Die Debatte um ein multiperspektivisches Geschichtsbild, in dem Migration selbstverständlich zum Narrativ deutscher Geschichte dazugehört, verdichtet sich im medialen Diskurs um ein zentrales Museum für die deutsche Einwanderungsgeschichte.1 Nachdem im Oktober 2018 das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD ) der Öffentlichkeit einen Entwurf für ein Museum präsentierte, das einen Teil der über 150.000 Objekte umfassenden Sammlung des Vereins anhand gegenwärtiger gesellschaftlicher Fragen ausstellen könnte2, wird seit kurzem ein weiterer Ausbau des Deutschen Auswandererhauses Bremerhaven als „nationales Migrationsmuseum“ mit eigener Forschungsabteilung in Betracht gezogen.3 Was in der Debatte um ein Museum dieser Größenordnung jedoch in den Hintergrund rückt, ist die Tatsache, dass es in der Bundesrepublik schon seit den 1970er-Jahren Themenausstellungen gibt, die sich mit unterschiedlichen Aspekten von Migration beschäftigen. Tim Wolfgarten legt mit seiner Kölner Dissertation nun eine Arbeit vor, die diesen Bestand zusammenträgt und analysiert.
Wolfgarten untersucht 814 Ausstellungen, die Migration nach Deutschland thematisieren und die zwischen 1974 und 2013 „in Deutschland“ zu sehen waren (damit meint er die alte bzw. wiedervereinigte Bundesrepublik). Seinen Fokus richtet Wolfgarten auf die visuellen Narrative, die in Form von Bildern und Fotografien in den Ausstellungen vermittelt wurden bzw. werden (einige der Präsentationen sind noch online abrufbar). 13.049 Bilder hat er dafür untersucht, nicht anhand von Einzelbildanalysen – das wäre kaum zu leisten gewesen –, sondern in einer quantitativen Erschließung des Bildkorpus. Wolfgarten geht es in seiner Arbeit darum, formalgestalterische Strukturen und Bildinhalte zu entschlüsseln sowie das Affizierungspotential von Bildern zu bestimmen: Welche Bildgruppen und Bildtypen mit ähnlichen Motiven lassen sich herausarbeiten? Welche Affekte und Reaktionen rufen diese Bilder bei Rezipient/innen hervor? Welche didaktischen und pädagogischen Zugänge zum Thema ermöglichen die Darstellungen? Und daran anknüpfend: Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die kuratorische Praxis zukünftiger Migrationsdarstellungen ableiten?
Die erziehungswissenschaftliche Studie, die Ausstellungen als „Bildungsräume“ und Bilder als „Bildungsanlässe“ (S. 259) begreift, lässt sich darüber hinaus in einem interdisziplinären Spannungsfeld von visueller Migrationsforschung, quantitativer Bildforschung und Museums- bzw. Ausstellungsforschung verorten und nutzbar machen. Eine solch umfangreiche Erfassung und Analyse der Themen-, Online- und Wanderausstellungen zu Migration, die institutionell nicht nur aus Museen hervorgegangen sind, sondern deren Träger auch Schulen oder etwa Sparkassen waren, stellt einen neuen Zugriff dar und ergänzt den bisherigen Forschungsstand.4
Die dichten Erläuterungen zu Leitfragen und Aufbau der Arbeit in der dreiseitigen Einleitung machen neugierig auf die folgenden Kapitel. Der Aufbau der Monografie folgt der Struktur des Forschungsprozesses. Zunächst erläutert Wolfgarten die Zusammenstellung seines Untersuchungskorpus. Er skizziert Erhebungsverfahren sowie Auswahlkriterien und beschäftigt sich mit der Frage, „wie das Angebot der Themenausstellungen bis Ende des Jahres 2013 zu beschreiben ist“ (S. 12). Methodisch nähert sich der Autor dem Bildkorpus anhand von Vorannahmen und ausgewählten Einzelbildern, sogenannten „Impactbildern“, die medial verbreitet eine gesellschaftliche Wirkung ausgeübt haben. Nach diesem ersten Einblick in den Bildbestand legt Wolfgarten sein methodisches Vorgehen und das theoretische Fundament der Arbeit dar. Hierfür verknüpft er erziehungswissenschaftliche Modelle mit kunstwissenschaftlichen Ansätzen. In einem komplexen Theoriegeflecht, das auch unterschiedliche diskurstheoretische Überlegungen einbezieht, sind die Bildungstheorie von Hans-Christoph Koller sowie die kunst- und kulturwissenschaftlichen Schriften zum Nachleben der Bilder von Aby Warburg die zentralen Bestandteile. Spätestens in diesem Kapitel wird anhand des Abstraktionsgrads der Darstellungen deutlich, dass sich Wolfgartens Monografie an ein Fachpublikum richtet. Inhaltliche Zwischenresümees sowie Infografiken zu den theoretischen Überlegungen heben die zentralen Aspekte hervor bzw. veranschaulichen sie zur besseren Orientierung.
Auf die Vorannahmen folgt ein Kapitel, in dem Wolfgarten von den 13.049 Bildern systematisch solche Bildschichten abträgt, denen „hinsichtlich der Modalität ihrer Verwendung für die darauffolgenden Analyse- und Interpretationsverfahren eine geringere Relevanz zukommt“ (S. 13). Dazu zählen etwa Infografiken, Porträtfotografien von Grußwortsprecher/innen in Ausstellungsbroschüren oder Bilder von Deutschen im Ausland. Dieses Vorgehen halbiert den zu analysierenden Bildkorpus: Es bleiben 6.467 sogenannte „Symptombilder“ übrig, die der weiteren motivischen Analyse unterzogen werden. Während die ersten Kapitel eher beschreibend den Erschließungsprozess des Bildkorpus aus der Retrospektive darstellen, folgt nun die empirische Analyse zur Entschlüsselung von Bildinhalten, an der die Leser/innen teilhaben dürfen. Wolfgarten sortiert die Bilder und bündelt diese schließlich in 15 Bildtypen, zum Beispiel An- und Bewohner/innen und Arbeiter/innen. Eine exemplarische Bildmontage von etwa neun bis 24 Bildern ermöglicht den Einblick in das Bildmaterial jedes Typus; sie verdeutlicht Ähnlichkeiten und Unterschiede. Die Bilder sind kleinformatig abgedruckt, Details sind schwer zu erkennen – dennoch lassen sich jene formalgestalterischen Strukturen ausmachen, die der Text hervorhebt. Im letzten Analysekapitel erhalten die Leser/innen anhand dreier Fotografien Einblick in Wolfgartens Arbeit mit dem Bildmaterial: Aufgrund des eingeschränkten Sichtfeldes eines Bildschirms sortierte er die Fotografien für den Gesamtüberblick händisch auf dem Fußboden.
Der quantitative analytische Zugriff bringt überraschende Erkenntnisse zu Tage. So befinden sich beispielsweise in dem Gesamtbestand der Ausstellungsbilder nur neun Motive rassistischer Gewalt. Stattdessen kann Wolfgarten anhand des Bildkorpus einen didaktischen Ansatz beschreiben. Es zeigt sich, dass positive Darstellungen, wie Menschen mit freundlichem Gesichtsausdruck, für die produktive Auseinandersetzung mit einem Thema als förderlich gelten und darum gern für die Ausstellungen ausgesucht wurden. An einigen Stellen wird die Bildaussage in ihrem Entstehungszeitraum kontextualisiert und es wird auf unterschiedliche Konnotationen hingewiesen, die den Bildern im Verlauf der Zeit zugeschrieben wurden. Diese Darstellungen sind sehr überzeugend. Zukünftig wäre eine Untersuchung interessant, die der diachronen Entwicklung der Bildsprache nachgeht.
Methodisch und theoretisch ist die Arbeit breit unterfüttert: Begriffe werden mit Definitionen gefüllt, Kategorien theoretisch oder am Material hergeleitet. Das Forschungsparadigma wird mit einer nach jeweiligem Erkenntnisstand der Kapitel aktualisierten Grafik visualisiert. Die Darstellung der Ausstellungsauswahl und die Annäherung an das Bildmaterial ermöglichen eine transparente Einsicht in die Arbeitsweise. Diese verliert allerdings im zweiten empirischen Kapitel an Schärfe. Mithilfe einer „Pathosanalyse“ werden einerseits Affekte und deren Ausdrucksformen im Bild untersucht, andererseits richtet dieser analytische Ansatz den Blick auf „die Person, die die affektevozierende Wirkung erfährt“ (S. 208). Das Augenmerk liegt nun auf der erziehungswissenschaftlichen Frage, wie sich die Fotografien auf Bildungsprozesse auswirken können. Zum empirischen Setting gibt Wolfgarten die Information, dass „die verdichteten Auszüge des Gesamtmaterials mehrfach in verschiedenen Gruppen gemeinsam interpretiert und diskutiert“ wurden (S. 212). Um die Analyse des Affizierungspotentials besser nachvollziehen zu können, wären genauere Beschreibungen dieses Settings und der Gruppen der Proband/innen wünschenswert gewesen: Wie viele Personen welchen Alters und welcher Bildungsstufe waren in welchem Diskussionszusammenhang beteiligt? Interessant wäre auch die Frage, wie viele Personen die in der Arbeit beschriebenen Reaktionen gezeigt haben und welche anderen Reaktionen es noch gab. Bekanntlich rufen Fotografien aufgrund ihres hohen assoziativen Gehalts unterschiedliche subjektive Empfindungen hervor.
Nichtsdestotrotz leistet diese Arbeit mit der systematischen Erschließung und Analyse eine elementare Grundlagenforschung für das Verständnis visueller Migrationsdarstellungen. Besonders das Herausarbeiten unterschiedlicher Motivgruppen – deren Zahl erstaunlich gering ist – macht deutlich, dass Migration eine stärkere Pluralität visueller Motive braucht, die besonders die Perspektiven von Migrant/innen selbst einbezieht. Für die zukünftige kuratorische Praxis zum Thema Migration kann auf Grundlage von Tim Wolfgartens Studie mit Recht argumentiert werden, dass ein diversifizierender Umgang mit visuellen Narrativen gerade auch im Ausstellungskonzept eines zukünftigen „nationalen Migrationsmuseums“ berücksichtigt werden sollte.
Anmerkungen:
1 Christian Füller, Schmerz oder Kommerz? Um das erste Migrationsmuseum ist ein Kampf entbrannt, der mit harten Bandagen gekämpft wird, in: Freitag, 08.12.2016, https://www.freitag.de/autoren/christian-fueller/schmerz-oder-kommerz (02.05.2019).
2 Siehe die Projektbroschüre für das Museum: DOMiD, Auf dem Weg. Ein Forum für die Zukunft: Das Haus der Einwanderungsgesellschaft, Köln o.J. [2018], https://www.domid.org/sites/default/files/domid_broschuere_haus_der_einwanderungsgesellschaft.pdf (02.05.2019).
3 Jürgen Theiner, Auswandererhaus in Bremerhaven soll wachsen, in: Weser-Kurier, 05.04.2019, https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-stadt_artikel,-auswandererhaus-in-bremerhaven-soll-wachsen-_arid,1820182.html (02.05.2019).
4 Vgl. etwa Joachim Baur, Die Musealisierung von Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation, Bielefeld 2009; Natalie Bayer, Migration und die museale Wissenskammer. Von Evidenzen, blinden Flecken und Verhältnissetzungen, in: Erol Yildiz / Marc Hill (Hrsg.), Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft, Bielefeld 2014, S. 207–224.