Galen von Pergamon (129 – um 210 n.Chr.) war der produktivste medizinische Autor der Antike. Mit über hundert überlieferten Werken bildet sein schriftstellerisches Schaffen das größte Korpus eines einzigen griechischen Autors, wobei noch nicht einmal all seine Werke, insbesondere seine nicht-medizinischen, überliefert sind. Galens Einfluss auf die westliche Medizin reichte bis in die Neuzeit, noch im heutigen medizinischen Vokabular finden sich Spuren, wie z.B. der Nervus laryngeus recurrens Galeni, die Vena cerebri magna Galeni oder die Functio laesa als fünftes Kardinalsymptom der Entzündung. Die Galenforschung hat in den letzten Jahren, vor allem nach der Entdeckung eines Manuskripts der bis dahin als verschollen geltenden Schrift De indolentia im Jahr 2005, einen neuen Schub bekommen und damit auch die Befassung mit der fast unüberschaubaren Rezeptionsgeschichte. Der vorliegende umfangreiche Band möchte nun diese spezielle Rezeptionsgeschichte zeitgemäß überblicken.
Der Band teilt sich nach einer kurzen Einführung der Herausgeber/innen (S. 1–7) in fünf gut strukturierte größere Abschnitte: Die ersten drei Abschnitte beschäftigen sich mit der Rezeption Galens bis ins Mittelalter. Teil 1 beinhaltet die westliche Spätantike und Byzanz und beginnt mit dem sehr informationsreichen Beitrag Antoine Pietrobellis (S. 11–37) über die frühe, teilweise immer noch obskure Rezeption von Galen zu seiner Lebenszeit bis ins 4. Jahrhundert. Für die Zeitgenossen und die nachfolgende Generation (Athenaios, Clemens von Alexandria, Origines) blieb Galen als einer der führenden Denker, als ein Philosoph und Exeget in Erinnerung, nicht so sehr als Arzt. Erst im 4. Jahrhundert wurde Galen, vor allem unter Vermittlung von Oribasios, zum einflussreichsten medizinischen Schriftsteller für die nächsten 1000 Jahre. Auf die spätantiken medizinischen diagnostisch-therapeutischen Handbücher fokussiert sich Petros Bouras-Vallianatos (S. 38–85)1, der sowohl alle überlieferten griechischen als auch lateinischen Autoren berücksichtigt und der das noch immer herumgeisternde Apodiktum von unkreativen Enzyklopädisten antiken medizinischen Wissens („refrigerators“) korrigiert (S. 55). Ivan Garofalo befasst sich mit Galens Erbe im christianisierten Alexandria (S. 62–85), insbesondere in der bis ins 7. Jahrhundert dort noch aktiven medizinischen Schule. Bedeutsam ist dabei der Erhalt einer Reihe von im Unterricht verwendeter Werke Galens (S. 74–79). Hinweise auf medizinische Fortschritte gibt es dagegen nur sehr spärlich.2 Petros Bouras-Vallianatos versucht einen Überblick über die bisher wenig untersuchte Rolle Galens in der byzantinischen medizinischen Literatur zu geben (S. 86–110), Dieses Unternehmen ist vor allem deshalb schwierig, weil es bisher nur wenige moderne kritische Editionen der überlieferten Autoren gibt. Bouras-Vallianatos hebt hervor, dass die byzantinischen Ärzte nicht nur Galens Beiträge systematisierten, sondern durchaus mit ihren eigenen klinisch-praktischen Erfahrungen ergänzten und weiterentwickelten (S. 94). Speziell untersucht er die Tätigkeit dreier Ärzte (Symeon Seth, Aktuarios und Johannes Argyropulos) und zeigt dabei eindrucksvoll, wie sich Galens Einflüsse individuell verschieden nachzeichnen lassen, insbesondere anhand von Argyropulos, der seine medizinische Lehrtätigkeit 1453 nach Italien verlagerte (S. 104). Die Mitherausgeberin Barbara Zipser zeichnet Galens Rezeption in der sogenannten Iatrosophia-Literatur nach (S. 111–123) und zeigt, dass Galen zwar häufig zitiert wurde, aber definitiv nicht als einzige medizinische Autorität. Paola Degni erhellt die bis ins Spätmittelalter reichende Textüberlieferung der Werke Galens in Byzanz (S. 124–139) und zeichnet anschaulich einige Überlieferungswege nach, bis in einzelne Scriptorien hinein (S. 131). Auch sie hebt die Rolle von Johannes Argyropulos und seiner namentlich bekannten Schüler bei der direkten Tradition von fast 30 Manuskripten nach Italien besonders hervor. Dionysios Stathakopoulos untersucht die Rolle Galens in nicht-medizinischen byzantinischen Texten (S. 140–159). Galen taucht ubiquitär als eine Art großer, faszinierender Meister der Antike auf, etwa 23 seiner Werke wurden nachweisbar zitiert. Dabei macht Stathakopoulos eine gewisse Diskrepanz zwischen der eher geringen Anzahl von Rezeptionen und der sehr großen Menge an Manuskript-Kopien galenischer Werke zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert in Byzanz aus (S. 151).
In Teil 2 liegt der Fokus auf Galens Rolle in der mittelalterlichen islamischen Welt und beginnt mit Siam Bhayros Übersicht der Rezeption Galens in der syrischen Tradition (S. 163–178). Diese lokale, aber wichtige Texttradition ist mit ihren wesentlichen Protagonisten (Sergius Resh’Aina, Hunayn ibn Ishaq und Bar Hebraeus) erst in den letzten Jahren wieder verstärkt untersucht worden.3 Hieran schließt sich Glen M. Coopers Beitrag zu Hunayn ibn Ishaq an (S. 179–195), der, aus einer syrisch-christlichen Arztfamilie stammend, mit seinen zahlreichen zunächst syrischen, dann arabischen Übersetzungen mit einer von Cooper ausführlich nachvollzogenden Übersetzungstechnik wesentlich zur Formung eines arabischen Galen beigetragen hat. Pauline Koetschet untersucht die Rolle des Corpus Galenicum in der arabo-islamischen Medizin anhand der teilweise polemischen Rezeption bei Abu Bakr al-Razi (Rhazes; S. 196–214). Hier schließt sich direkt die Rolle Ibn Sinas (Avicenna) an, anschaulich von Gotthard Strohmaier präsentiert (S. 215–226). Die medizinischen Autoren nach Avicenna in Bagdad, Ägypten und Al-Andalus stellt Miquel Forcada dar (S. 227–243). Die wichtige, teilweise auch sehr kritisch-philosophische Vermittlung einiger galenischer Werke durch Moses Maimonides erhellt Y. Tzvi Langermann (S. 244–262). Galens Rolle im Werk des berühmten syrisch-ägyptischen Arztes und Rechtsgelehrten Ibn al-Nafis untersucht Nahyan Fancy (S. 263–278), die die kritische Haltung dieses Autoren Galen gegenüber aufzeigt, insbesondere im Diskurs um die menschliche Physiologie, welcher zu dieser Zeit aber, wie Fancy ausdrücklich betont, primär theoretisch, das heißt noch ohne naturwissenschaftliche Experimente, geführt wurde (S. 266). Einen für die islamische Rezeption sehr wichtigen Fokus legt Roberto Alessi auf die Rezeption Galens bei Ibn Abu Usaybi’ah (S. 279–303). Bei diesem Autor finden sich zahlreiche Zitate heute nicht mehr erhaltener Werke Galens. Alessi präsentiert seine vorläufigen Studienergebnisse und zeichnet die sehr regen und textnahen medizinischen Diskussionen in Damaskus und Kairo des 13. Jahrhunderts bis ins Detail nach. Leigh Chipman befasst sich spezifisch mit der galenischen Pharmakologie in der arabischen Tradition (S. 304–316). Die arabische Pharmakologie war in seiner Bewertung eine der wichtigsten Rezeptions- und Entwicklungsbereiche, die auf Galens Humoraltheorien und seine pharmakologischen Werke, vor allem die über einfache Heilmittel, aufbaute und diese zeitgemäß, z.B. mit neueren persisch-indischen Zutaten, unter Beibehaltung von Galens berühmten Namen ergänzte.
Teil 3 wendet sich mit fünf relativ langen Beiträgen wieder dem mittelalterlichen Westen zu. Monica H. Green zeigt zunächst zwei Phasen (S. 319–342): die Revitalisierung antiker medizinischer Texte im 11. Jahrhundert (vor allem durch Constaninus Africanus im Kloster Monte Cassino), gefolgt von einer eher „stillen“, langsamen galenischen Transformation der lateinischen Medizin mit erfolgreichen Editionen einzelner Werke Galens in Toledo und Pisa im 12./13. Jahrhundert. Ihrer Einschätzung nach wurde das Corpus Galenicum an sich nicht vor den 1230er-Jahren wiederentdeckt (S. 338). Brian Long betrachtet die arabisch-lateinischen Zusammenhänge in diesem Transformationsprozeß (S. 343–358). Auch er betont, dass die galenische Medizin im „langen“ 12. Jahrhundert im lateinischen Westen eher ein Exot war. Er stellt Constaninus Africanus mit seinen arabisch-lateinischen Übersetzungen (z.B. Isagoge, Pantegni, Viaticum) als wesentlichen „Erfinder“ von Galens Prestige dar und beleuchtet die Rolle der in Toledo mit Unterstützung der Kirche entstandenen Übersetzungen und deren Verwendung für den medizinischen Unterricht am Beispiel von Gerhard von Cremona sowie Mark von Toledo. Anna Maria Urso zeichnet den griechisch-lateinischen Übersetzungsweg Galens vom 12. Jahrhundert bis zur Renaissance nach (S. 359–380), ausgehend von Zentral- und Süditalien. Ab dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts entstand ein „neuer“ Galen mit etwa 35 Neuübersetzungen in Bologna, Paris, Montpellier und Toledo. Nach Diskussion der bekannten Übersetzer kommt sie zum Schluss, dass trotz zahlreicher neuer Beiträge in den letzten 40 Jahren immer noch ein gravierender Mangel an kritischen Editionen dieses lateinischen Corpus Galenicum bestehe. Michael McVaugh knüpft hier mit seiner Übersicht zu Galens Rolle an den mittelalterlichen Universitäten an (S. 381–392). Bis etwa 1300 gab es wohl nur etwa neun „Kerntexte“ Galens, die in der universitären medizinischen Ausbildung benutzt wurden, ab etwa 1345 kam ein „neuer“ Galen mit 50 weiteren Texten hinzu. Iolanda Ventura blickt auf die Rolle der galenischen Pharmakologie im Mittelalter (S. 393–433), insbesondere der Schrift De simplicium medicamentorum temperamentis et facultatibus (SMT).
Im Teil 4 wird die Rezeption Galens in der Renaissance und danach betrachtet. Stefania Fortuna fasst zunächst die Buch-Editionen und Übersetzungen Galens von 1490 bis 1540 zusammen (S. 437–452). Ab etwa 1500 stieg die Anzahl der Galeneditionen rapide, die Entwicklung mündete schließlich in der ersten griechischen Galen-Edition in Venedig in fünf Bänden von 1525–6 mit über 100 Einzelschriften, die noch nie zuvor zusammen publiziert wurden. Christina Savino bespricht das Phänomen von Galen-Fälschungen in der Renaissance, insbesondere von angeblichen Galen-Kommentaren zu hippokratischen Schriften (S. 453–471). Die sich zunehmend von Galen abwendende medizinische Rezeption zwischen 1504–1640 erhellt Vivian Nutton (S. 472–486), besonders infolge von Andreas Vesalius‘ De humani corporis fabrica 1543, aber auch durch Paracelsus. Maria Pia Donato bespricht das Zeitalter des Umbruchs, 1650–1820, in dem Galens Schriften nun Untersuchungsgegenstand für die philologische Zunft wurden (S. 487–507). Piero Tassinari, dem der gesamte Band posthum gewidmet ist, hat ausführlich die weitere Entwicklung von der auch heute noch teilweise als Referenz verwendeten Edition des Corpus Galenicum von Karl Gottlob Kühn (1821–1833) bis zum in Berlin etablierten Corpus Medicorum Graecorum nachgezeichnet (S. 508–534). Galen wanderte quasi aus der Obhut noch praktisch tätiger Ärzte in die professionelle Philologie. Kurioserweise und heute vielfach vergessen wurden dennoch bis ins 20. Jahrhundert hinein noch zahlreiche Dissertationen aus vielen, neu entwickelten Spezialgebieten der Medizin mit Bezug auf verschiedene Werke Galens publiziert (S. 522).
Im abschließenden Teil 5 wird die außereuropäische Rezeption Galens gestreift: Carmen Caballero-Navas befasst sich mit der Rezeption Galens in der mittelalterlichen jüdischen Literatur (S. 537–558), insbesondere mit Maimonides und seinen „Medizinischen Aphorismen“ von etwa 1185 (Liste aller bekannten, ins Hebräische übersetzte Werke Galens: S. 550–554). Alessandro Orengo und Irene Tinti präsentieren den aktuellen Forschungsstand zur Rezeption Galens in der armenischen Literatur (S. 559–576). Hier taucht Galen erst ab dem 10. Jahrhundert auf, speziell die armenischen medizinischen Manuskripte sind inhaltlich bisher aber kaum untersucht. Matteo Martelli untersucht Galens Fußspuren in der sogenannten alchemistischen Tradition der Spätantike, in Byzanz und im syrisch-arabischen Sprachraum (S. 577–593). Ronit Yoeli-Tlalim stellt schließlich die Frage nach Galens Rezeption in Asien (S. 594–608). Sie setzt dabei den Fokus auf Tibet, Indien und China. Galenische Lehrmeinungen kamen unter Vermittlung der arabischen Medizin, teilweise auch über direkten Kulturaustausch mit Europa, über jesuitische Missionare sowie individuell sogar fassbar in Person des wahrscheinlich aus Byzanz stammenden Leibarztes von Kublai Kahn im 13. Jahrhundert bis nach China. Indes blieben sie ohne anhaltenden Einfluss. Der letzte Beitrag des Bandes stammt von Stavros Lazaris mit einer Diskussion und Reproduktion der elf erhaltenen, idealisierten bildlichen Darstellungen der Person Galens im Mittelalter (S. 609–638).
Den Band beschließt ein Index Rerum et Nominum (S.639–656) sowie ein Index Locorum (S. 657–684). Jeder einzelne Beitrag enthält ein eigenes Literaturverzeichnis. Schreibfehler sind fast keine zu finden, inhaltliche Mängel überschaubar.4 Dieser beeindruckende Band ist das Beste und Ausführlichste, was zur Zeit über die komplexe Rezeptionsgeschichte Galens erhältlich ist. Aktuelle Entwicklungen werden kohärent präsentiert. Viele Beiträge können als Referenzartikel in der Galenforschung bezeichnet werden. Für alle, die sich für diesen wichtigen antiken Autor und sein Nachleben aus unterschiedlichen Perspektiven (Medizingeschichte, antike Sozialgeschichte, Wirkungsgeschichte, Gräzistik, Mediävistik) interessieren, ist die Lektüre dieses gelungenen Sammelbandes äußerst empfehlenswert.
Anmerkungen:
1 Dieser Artikel ist, ebenso wie die von Bouras-Vallianatos, Galen in Byzantine Medical Literature, von Barbara Zipser, Galen in Byzantine iatrosophia und von Ronit Yoeli-Tlalim, Galen in Asia?, über Open Access verfügbar.
2 Korrekt weist Garofalo auf die zu dieser Zeit im Vergleich zur Gegenwart Galens an Arzneigrundstoffen „ärmere“ Umwelt, d.h. geringere Verfügbarkeit, hin (S. 74). Als eine der ganz wenigen Fortschritte erwähnt Garofalo die etwas erweiterte Kenntnis der menschlichen Fußknochen (S. 75); siehe ergänzend: Markwart Michler, Zur metaphorischen und etymologischen Deutung des Wortes Pedíon in der anatomischen Nomenklatur. Sudhoffs Archiv 45 (1961), S. 216–224.
3 Mit insgesamt 15 zitierten eigenen Beiträgen Bhayros im Literaturverzeichnis!
4 Schreibfehler: S. 365, Anm. 32: „Costantinople“; inhaltlich vor allem in den einzelnen Literaturangaben: S. 65, Anm. 18: „See Garofalo and Palmieri (2005).” ist nur als „Palmieri, N. (ed.), 2005“ in der Bibliographie (S. 81) erwähnt; S. 131, Anm. 41: zu „Commentary on Hippocrates‘ On Joints“ wird angegeben: „Galen, Hipp. Fract., ed. Kühn, (1829) XVIIIA. 300–767 (korrekt wäre: Galen, Hipp.Artic.); S. 139: Titel als „Roselli, A 1996b“ genannt, eigentlich zwei Autoren: Roselli, A. und Manetti, D.; S. 454, Anm. 6: „Lee (2015)“ fehlt im zugehörigen Literaturverzeichnis; S. 508, Anm. 2: „Menghi (2012)“ fehlt im Literaturverzeichnis (gemeint ist wohl: Giorgio Cosmacini, Martino Menghi, Galeno e il galenismo scienza e idee della salute, Milano 2012).