Mitte des 20. Jahrhunderts angenommene Entwicklung durchaus stärker hätte kritisch historisiert werden können.1 Zweitens benennt Hannig die Wissenschaft als entscheidenden Träger gesellschaftlichen Wandels. Neben Geologen und Meteorologen entwickelten sich die soziologische Katastrophenforschung und die Ingenieurswissenschaften zu Ideengebern für politische Entscheidungsträger und Versicherungsunternehmen bei der Vorsorge vor Naturgefahren. Drittens identifiziert Hannig den Trend, dass immer mehr gesellschaftliche Probleme als „sicherheitsrelevant“ bewertet wurden. Diese Entwicklung benannten die historische Forschung und die Politikwissenschaft analytisch als „Securitization“ beziehungsweise „Versicherheitlichung“.
Ausgehend von diesem in der Einleitung entworfenen Panorama, das Anschlussmöglichkeiten an allgemeine Forschungstrends der Sozial- und Kulturgeschichte genauso wie der Wirtschafts- und Technikgeschichte, aber auch der Politikwissenschaft und der Soziologie aufzeigt, steigt Hannig mit einem prägnanten Fallbeispiel in die empirische Analyse ein. Das Erdbeben von Lissabon 1755 markiert den ereignisgeschichtlichen Startpunkt, dessen zeitgenössische Bewertung Hannig historisiert, um darauf aufbauend die zentralen Trends des „Zeitfensters“ vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis 1880 zu benennen. Insbesondere Geologen lieferten wissenschaftliche Befunde über den Verlauf und die Regelmäßigkeit von Naturkatastrophen, wodurch diese von der Vorstellung entzaubert wurden, sie seien eine „Strafe Gottes“. Zum Schutz vor den Gefahren erarbeiteten wiederum Vertreter staatlicher Verwaltungen neue Wassergesetze. Das zentrale Element der staatlichen Sicherheitspolitik war aber in Deutschland und der Schweiz die „technische Prävention“ (S. 24) durch Wasserbau. Indem Ingenieure Lösungen für Flussregulierungen entwickelten, entstanden „Verteidigungslandschaften“ (S. 127), die den Umfang der Präventionsmaßnahmen aufzeigten. Als entscheidenden Akteur für diese Veränderungen des 19. Jahrhunderts stuft Hannig den Staat ein und argumentiert, dass der moderne Vorsorgestaat aufgrund der umfangreichen Präventionsmaßnahmen gegenüber Naturgefahren bereits zu Beginn des Jahrhunderts allmählich entstanden sei. Privatwirtschaftliche Vorsorgemaßnahmen durch Versicherungsunternehmen spielten zunächst noch keine Rolle. Doch als staatliche Verwaltungen und Ingenieure technisch gegen Gefahren vorgingen, belebte das indirekt das Versicherungsgeschäft. Denn indem das „Sicherheitsengineering“ (S. 87) der Ingenieure darauf setzte, Schäden generell zu verhindern, wurden Naturgefahren zu einer Ausnahmesituation, die sich überhaupt versichern ließ.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich schließlich Versicherungsunternehmen zu einem entscheidenden Akteur des Risikoschutzes, wodurch die „finanziell-kompensatorische Prävention“ (S. 237) als neues Element hinzutrat. Lukrativ war das Geschäft mit Naturkatastrophen für Versicherungen gerade dann, wenn zwei Konstellationen zutrafen: Schäden mussten regelmäßig eintreten, damit Menschen Versicherungspolicen kauften; zugleich durfte die Schadenshöhe nicht zu groß werden, um nicht in die Verlustzone zu rutschen. Das macht einen veränderten Umgang mit Gefahren notwendig: Risiken mussten kalkulierbar werden, weshalb sich zwischen 1880 und 1920 das Berechnen von Gefahren anhand technischer und naturwissenschaftlicher Expertise zum Leitmotiv entwickelte. Zum Beispiel lieferten neben statistischen Erhebungen insbesondere naturwissenschaftliche Forschungen aus den Bereichen Seismologie, Meteorologie sowie der Schnee- und Lawinenforschung für Versicherungen umfangreiche Erkenntnisse über Naturkatastrophen, auf deren Basis sich versicherungsmathematisch die Policen für Hagelschäden, Überschwemmungen und Erdbeben berechnen ließen. Rückversicherungskonzerne wie die Münchener Rück und Schweizer Rück machten das Geschäft mit Naturgefahren durch eine bessere Risikostreuung nicht nur lukrativer. Vielmehr entwickelten sie sich zu den „Denkfabriken der Branche“ (S. 232), da sie die Expertisen zur Kalkulation von Naturgefahren bündelten. Staatliche Sicherheitspolitik beruhte ebenfalls auf naturwissenschaftlicher Forschung, da diese das „Gefährdungspotenzial“ durch Naturkatastrophen plausibel aufzeigen wollte. Insofern finden sich in diesem Abschnitt Elemente einer „Verwissenschaftlichung der Politik“. Dieser Aspekt hätte an dieser Stelle mit einer „Politisierung der Wissenschaft“ zusammengedacht und vertieft werden können2, zumal es so möglich gewesen wäre, einen großen Bogen zum dritten Untersuchungszeitraum zu spannen.
Im dritten Zeitfenster von den 1920er- bis zu den 1980er-Jahren belegt Hannig schlüssig, wie die Prävention zusehends hinterfragt wurde. Zwei Entwicklungen zeigten immer wieder die Grenzen dieses Konzepts auf und schürten die deutliche Kritik an Präventionsmaßnahmen. Einerseits ereigneten sich trotz zahlreicher wissenschaftlicher Erhebungen und baulicher Veränderungen weiterhin Naturkatastrophen. Andererseits prognostizierten Techniker und Wissenschaftler Katastrophen und etablierten kostspielige Sicherheitsmaßnahmen. Das vorhergesagte Unglück blieb jedoch mehrfach aus, wodurch die Kosten für die Prävention als unnötige Ausgaben erschienen. Als Ausweg aus diesem Dilemma wählten Politiker und Wissenschaftler zusehends ein alternatives Vorsorgekonzept: Resilienz zielte darauf, die „Widerstandskraft der Gesellschaft“ (S. 25) zu verbessern. Erstens sollten von Gefahren betroffene Bereiche robuster gestaltet werden, um möglichst wenige Schäden entstehen zu lassen. Zweitens ging es darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, um im Anschluss an eine Katastrophe schneller wieder den Ausgangszustand und das „normale“ Leben herstellen zu können. Drittens sollten Gesellschaften „anpassungsfähig und fehlertolerant“ (S. 379) werden, damit sie im Falle einer Katastrophe ihre Handlungsfähigkeit behielten. Infolgedessen entwickelten sich Konzepte der „Risikokalkulation“ (S. 455), um daraus Handlungsschritte abzuleiten. Der entstehende Katastrophenschutz mit entsprechenden Gesetzen ist ein sichtbarer Ausdruck dieses Umdenkens, der im Fall der Bundesrepublik sogar im Grundgesetz festgeschrieben wurde. Ferner verschob sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Naturgefahren, als mit der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung eine neue Fachrichtung entstand: die Katastrophensoziologie. Die dritte zentrale Veränderung findet sich bei den Versicherungsunternehmen. Sie basierten nun ihre Urteile auf eigener Forschung und sahen sich selbst als „Produzenten und Distributoren von Naturgefahrenwissen“ (S. 25). Viertens wurde der Schutz vor Naturkatastrophen mit dem Umweltschutz verbunden. Insofern stand lange der Schutz des Menschen vor Naturgefahren im Vordergrund und initiierte im 20. Jahrhundert erst allmählich den Naturschutz. Damit ist Hannigs Studie neben den oben benannten Fachgebieten auch anschlussfähig an die Umweltgeschichte.
Anmerkungen:
1 Für eine kritische Bewertung zeitgenössischer sozialwissenschaftlicher Befunde vgl. Rüdiger Graf / Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 479–508.
2 Vgl. Peter Weingart, Verwissenschaftlichung der Gesellschaft. Politisierung der Wissenschaft, in: Zeitschrift für Soziologie 12 (1983), S. 225–241.