J. Scott: Der neue und der alte französische Säkularismus

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Titel
Der neue und der alte französische Säkularismus. Aus dem Englischen von Karin Wördemann


Autor(en)
Wallach Scott, Joan
Reihe
Historische Geisteswissenschaften 10
Erschienen
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
60 S.
Preis
€ 9,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Aline Oloff, Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung, Technische Universität Berlin

Joan Scott ist Historikerin und einem breiten Publikum aufgrund ihrer Theoretisierung von Gender als Analysekategorie bekannt. Sie ist zudem ausgewiesene Frankreichspezialistin, die sich mit den Paradoxien zwischen dem spezifischen Gleichheitsbegriff des französischen Universalismus und der Figur der Geschlechterdifferenz1 auseinandergesetzt und (geschlechter-)politische Entwicklungen in Frankreich2 reflektiert hat. Insbesondere die Aufarbeitung und Einordnung der Kopftuchdebatten3, die in Frankreich bis weit in die 1980er-Jahre zurückreichen, haben die letzte große Forschungsarbeit von Joan Scott vorbereitet. Ihre umfassende Analyse des Säkularismusdiskurses von der Aufklärung bis in die Gegenwart erschien im Jahr 2017 unter dem Titel Sex & Secularism und liegt bislang leider noch nicht in deutscher Übersetzung vor.

Daher ist es umso erfreulicher, dass nun mit dem kleinen, gerade einmal 60 Seiten umfassenden Band der Reihe Historische Geisteswissenschaften eine kondensierte und auf den französischen Säkularismus fokussierte deutschsprachige Zusammenfassung der zentralen Argumente Scotts zur Verfügung steht.

Scotts Anliegen ist es, die im westlichen Selbstbild geläufige Verknüpfung von Säkularismus und der Gleichstellung der Geschlechter zu hinterfragen. Das Auftauchen dieser neuen Variante des Säkularismusdiskurses datiert Scott ans Ende des 20. Jahrhunderts, als sich die sogenannte freie westliche Welt nach dem Ende der Blockkonfrontation mit einer neuen Bedrohung konfrontiert sah. Der Islam war spätestens mit der iranischen Revolution zu einer politischen Größe geworden, hinzu kam die wachsende Präsenz von Muslimen in westeuropäischen Ländern in Folge postkolonialer Migration. Im seitdem immer wieder beschworenen clash of civilizations spiele die westliche Selbstdeutung als liberale und vor allem säkulare Gesellschaftsordnung eine zentrale Rolle. Anders als der Säkularismusdiskurs des 19. Jahrhunderts bestimme sich dieser neue Diskurs fast gänzlich durch den Gegensatz zum Islam und mache Geschlechtergleichheit zur zentralen Forderung, so Scott. Der Islam werde mit der Unterdrückung von Frauen gleichgesetzt, während „Säkularismus“ als Garant für die Gleichheit zwischen Männer und Frauen angesehen werde. Dieser Behauptung widerspricht Scott, indem sie hier am Beispiel Frankreichs nachweist, dass die Säkularisierung der westlichen bürgerlichen Gesellschaften mit der Unterordnung von Frauen einherging. Eine Unterordnung, die in Form der Ausgrenzung von Frauen aus dem Bereich des Öffentlichen Spuren bis in die Gegenwart hinterlassen hat – die aber, der Idee von liberaler Handlungsfreiheit folgend, als freiwillige Unterwerfung in der Ehe und damit als Akt individueller Wahlfreiheit verstanden wurde und wird. Das liberale Konzept des Voluntarismus sei keine ausgestorbene Vorstellung, so Scott, sondern bestehe in der Idealisierung der „Verführung“ und des „liebenden Einverständnisses“ von Frauen fort, die auch heute noch als Besonderheit französischer Galanterie beschrieben werde (S. 37).

Bereits im 19. Jahrhundert sei die Asymmetrie im Geschlechterverhältnis durch den Vergleich mit der muslimischen Bevölkerung in den kolonialisierten arabischen Ländern normalisiert worden, so der zweite Teil der Argumentation Scotts. Während sich französische Frauen aus freien Stücken unterordnen, herrsche in islamisch geprägten Gesellschaften purer Zwang – diese aus dem Kolonialdiskurs stammende Gegenüberstellung wirke bis in die Kopftuchdebatten der Gegenwart fort, in denen die Verhüllung weiblicher Körper zum Gradmesser für (individuelle) Freiheit gemacht wird. Es sei genau dieses Verdecken – das Kopftuch als Signifikant für Sittsamkeit und sexuelle Unzugänglichkeit –, das Anstoß errege. Daher hätten die Kritik am Kopftuch und die daraus resultierenden mittlerweile weitreichenden Verbote auch weniger mit der Unterdrückung muslimischer Frauen zu tun als vielmehr mit dem „politischen Unbewussten des französischen Republikanismus“, so Scott. „Dieses politische Unbewusste gründet in einem nicht eingestandenen, aber dauerhaft vorhandenen Widerspruch zwischen politischer Gleichheit und dem Geschlechterunterschied im französischen Republikanismus“ (S. 44).

Die Kleidung muslimischer Frauen spricht diesen Widerspruch direkt an und wird damit zum Skandal. Denn hier wird der Körper verhüllt, in dem die „natürliche“ Differenz der Geschlechter angesiedelt ist. Wenn die öffentliche Zurschaustellung des weiblichen Körpers – symbolisiert in der entblößten Brust der Marianne – dazu dient, Differenz sichtbar zu machen und darüber Ungleichbehandlung zu legitimieren, dann wird mit der Verhüllung des Körpers der Ungleichbehandlung gewissermaßen die Grundlage entzogen. Daher dürfen die starken Einwände gegen das Kopftuch weder als einfache Antwort auf Terrorismus noch als „eine prinzipientreue Befürwortung der Geschlechtergleichheit“ verstanden werden, so Scott (S. 47). Es handele sich vielmehr um ein Verfahren, vorhandene und fortbestehende Ungleichheiten in der französischen Gesellschaft zu leugnen. Anders ausgedrückt: Indem Ungleichheit zum alleinigen Los muslimischer Frauen gemacht wird, werde die andauernde Ungleichheit französischer Frauen bestritten.

Ein überaus wichtiger Punkt in Scotts Argumentation ist die Bedeutung von Sexualität im Säkularismusdiskurs. In den Verhandlungen zivilisatorischer Modelle werde die „sexuelle Befreiung“ als höchste Errungenschaft des Säkularismus angepriesen. In der gegenwärtigen, über die Grenzen Frankreichs hinausreichenden Rhetorik der sexuellen Emanzipation sei das sexuelle Begehren zum definierenden universellen Merkmal des Menschen geworden und habe andere Attribute wie Hunger, Spiritualität oder Vernunft verdrängt. Handlungsfähigkeit habe ihren Sitz nunmehr nicht im vernünftigen Denken, sondern im begehrenden Körper, so Scott mit Verweis auf Foucaults Vorlesungen zum Thema Sicherheit, Territorium, Bevölkerung am Collège de France im Januar 1978. Aus dieser Perspektive beziehe sich Gleichheit nur auf die Handlungsmöglichkeit, die jedes Individuum in Bezug auf sein oder ihr Begehren hat. Andere Maßstäbe für Gleichheit – ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Art – gerieten aus dem Blick. Geschlechtergleichheit bedeutet nunmehr, dass Frauen ihre Sexualpartner ebenso frei wählen und wechseln können, wie es Männer seit jeher tun. Das Engführen von Freiheit und Gleichheit auf sexuelle Emanzipation unterschlägt Ungleichheit beziehungsweise schreibt diese „im Namen der Gleichheit unter dem Zeichen eines aufgeklärten (christlichen) Säkularismus fort; ihre positive Wahrnehmung wird nur durch eine negative Kontrastierung mit dem Islam erreicht“, so Scott in ihrem abschließenden Fazit (S. 54).

Die Verknüpfung von Geschlechtergleichheit und Säkularismus zu widerlegen und damit zu lösen, ist das Verdienst des kleinen Bandes. Es wird deutlich, dass wir es hier mit einem doppelten Abwehrdiskurs zu tun haben, der sich sowohl gegen Forderungen der Muslime nach Anerkennung als auch gegen Forderungen nach Geschlechtergerechtigkeit richtet. Es ist zudem überaus überzeugend, das Funktionieren des neuen Säkularismus am Beispiel der Verhandlungen der Laizität in Frankreich nachzuvollziehen. Denn Laizität ist im republikanischen Selbstverständnis tief verankert, über ihre Bedeutung wird im Kontext der Kopftuchfrage seit Jahren heftig gestritten. An einigen Stellen werden bestimmte Momente der Debatte in Frankreich für Nicht-Frankreich-Kenner vielleicht etwas zu rasch zusammengefasst, so beispielsweise die (heteronormative) Stilisierung des „galanten Spiels“ zwischen den Geschlechtern zum französischen Nationalcharakter. Hier hätte es sich gelohnt, etwas weiter auszuholen, um den Punkt des Voluntarismus, der freiwilligen Unterwerfung der Französin – in Abgrenzung zur unterdrückten Muslima – etwas deutlicher zu machen. Der Überzeugungskraft von Scotts Argumentation tut dies jedoch keinen Abbruch und ist sicherlich dem Format des pointierten Essays geschuldet. Es bleibt auf die schnelle Übersetzung der Monografie zu hoffen und in der Zwischenzeit dem kleinen Band eine breite, über den akademischen Kontext hinausreichende Wahrnehmung zu wünschen. Gerade in den aktuellen Verhandlungen über postkoloniale Migration und den Islam im christlich-säkularen Europa sind die hier formulierten Einsichten dringend notwendig.

Anmerkungen:
1 Joan Wallach Scott, Only Paradoxes to Offer. French Feminists and the Rights of Man, Harvard 1996.
2 Dies., Parité. Sexual Equality and the Crisis of French Universalism, Chicago 2005.
3 Dies., The Politics of the Veil, Princeton 2007.

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