Über die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager schien zuletzt alles gesagt. Dabei erweist sich ihre Nachgeschichte als nicht weniger komplex, wie die US-amerikanische Historikerin Emma Kuby in ihrer wichtigen und innovativen Studie über den französischen Buchenwald-Häftling David Rousset (1912–1997) schreibt. Während der 1930er-Jahre verstand sich Rousset zunächst als trotzkistischer Aktivist; später vertrat er antikommunistische und antikolonialistische Positionen. So schlägt Kuby einen weiten Bogen von den Lagern der NS-Zeit zu den Konfliktlinien im Kalten Krieg, die ungeachtet aller politischen Zäsuren im persönlichen Erfahrungsraum immer eng verflochten waren. Mit einem Beitrag zur französischen Holocaust-Erinnerung, der hierzulande weniger intensiv rezipiert wurde als seine Schriften zur Geschichte der Menschenrechte, hat der amerikanische Rechtshistoriker Samuel Moyn das Forschungsfeld bereits vor einigen Jahren eröffnet.1
Im deutschen Sprachraum ist Rousset selbst Experten der NS-Nachgeschichte nur fallweise ein Begriff. Sein Hauptwerk „L’univers concentrationnaire“, 1946 in Paris erschienen, ist in Deutschland nie übersetzt worden, wo im gleichen Jahr Eugen Kogon den Standard setzte.2 Beide analysierten den Zusammenbruch moralischer Standards als dramatische Konsequenz aus der Lebenswirklichkeit der Konzentrationslager. Dabei zeichnete sich die schmale Schrift des französischen Überlebenden, seine Deutung der Lager als ein kafkaeskes Universum, weniger durch eine im juristischen Sinn verwertbare Präzision und Detailgenauigkeit als vielmehr durch seine literarische Qualität aus (1947 folgte Roussets dokumentarischer Roman „Les jours de notre mort“). Und anders als Kogon (1903–1987), der nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem als linkskatholischer Publizist und Europapolitiker aktiv war, setzte Rousset noch stärker auf die internationale Karte. Kuby begründet diese Entscheidung aus seiner Biografie, die insgesamt – und das ist möglicherweise schon der einzige Kritikpunkt am Buch – bis zum Schluss vergleichsweise blass bleibt: „Rousset was a cosmopolitan: he traveled incessantly – to Germany, Czechoslovakia, Spain, Morocco – and married an Englishwomen, Sue Elliot, whom he met at the Bibliothèque Nationale“ (S. 32).
Mit Gründung der Commission Internationale contre le Régime Concentrationnaire (CICRC) im Oktober 1950, die verdiente Widerstandskämpfer aufnahm, nicht aber die jüdischen Opfer der Deportation (und damit einer binären, sehr französischen Lesart der Besatzungszeit verpflichtet blieb), eröffnete er sein politisches Engagement im Nachkrieg. Der französischen Historiografie ist Rousset insofern kein Unbekannter. Ausführlich hat zuletzt 2005 Olivier Lalieu die Häftlingsgesellschaft in Buchenwald und die Rolle der Funktionshäftlinge dort untersucht3, die als sprachmächtiger Chronist auch Jorge Semprún seit den 1960er-Jahren in vielen Werken der Nachwelt überliefert hat. Dass es die frühen Schriften Roussets waren, die zumindest in Frankreich das Bild der nationalsozialistischen Lager lange Zeit prägten, gilt als ausgemacht. Kuby betont darüber hinaus seinen Einfluss auf amerikanische Lesarten der NS-Herrschaft und namentlich auf Hannah Arendt (S. 2).
Den Spuren Roussets hat Kuby in einer Vielzahl von Archiven diesseits und jenseits des Atlantiks nachgespürt. Erwähnt sei besonders das in Caen gelegene Institut Mémoires de l’Édition Contemporaine (IMEC), das in den vergangenen Jahren eine Vielzahl bedeutender Nachlässe zusammengetragen hat. Die implizit darin angelegte Transnationalität des Untersuchungsdesigns findet ihre Erklärung in der nationale Grenzen weit überschreitenden Kontur der NS-Lagergesellschaft wie auch in der ubiquitären Fortschreibung gravierender Menschenrechtsverletzungen nach 1945. Kubys Studie kommt dabei ohne die deutschsprachige Literatur zum Untersuchungsgegenstand erstaunlich gut aus.
Die Autorin analysiert eingangs die Formierung französischer Narrative der Lagererfahrung in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Kapitel zwei verortet Rousset in diesem Kommunikationszusammenhang und erörtert seine politische Neuorientierung in den Jahren nach dem Krieg, seit 1949 mit einer dezidiert antikommunistischen Stoßrichtung. Der dritte und der vierte Abschnitt beleuchten die Gründungsgeschichte der CICRC und ihr Selbstverständnis als Untersuchungskommission für die stalinistischen Lager. Im Folgenden erläutert Kuby das daran anschließende Engagement für die politischen Gefangenen im franquistischen Spanien sowie in Griechenland, Tunesien und China. Das Ende ihrer Studie bilden die kritischen Stellungnahmen zum Vorgehen der französischen Streitkräfte im Algerienkrieg 1957 und die Auflösung der Kommission in diesem Zusammenhang.
Indem Kuby archivgestützt die finanzielle Unterstützung des CICRC durch den amerikanischen Geheimdienst erstmals rekonstruiert, geht sie weit über eine nationalen Erinnerungsdiskursen verpflichtete Analyse der NS-Nachgeschichte hinaus. So gelingt ihr das vielschichtige Portrait eines Überlebenden in der Verflechtung mit der politischen Lebenswirklichkeit im Kalten Krieg. Der in jüngster Zeit vielfältig diskutierte Traumadiskurs, der seinen Fokus insbesondere auf Konzepte Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) gelegt hat, spielt für ihren Zugang keine Rolle, auch nicht die naheliegende Frage, ob Rousset für sich selbst jemals Anspruch auf Entschädigungszahlungen erhoben hat. Vielmehr erweist sich Kubys Untersuchung als Sonde in die unmittelbare Nachkriegszeit, als deren spezifisches Kennzeichen die ostentative, aus heutiger Sicht markante Abwesenheit psychiatrischer Diagnosen in den Selbstzeugnissen der Überlebenden gelten muss. Dabei weist der von Rousset eingeschlagene Weg im Umgang mit traumatischen Verletzungen seine vermutlich größte Nähe zu in der Gegenwart als Resilienz (oder posttraumatisches Wachstum) verhandelten Konzepten auf, „insisting that traumatic memory could serve as the guide to politico-ethical judgment in the present“ (S. 48).
Bis in die tristen Flure französischer Strafverfolgungsbehörden führte ihn sein antistalinistisches Engagement schließlich Anfang der 1950er-Jahre – als Folge einer von kommunistischen Parteigängern gegen ihn angestrengten Verleumdungsklage. Kuby identifiziert die „David Rousset Affair“ (1950/51) als den wohl bekanntesten Abschnitt einer Lebensgeschichte, die mit der starken, aus dem Widerstand erwachsenen Stellung der kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) in ihren vielfältigen Verflechtungen mit Kunst und Kultur (und nicht zuletzt Jean-Paul Sartre) untrennbar zusammenhing. In der kurzlebigen, als „Dritter Weg“ in die Geschichte Frankreichs eingegangenen linken Sammlungsbewegung Rassemblement Démocratique Révolutionnaire (RDR) waren Sartre und Rousset 1948 zunächst gemeinsam engagiert, bevor schon im folgenden Jahr ihre Wege sich trennten. Die Gründung der Commission Internationale contre le Régime Concentrationnaire in ihrer spezifischen Verknüpfung von Erfahrung, Erinnerung und Engagement interpretiert Kuby als Reaktion auf eine große Einsamkeit und als unmittelbare Antwort auf diesen Bruch.
Willkürlichen Freiheitsentzug, Zwangsarbeit und inhumane Haftbedingungen hatte die Kommission zunächst als gemeinsame strukturelle Kennzeichen des nationalsozialistischen wie auch des stalinistischen Lagerkosmos identifiziert, in Abgrenzung zu gewöhnlichen Haftanstalten (S. 98). Als unzeitgemäß haben diese frühen Analysen sich insofern erwiesen, als die meisten französischen Intellektuellen – so auch Sartre – den Bruch mit der kommunistischen Partei erst 1956 angesichts der sowjetischen Intervention in Ungarn vollzogen. Die insbesondere den einflussreichen Schriften Tony Judts geschuldete Annahme jedoch, diese Akteure hätten bis weit in die 1970er-Jahre hinein den Mantel des Schweigens über stalinistische Verbrechen gebreitet, verweist Kuby in das Reich der Mythen (S. 51). Auf die bundesdeutschen Debatten gerade der 1980er-Jahre über die moralischen Fallstricke vergleichender Totalitarismusforschung unter antikommunistischen Vorzeichen und die darin möglicherweise angelegte Relativierung nationalsozialistischer Verbrechenskomplexe geht sie dagegen nicht ein. „Rousset was not a significant figure in the elaboration of totalitarian theory: he was uninterested in the concept and rarely employed the term“, so ihre Analyse (S. 234).
Gemeinsam mit der französischen Ethnologin und Nordafrika-Expertin Germaine Tillion, die Erinnerungen an ihre Lagerhaft in Ravensbrück gleichfalls 1946 vorgelegt hatte, nahm Rousset Ende der 1950er-Jahre das auf algerischem Boden errichtete Lagersystem in Augenschein. Der amerikanische Geheimdienst stellte als Antwort auf den Bericht seine finanzielle Unterstützung ein und besiegelte damit in letzter Konsequenz das Ende der Kommission. Der von militärischer Gewalt, auch Folter gekennzeichnete Krieg um die Unabhängigkeit in Nordafrika (1954–1962) bleibt in Gesamtdarstellungen deutsch-französischen Zuschnitts vielfach der große Unbekannte. Dabei ist, und auch das kann Kuby zeigen, die mit den postkolonialen Studien mindestens das Interesse an einer Dezentrierung der Perspektiven teilt, selbst die NS-Nachgeschichte nicht ohne Beschäftigung damit angemessen zu schreiben.
„The shared experience of victimization did not provide survivors with an enduring basis for unified political action“, lautet Kubys Fazit (S. 224). Ihre Einsichten in Roussets Werk liefern weitere Belege für die bereits vielfältig erforschte Dominanz des Erfahrungswissens politischer Häftlinge in der unmittelbaren Nachkriegszeit und im Gedächtnis der französischen Nation, die in den 1960er-Jahren die Vernichtung der europäischen Juden verstärkt als das eigentlich spezifische nationalsozialistische Verbrechen benannte. Insbesondere Tillion dient Kuby dabei als herausragendes Beispiel für ein humanitären Überzeugungen kompromisslos verpflichtetes Engagement, das in den 1970er-Jahren schließlich auch „global slavery, poverty, and gendered oppression“ (S. 228) umfasste.
Rousset dagegen, nach kurzer Karriere als gaullistischer Politiker von den parlamentarischen Routinen ernüchtert, erschien in jener Zeit zunehmend weniger anschlussfähig. Dass er 1997 postum aber als bedeutender Zeuge parteiübergreifend gewürdigt wurde, liest Kuby als eindrucksvollen Beleg dafür, dass die im Nachkrieg vielfach konkurrierenden, dabei nur scheinbar sich ausschließenden Narrative der Erinnerung in Roussets letzten Jahren zunehmend stärker miteinander verflochten waren. Damit erweist sich ihre Studie in einer übergreifenden Perspektive auch als pointierter Kommentar zum gegenwärtigen Stand der Holocaust-Forschung. Hatte „die Zunft“ hierzulande den Emigranten Raul Hilberg zeitgenössisch unter Subjektivitätsverdacht gestellt, war sein Kollege Saul Friedländer noch in den 1980er-Jahren mit Martin Broszat über diese Fragen in einen Briefwechsel verstrickt, analysiert Kuby in ihrer unbedingt lesenswerten Studie die biografisch fundierte Empathie ihres Protagonisten als methodischen Zugriff eigenen Rechts.4
Anmerkungen:
1 Samuel Moyn, A Holocaust Controversy. The Treblinka Affair in Postwar France, Waltham 2005.
2 Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1946. Das gilt auch für die Lebenserinnerungen des französischen Holocaust-Forschers Léon Poliakov, die erst kürzlich einen deutschen Verleger gefunden haben. Vgl. ders., St. Petersburg – Berlin – Paris. Memoiren eines Davongekommenen, Berlin 2019.
3 Olivier Lalieu, La zone grise? La Résistance française à Buchenwald, Paris 2005.
4 Saul Friedländer, Nachdenken über den Holocaust, München 2007; zuletzt René Schlott (Hrsg.), Raul Hilberg und die Holocaust-Historiographie, Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 35, Göttingen 2019.