C. Hardinghaus: Ferdinand Sauerbruch und die Charité

Titel
Ferdinand Sauerbruch und die Charité. Operationen gegen Hitler


Autor(en)
Hardinghaus, Christian
Erschienen
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Udo Schagen, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin

Kein anderer deutscher Mediziner ist mit Leben und Werk so gut erforscht wie Ernst Ferdinand Sauerbruch (1875–1951). Von 1927 bis 1949 war er Ordinarius der Berliner Medizinischen Fakultät und Direktor der Chirurgischen Klinik der Charité. Seine Beliebtheit bei Patienten, sein charismatischer Vortrag, seine ärztlichen und wissenschaftlichen Verdienste und auch seine politische Nähe zum Nationalsozialismus waren nicht nur Gegenstand ungezählter Nachrufe und Zeitzeugenberichte, sondern auch wissenschaftshistorischer Monographien und Aufsätze. Ein weiterer Grund für die Dichte der Forschung zur Person war, dass ein als „Autobiographie“ vermarktetes Buch, in zehn Sprachen übersetzt, eine Millionenauflage erreichte und zahlreiche Mythen über ihn begründete, obwohl es weder von ihm geschrieben noch autorisiert worden war.1

Umso mehr überrascht, wenn nun Verlag und Autor ein Buch ankündigen, in dem vollständig Neues über Sauerbruch berichtet werden soll, insbesondere über sein Verhältnis zum nationalsozialistischen Staat. Der Autor, Christian Hardinghaus, geht von der These aus, dass Sauerbruch zu Unrecht als „Dulder, dann als […] Befürworter der Nazis“ und heute bereits als „NS-Täter“ dargestellt werde (S. 18). Diese Behauptungen seien anzuzweifeln, da lediglich „drei kurze kritische Texte“ und ein Lexikonartikel auf diese Fragestellung eingingen.2 Es werde Zeit, “genau aufzuschlüsseln“, ob dem Chirurg politische Nähe zum Nationalsozialismus vorgeworfen werden könne. „Dies solle nun umfangreich wie nie zuvor und ein für alle Mal geklärt werden.“ „Bisher nicht beachtete Quellen“ würden das Bild des Ferdinand Sauerbruch gänzlich neu beleuchten und aufzeigen, wie aktiv dieser gegen die Nazis „operierte“, kämpfte und wer ihn dabei unterstützt habe (S. 22/23). Stützen werde er sich, weil „bisher nicht beachtet“, vor allem auf drei Werke: Die Erinnerungen des jüdischen Chirurgen Rudolf Nissen3, die Biographie des Spions Fritz Kolbe 4 und ein von ihm so bezeichnetes Tagebuch des elsässischen Chirurgen Adolphe Jung.5

Nissen hatte über zwölf Jahre als Assistent, Oberarzt und Stellvertreter Sauerbruchs gearbeitet. Er emigrierte 1933 nach Istanbul, zunächst gegen den Rat, aber dann doch mit Sauerbruchs Unterstützung, und widmete seinem Lehrer 1969 ein fast 40-seitiges Kapitel voller Bewunderung für dessen faszinierende Persönlichkeit, seine großen Verdienste, seine Vortragskunst, seine glänzenden Schriften, das von den Kranken in ihn gesetzte unbegrenzte Vertrauen etc. Aber Nissen berichtet auch von Sauerbruchs morbid nationalistischer Überheblichkeit und den gravierenden politischen Vorwürfen seiner Nähe zu Nationalsozialisten am Beispiel der Mitunterzeichnung des „Bekenntnis[ses] der Professoren […] zu Adolf Hitler“ im November 1933. Noch kritischer kommentiert Nissen, dass keiner der mit Sauerbruch Anwesenden bei einem Vortrag über Versuche an KZ-Insassen protestiert habe. Es sei möglich, „daß die amoralische und sadistische ‚Führerschicht‘“ Experimente befürwortete, um dem „im Existenzkampf stehenden Heere zu helfen“. Es sei aber „undenkbar, daß nicht jeder Mensch die Mißhandlung eines Wehrlosen, seine grausame Tötung und Verstümmelung als das empfindet, was es ist: als ein Verbrechen“. Hardinghaus, der die Autobiografie Nissens als „wertvollste veröffentlichte Quelle“ bezeichnet (S. 23) und der sich ausdrücklich auf Nissen beruft, geht in seiner Darstellung auf dessen kritische Beurteilung Sauerbruchs nicht ein, nimmt sie nicht einmal zur Kenntnis. Das ist schon deshalb erstaunlich, weil Nissens Werk im Gegensatz zur Behauptung von Hardinghaus als Standardwerk breite Beachtung fand. Damit zeichnet er nicht nur von Sauerbruch, sondern auch von Nissen ein falsches Bild. Nach Hardinghaus sei die Publikation zu Fritz Kolbe ebenfalls nicht beachtet worden. Ein kurzer Blick ins Internet hätte ihn vor dieser Einschätzung bewahrt. Kolbe war zwar eng mit Sauerbruchs Sekretärin befreundet. Sauerbruch wusste von Kolbes Kontakten zu den Alliierten, transportierte sogar Briefe für ihn, war aber nie, wie Hardinghaus ohne Beleg schließt, Akteur in der Spionage.

Die Aufzeichnungen Adolphe Jungs über seine Zeit von 1942–1945 an der Seite Sauerbruchs standen bisher der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung. Der Autor bezeichnet Jungs Aufzeichnungen als „imponierendste und bedeutendste aller Quellen“. Das „Tagebuch“ habe ihm „exklusiv“ zur Verfügung gestanden (S. 23). Die Frage, ob es sich um ein solches handelt, belegt er nicht, ist aus quellenkritischer Sicht aber nicht unwichtig. Die Herausgeber schreiben in der Einleitung: „Grundlage der Edition sind handschriftliche Aufzeichnungen Adolphe Jungs, die er in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Heften und Notizbüchern niederlegte.“ Der Bericht Jungs ist also kein „Tagebuch“, sondern ist nach dem Krieg für die Familie und möglicherweise zu seiner Rechtfertigung vor einer französischen Kommission zur Untersuchung von Kollaborationsvorwürfen verfasst worden.

Was aber berichtet Jung Neues zu Sauerbruch? Für dessen Persönlichkeit gibt er eine ähnliche Charakterisierung, wie Nissen dies für die zwölf Jahre vor 1933 getan hat, und erwähnt die seit langem bekannten Hilfen Sauerbruchs für Verfolgte sowie auch dessen deutliche Kritik an Ereignissen während des Zweiten Weltkrieges. Nur wird Sauerbruch dadurch aber nicht zum grundsätzlichen Gegner des Nationalsozialismus. Sogar der Auffassung Jungs, Sauerbruch habe über den Versuch des Attentats auf Hitler „Bescheid gewusst, ohne daran beteiligt gewesen zu sein“, steht die Auffassung von Sauerbruchs Frau Margot entgegen, wenn sie von einer Begegnung mit Widerständlern des 20. Juli berichtet: „Mein Mann war sehr befreundet mit Popitz, das war einer seiner besten Freunde […], er war wahnsinnig national und auf diesem Boden haben sie sich gefunden.“ Beim Geburtstag Sauerbruchs, am 3. Juli 1944, berichtete sie zwar, dass Beck, Popitz, Hassel, Jessen etc. bei ihm waren – aber auch: „Sauerbruch wusste nichts […] sie wollten ihn nicht einbeziehen.“ Sie und ihr Mann hätten zusammen auf der Terrasse gesessen. Die Herren hätten Sauerbruch nicht als Mitwisser belasten wollen.6

Ähnlich fahrlässig wie mit seinen „neuen“ Quellen geht Hardinghaus mit der Literatur um, die nach seiner Auffassung als Quellen für eine Verurteilung Sauerbruchs als „NS-Täter“ dienen. In keiner der zitierten Arbeiten wird Sauerbruch tatsächlich als „NS-Täter“ charakterisiert. Kudlien und Andree haben zwar bereits 1980 mit W. Sontheimer von Sauerbruchs in letzter Konsequenz antidemokratischer Haltung und der Sympathie des immerhin schon 48-Jährigen mit dem Hitler-Ludendorff-Putsch im November 1923, seinem „Offenen Brief an die Ärzteschaft der Welt“ im November 1933, in dem er die „harten und schweren Eingriffe“ als „Grundlage einer Wiedergeburt unseres unwürdig behandelten und zurückgesetzten Volkes“ verteidigte, berichtet; seinem Einsatz für verfolgte Juden und seiner intern wiederholt geäußerten Kritik stünden „jedoch seine bis zum Ende des Krieges andauernde Bereitschaft zum offiziellen Mitmachen, seine uneingeschränkte Verfügbarkeit gegenüber“. Noch im März 1939 hatte Sauerbruch als Hauptredner einer Tagung mit 15.000 Teilnehmern die Schaffung „einer wahrhaft durchgreifenden Gesundheitspolitik“ durch die „nationalsozialistische Bewegung“ gelobt. Sauerbruch, so Kudlien schon 1970, erweise sich letztlich als „schwankender, differenzierter Bejaher“ des Nationalsozialismus.

Die Lobeshymnen Sauerbruchs auf den Führer und den Nationalsozialismus, die ausgestrahlten Tondokumente seiner Reden vom Oktober 1933, vom November 1933 und noch vom Januar 1938 sind erhalten. Obwohl Hardinghaus die diese Reden enthaltenden Arbeiten kennt, zitiert er daraus nur Ausschnitte und die Rede von 1938 erwähnt er gar nicht. Da bezog sich Sauerbruch immer noch ausdrücklich auf den „9. November 1923, wo die erste nationale Machtprobe scheiterte und Enttäuschung und Verzweiflung unsere Hoffnungen begruben“. Er fuhr fort: „Nun kam das Jahr 1933 – mit ihm die entscheidende Wendung für unser Vaterland durch den Führer.“

Alle Forschungsanträge zur Medizin und zur Rassenhygiene, auch die zu Menschenversuchen in Konzentrationslagern, mussten über den Tisch von Sauerbruch als Fachspartenleiter Medizin im Reichsforschungsrat gehen; er war für ihre Bewilligung verantwortlich. Dies verschweigt Hardinghaus zwar nicht, aber er diskutiert drei geförderte Versuchsreihen, die Senfgas-Experimente in Natzweiler, Mengeles Infektionsexperimente und die Zwillingstötungen in Auschwitz-Birkenau zur „Gewinnung“ präparierter Augen nur, um zu dem Schluss zu kommen, dass aus den Anträgen nicht hervorgegangen sei, dass die beantragten „Versuche mit menschlichem Leid verbunden“ gewesen seien. Nicht zur Kenntnis genommen hat Hardinghaus hierzu das einschlägige Standardwerk Wolfgang U. Eckarts, in dem diskutiert wird, wie wahrscheinlich es ist, dass der oberste Medizin-Forschungsbeauftragte des Reiches mit seinem exzellenten Netzwerk ins Militär und die Ministerien nichts von den Menschenversuchen gewusst haben sollte.7 Auch Eckart verurteilt Sauerbruch nicht als „NS-Täter“, sondern schreibt, er habe sich auf eine bisweilen schwer verständliche, bisweilen sogar unerträgliche Weise mit den jeweiligen politischen Machthabern arrangiert.

Jede Beurteilung einer zeitgeschichtlichen Person aus hinterlassenen Dokumenten ihr nahestehender Zeitzeugen hat ihre bekannten Schwierigkeiten. Bei Sauerbruch allerdings stehen dem Interessierten darüber hinaus zahlreiche von Sauerbruch selbst autorisierte Dokumente als Quellen zur Verfügung. Dass diese bei einer Einschätzung seiner Nähe zum Nationalsozialismus das größte Gewicht haben, sollte selbstverständlich sein. Die Bezeichnung des Buches durch den Verlag als „erste umfassende Biografie des bedeutenden Chirurgen“ muss angesichts nicht mitgeteilter neuer Erkenntnisse als nicht überzeugend angesehen werden.

Anmerkungen:
1 Ferdinand Sauerbruch, Das war mein Leben, Bad Wörishofen 1951.
2 Fridolf Kudlien / Christian Andree, Sauerbruch und der Nationalsozialismus, in: Medizinhistorisches Journal (1980), S. 201–221; Ernst Klee, Das Personenlexikon des Dritten Reiches, Augsburg 2005, S. 520f.; Marc Dewey u.a., Ernst Ferdinand Sauerbruch and His Ambiguous Role in the Period of National Socialism, in: Annals of Surgery 244 (2006), S. 315–321, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1602148/ (13.03.3019); dies., Ernst Ferdinand Sauerbruch und seine ambivalente Rolle während der Zeit des Nationalsozialismus, in: Deutsche Gesellschaft für Chirurgie - Mitteilungen (2006), 4, S. 325–333; Wolfgang U. Eckart, "Der Welt zeigen, daß Deutschland erwacht ist ...". Ferdinand Sauerbruch und die Charité-Chirurgie 1933–1945, in: Sabine Schleiermacher / Udo Schagen (Hrsg.), Die Charité und das Dritte Reich. Zur Dienstbarkeit medizinischer Wissenschaft im Nationalsozialismus, Paderborn 2008, S. 189–206.
3 Rudolf Nissen, Helle Blätter – dunkle Blätter. Erinnerungen eines Chirurgen, Stuttgart 1969.
4 Lucas Delattre, Fritz Kolbe. Der wichtigste Spion des Zweiten Weltkriegs, München 2004.
5 Susanne Michl / Thomas Beddies / Christian Bonah (Hrsg.), Zwangsversetzt. Vom Elsass an die Berliner Charité. Die Aufzeichnungen des Chirurgen Adolphe Jung, 1940–1945, Berlin 2019.
6 Margot Sauerbruch als Zeitzeugin wörtlich bzw. dem Sinne nach im Film des SFB, „Zwischen Geist und Gewalt - Die Berliner Mittwochsgesellschaft“, ausgestrahlt am 20. Januar 1985. Für diese Information danke ich der Regisseurin und Drehbuchautorin Dagmar Wittmers vom 28. Februar 2019.
7 Wolfgang U. Eckart, Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folgen, Wien 2012, S. 263, S. 291, S. 298f., S. 301; ders., Ferdinand Sauerbruch – Meisterchirurg im politischen Sturm. Eine kompakte Biographie für Ärzte und Patienten, Wiesbaden 2016, S. 32–37.

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