Titel
Visions of Utopia in Switzerland.


Herausgeber
Charnley, Joy; Pender , Malcolm
Reihe
Occasional Papers in Swiss Studies 3
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franz Leander Fillafer

In Isaak Iselins Lustgarten mit leibnizianischer Broschur, seiner spätaufklärerischen “Geschichte der Menschheit” firmiert eine Mehrfachnennung von “Einbildungskraft, Empfindsamkeit und Verstand” als definitorische Prämissenliste erstrebenswerter historisch-praktischer Gelahrtheit. Jenseits von Iselins in der “Geschichte der Menschheit” ausgeführten Mustervorlage, der befreiend matriachalen Majestät weiblicher Weltseele, rekonstruiert die Berner Historikerin Brigitte Schnegg in ihrem Essay “Looking back to the future – Designs for an Ideal Society in Swiss Enlightenment” schweizerische Staatsfrömmigkeit und Naturerfahrung aus Leseproben von Franz Urs Balthasar und Lavater, als textualisierungsbeflissene Eklektik von Fortschrittsoptimismus und rückwärtsgewandter Utopie.

In Schneggs klassisch ideengeschichtlichem Gleitzeit-Repetitorium sind Kommunikationsdefizite und Forschungsfragestellungen zweier Jahrzehnte – die Zuordnungseffekte mitteleuropäischer Aufklärungen, Mängelerscheinungen und Akzeptanz der Volksaufklärung sowie die korporatistische Tugendrepräsentation in der “Helvetischen Gesellschaft” 1 – ohne etymologische Herleitungen unausgesprochen präsent, als Zahlen- und Menschenwelten erkenntnisleitender Wahrnehmungslehren. Um zweierlei Entgrenzungsphantasien, Iselins Gedeihensmotivik einer hinkünftigen Gesellschaftsläuterung im Zusammenleben (ausgeführt im Alkoven seiner “Filosofischen und Patriotischen Träume eines Menschenfreunds”) und Lavaters, des “Schweizerlieddichters” Luftwurzeln spiritualistischen Natur- und Volksgewissens gerecht zu werden, bedürfte es mehr als Schneggs glanzpolierter Formblätter von Rationalisierung und Vernunftfeindlichkeit in Primärquellen.

Dass Schnegg ihrem geschichtseinholenden Aufklärungspiece die drei deskriptiven Fanale der einschlägigen Forschung in den 1970er Jahre programmatisch voranstellt, vermag auch im mitgelieferten Sinnordnungsanspruch nicht zu überzeugen:“(Kosellecks) ´Criticism´ and ´crisis´,” schreibt Schnegg, “(Vernturis) ´reform´ and ´Utopia´ 2, (Ulrich Im Hofs) ´dreams´ and ´improvements´ are ... the key terms which set the parameters within which the Enlightenment thought and action developed in eighteenth century” (97), in diesen, begrifflich beliebigen Erklärungsrahmen sind Fährnisse subsistenten Begriffswissens ohne Selbstdenken eingeschliffen, die Joseph de Maistre zeitgleich mit Brigitte Schneggs Wahrheitszeugen definierte: “Die Verfassung von 1795, ebenso wie ihre Vorgängerinnen, war für “den Menschen” gemacht. Aber auf der Welt gibt es den Menschen nicht. Im Laufe meines Lebens sind mir Franzosen, Italiener, Russen etc. begegnet, dank Montesquieu weiß ich auch, “daß man Perser sein kann”. Aber was “den Menschen” angeht, so erkläre ich, daß ich ihn in meinem ganzen Leben noch nie getroffen habe, wenn es ihn geben sollte, weiß ich nichts von ihm.”[4] Aufklärungsforschung (eine gegenaufklärerische Formgebung dessen, was Schnegg in ihren Retronymen konsequent als bürgerlich, “civil”, bezeichnet, erscheint in “Looking back to the future” nicht erwähnenswert) ohne die Einbeziehung vom Pädagogik, Sprachsoziologie, Bildpropaganda und Satire, ohne inhärente Skepsis gegenüber präsenten, lichtspendenden Kalotten verallgemeindernder Geistesverfassungen übersetzt Imaginationen, Daseinsformen und Denkinhalte des I8. Jahrhunderts – in Abwandlung eines Worts Alfred Kerrs – eben oftmals bloss in eine Sprache, die sie auch nicht versteht.

Brigitte Schneggs Essay erschien in einer unter der Reihenbezeichnung “Occasional Papers on Swiss Studies” von Joy Charnley und Malcolm Pender herausgegebenen Aufsatzsammlung “Visions of Utopia in Switzerland”, deren Beiträge keinen unmittelbaren Sinnbezug zur Titelwahl ermöglichen. Flüchtlingsschicksale, Frischs “achtung: die schweiz” und netzdemokratische Partizipationsmodelle, dieser Realitätsfluss perspektivischer Fluxion mag methodenpluralitistischen Absichten oder Verlegenheitslösungen seitens der Herausgeber zuzuschreiben sein. (oder Lichtenbergschen Verlesern: “Er las immer Agamemnon statt angenommen, so sehr hatte er den Homer gelesen”).

Max Frischs “unrealized visions of the future”, denen der Mitherausgeber Malcolm Pender in seinem Beitrag nachspürt, waren eben darum nocht nicht utopisch, es lohnte freilich, seinen 1950 aus einer architektonischen und schrifstellerischen Ästhetik entwickelten Traktat “achtung: die Schweiz” seinem 1989 aufgeführten Stück zur Armeeabschaffungsinitative, dem dialogisch-völkerpsychologischen Diskurs “Die Schweiz ohne Armee: Ein Palaver” gegenüberzustellen. Malcolm Pender rekonstruiert eine aufschlussreiche Lektürebiographie der produktiven Frühwerkphase Max Frischs in den 50er Jahren, die in der Bespiegelung spätere Kontinuitäten der Auseinandersetzung zu Frischs Kritik am „unter der jahrhundertelangen Dominanz des Bürgerblocks verluderten Staat“ offenbart.

Thematische Anknüpfungspunkte zu Max Frischs Schreiben bietet Bernhard Degens, Schweizer Denkbilder vom Weltbürgerkrieg glossierender Aufsatz “The total Defence Society: A Dark vision of the Political and Military Elite”, in dem Degen, Historiker an der Universität Bern, Erzählsplitter des militaristischen Fundamentalismus in der wirkungsethisch offenherzigen Schweiz aneinanderreiht (und hierin vielleicht an das Korporationsdenken der “Helvetischen Gesellschaft” anzuschliessen vermag).

Dieses in Anlehnung an Gabriel Almonds Definition als “politische Kultur” der Wehrhaftigkeit zu bezeichnende – also affektive, kognitive und wertende Identifikationen vereinende – Planspiel wird von Degen in die 60er Jahre zurückverfolgt, ohne die Zählebigkeit der mitnichten bedarfsorientierten Imagination umfassender (“ziviler, ökonomischer und psychologischer”) Landesverteidigung abzuschwächen. Degens Hauptaugenmerk gilt nicht den Repressalien, die “innere Feinde” geistiger Mobilmachung in verschiedensten Jargons (jenen der Aktion für eine “Unabhängige und Neutrale Schweiz” und der dieser nahstehenden SVP Blochers) mitunter immer noch bedrohen, sondern dem Wandel des Meinungsklimas der Schweizer Zivilverteidigung in eine politisch-kulturellen Elite. Obwohl Degen eine notwendige Definition seines Elitenbegriffs ausspart, sind Stossrichtung und Adressaten seiner Kritik deutlich erkennbar, wenn er im abschliessenden Abschnitt seines Essays schreibt:

“The visions of General Defence, backward-looking despite modern features, left deep traces. The programme of permanent preparation for war, fortunately only party realisable, drastically limited diversity of opinion by seeking to smear divergent opinions as un-Swiss. When the majorty of the politcal elite finally brought down themselves to accept integration into the UN and into the European Union, the conservative and extreme right opposition brought down the necessary parliamentary resolutions, not least by arguments reinforced by General defence.” (42) Bernhard Degen schliesst: “... the worst effects have come from the fact that, at a time when in most democratic states plans for re-orientation were under discussion, in large sections of Swiss society the talk was still only of defence.” Vor zwei Jahren noch kreierte ein Schweizer Kabarettist den neuen Schweizerliedreim, “So sind wir gut gefahrn/ Seit Siebenhundertjahrn” und schloss mit der Formel “bis Europa der Schweiz beitritt.”

Anmerkungen:
1 Einen Forschungsüberblick bieten Helmut Holzhey und Simone Zurbuchen: Die Schweiz zwischen deutscher und französischer Aufklärung in: Werner Schneiders (Hg.): Aufklärung als Mission – La Mission des Lumières, Frankfurt am Main, 1993, aber auch die Artikel mit Schweizbezug in John Yolton et.al. (Eds.): The Blackwell Companion to the Enlightenment, Oxford, 1991.
2 In Reinhart Kosellecks “Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt” Kritik und Krise (Frankfurt am Main, 1973), Franco Venturis Gegenüberstellung von Utopia and Reform in the Enlightenment (Cambridge, 1971) und Ulrich im Hofs Aufklärung in der Schweiz (Bern, 1970) sieht Brigitte Schnegg das Entwicklungsrelais ihres Aufklärungsverständnisses.
[3] Œuvres complétes de Joseph de Maistre 14 Bde und Register, Lyon, Paris, 1884-1887 (und unveränderte Nachdrucke), I, S. 74.

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