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Titel
Hitlers Hofstaat. Der innere Kreis im Dritten Reich und danach


Autor(en)
Görtemaker, Heike B.
Erschienen
München 2019: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
527 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Schroeter, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Mit dem Aufstieg der Neueren Kulturgeschichte und ihrem Interesse an der Erinnerungsforschung erschienen auch zum Nationalsozialismus neue Täterbiografien. Neben dem offenbar unerschöpflichen Interesse an der Person Hitlers, das nach der epochalen Analyse Ian Kershaws sowohl von Volker Ullrich als auch von Peter Longerich und Wolfram Pyta neu bedient wurde1, gerieten auch seine Paladine ins Visier – zuletzt vor allem Albert Speer und die Rezeption seiner Werke mit den darin transportierten Mythen und Narrativen.2 Bahnbrechende Kollektivbiografien analysierten die Generäle und Feldherren des Vernichtungskriegs im Osten sowie das Führungskorps des RSHA als zentrale Tätergruppe des Holocausts und „Generation des Unbedingten“.3

Eine neue Gruppe untersucht Heike B. Görtemaker mit Hitlers Hofstaat, dem sie bereits in ihrer Biografie Eva Brauns ein Kapitel gewidmet hatte. Basierend auf den Memoiren der Mitglieder untersucht sie den „inneren Kreis“ um Hitler von dessen Anfängen über das „Dritte Reich“ bis zu seinem Nachwirken in der Bundesrepublik. Dabei beschreibt sie den Funktionswandel vom „Kreis für Hitler“ zum „Kreis um Hitler“, der selbst als „Kreis ohne Hitler“ in romantischer Verklärung der Vergangenheit weiterbestand. Im Zentrum ihrer Darstellung stehen die sechs Jahre auf dem Berghof. Vielen Mitgliedern ging es wie der Köchin Therese Linke: „Wenn ich heute so nachdenke über diese Zeit damals und welches Ende sie genommen hat, […] dann kommt es mir vor, als ob ich die sechs Jahre nur geträumt hätte.“ (S. 155)

Görtemaker beschreibt zunächst den ersten Unterstützerkreis des noch unbekannten Hitlers mit der Gruppe der Leibwächter, Schläger und Chauffeure des „Stoßtrupp Hitler“ wie Wilhelm Brückner, Julius Schreck und Julius Schaub, seinen ersten Propagandachef Hermann Esser und den Hoffotografen Heinrich Hoffmann, die später als „Ersatzfamilie“ auf dem Berghof fungierten und dort von Martin Bormann, den Leibärzten Theodor Morell und Karl Brandt sowie Hitlers Chefpilot Hans Baur und den Sekretärinnen ergänzt wurden. Daneben untersucht Görtemaker die vielfach unterschätzte Rolle von Frauen wie der Verlegergattin Elsa Bruckmann und Helene Bechstein, Ehefrau des bekannten Klavierfabrikanten, die Hitler neben Geld, Fahrzeugen und vorzeigbaren Wohnungen auch mit dem notwendigen gesellschaftlichen Schliff versahen und den Zugang zum gehobenen Bürgertum und der Schwerindustrie ermöglichten. Hinzu kamen Aktivistinnen wie Ilse Pröhl und Magda Quandt, die späteren Ehefrauen von Rudolf Heß und Joseph Goebbels.

Mit dem Aufstieg der NSDAP wurden zentrale Positionen mit hochkarätigeren Fachleuten besetzt, ohne dass diese aber automatisch in den privaten Kreis um Hitler hineinwuchsen. Zu dessen Privilegien gehörten großzügige Schenkungen und für Speer, Bormann, Hoffmann und Schaub auch die prestigeträchtige und gut dotierte Mitgliedschaft im ansonsten bedeutungslosen Reichstag (S. 302). Heinrich Hoffmann formte nicht nur das Bild Hitlers in den Medien, sondern begleitete auch Joachim von Ribbentrop als kritischer Beobachter bei dessen Verhandlungen zum Hitler-Stalin-Pakt nach Moskau. Kurz vor Kriegsende wurde die „Ersatzfamilie“ mit falschen Papieren ausgestattet, was einigen zeitweise das Untertauchen vor den Siegern ermöglichte.

Etwas knapp gerät mit nur 50 Seiten der im Klappentext als „Pionierarbeit“ angekündigte dritte Teil des „Kreises ohne Führer“. Bei Kriegsende gerieten viele seiner subalternen Adjutanten, Diener und Fahrer in sowjetische Gefangenschaft, wo sie oft unter Gewalt nach allen Details ihres Führers befragt wurden und teilweise sehr erfindungsreich antworteten. Die Mitglieder der Regierung Dönitz und weitere Versprengte des Berghofes wurden von den Westalliierten festgenommen. Auch sie präsentierten sich in den Verhören als überzeugte Anhänger Hitlers, die in der Regel nichts gewusst haben wollten von den Massenverbrechen. Glimpflich kamen neben den Ehefrauen und Sekretärinnen des Berghofkreises Hermann Esser und Heinrich Hoffmann davon, der sein umfangreiches Fotoarchiv den amerikanischen Anklägern zur Verfügung stellte. Lediglich Karl Brandt wurde wegen seiner Verantwortung für Menschenversuche und das Euthanasieprogramm im Ärzteprozess 1948 hingerichtet. Als sein Name auf dem Grab durch eine anonyme Nummer ersetzt wurde, nannte Hitlers ehemalige Sekretärin Christa Schroeder die Alliierten die „wahren Täter“ (S. 363). Dies war typisch für die damals nicht nur in der Berghofgesellschaft häufige, von Görtemaker aber nicht so benannte Selbstviktimisierung.

Für die Nachkriegsentwicklung des Kreises betont Görtemaker drei wichtige Entwicklungen: Erstens entwickelten die Beteiligten nach ihrer Festnahme aus Angst vor Strafverfolgung Umdeutungen und Deckerzählungen, in denen sich ihre persönliche Unwissenheit und Unschuld an den Massenverbrechen aus der alleinigen Entscheidungsgewalt des Führers ableiteten, der sie nie über seine wirklichen Ziele und Pläne informiert habe. Gleichzeitig blieben die meisten der NS-Ideologie treu und hatten Kontakte zum rechtsradikalen „Naumann-Kreis“ und zu in Südamerika untergetauchten Nationalsozialisten und SS-Mitgliedern. Diese Kontinuität und Solidarisierung des Kreises zeigt sich drittens auch in der Erinnerungsliteratur. Sie wurde in der Regel mithilfe von Journalisten und Historikern verfasst und fand als Quelle Eingang in historische Darstellungen. Damit habe „die Geschichtswissenschaft ihre[n] Entlastungserzählungen […] zu wissenschaftlicher Seriosität verholfen“ und die Akteure erlangten „eine Deutungsmacht über ihre eigene Geschichte, die bis heute nachwirkt“ (S. 376).

Görtemakers Stärken liegen im Aufspüren und Zusammenführen von Zeugnissen des „inneren Kreises“. Auf breiter Quellenbasis erweitert sie den Blick auf Hitlers Entourage und auf neue Facetten seines Privatlebens und entlarvt die Legende vom einsamen Wolf und seinem selbstgeschaffenen Aufstieg. Doch ist zu fragen, wie relevant der Erkenntnisgewinn dieser subalternen „Schlüssellochperspektive“, die von ehemaligen Mitgliedern des „Hofstaates“ in Memoiren, unzähligen Interviews und Dokumentarfilmen geschildert und von der breiten Öffentlichkeit immer noch gerne gesehen wird, wirklich ist. Das von Hoffmann geprägte idyllische Bild des Landesvaters Hitler auf dem Berghof stellt zudem – von Görtemaker nicht thematisiert – auch heute noch die primäre Bildquelle unzähliger TV-Dokumentationen dar, eindrucksvoll ergänzt durch Farbfotos und Farbfilme seiner früheren Laborantin Eva Braun beim Sonnenbaden und Skifahren. Diese unschuldig friedliche Perspektive wurde vom „Kreis ohne Hitler“ auch nach Kriegsende aufrechterhalten, um die ungeheuren NS-Verbrechen zu vertuschen.

Die Analyse des Nachwirkens des „inneren Kreises“ bleibt bei Görtemaker allerdings oft oberflächlich. Hier hätte man sich eine ausführlichere Untersuchung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den oft nur Hitler verklärenden Memoiren wie der von seiner Sekretärin Christa Schroeder oder des Luftwaffenadjutanten Nicolaus von Below, den erfolgreichen Distanzierungskonstruktionen von Albert Speer und den Generalsmemoiren der 1950er-Jahre wie Erich von Mansteins Verlorene Siege oder Adolf Gallands Die Ersten und die Letzten gewünscht. In deren Rechtfertigungsschriften wurde Hitler die Schuld am verlorenen Krieg zugeteilt und die Generation der Kriegsteilnehmer, Täter und Mitläufer genauso entlastet wie durch Peter Bamms Bestseller Die unsichtbare Flagge. Erst die Nachkriegsprozesse und schließlich die TV-Serie „Holocaust“ brachten das Kernverbrechen des „Dritten Reiches“ ins Bewusstsein der nächsten Generation.

Insgesamt legt Görtemaker eine quellengesättigte Studie vor, deren „Schlüssellochperspektive“ auf den „inneren Kreis“ um Hitler ein breites Publikum mit neuen Erkenntnissen anspricht. Wegen der verkürzten Analyse der Erinnerungsliteratur und ihrer Medialisierung bleibt ihr Beitrag zum Gesamtverständnis des „Dritten Reiches“ jedoch begrenzt.

Anmerkungen:
1 Volker Ullrich, Adolf Hitler. Die Jahre des Aufstiegs 1889-1939, Frankfurt am Main 2013; ders., Adolf Hitler, Die Jahre des Untergangs 1939-1945, Frankfurt am Main 2018; Peter Longerich, Hitler. Biografie, München 2015; Wolfram Pyta, Hitler. Künstler als Politiker und Feldherr, München 2015.
2 Zuerst Isabell Trommer, Rechtfertigung und Entlastung. Albert Speer in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2016. Umfassend Magnus Brechtken, Albert Speer. Eine deutsche Karriere, München 2016. Rein biografisch Martin Kitchen, Speer. Hitler’s Architect, New Haven 2016. Wolfgang Schroeter, Albert Speer. Aufstieg und Fall eines Mythos, Paderborn 2019, deutet den Rezeptionswandel durch den Generationswechsel.
3 Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamts, Hamburg 2002; Johannes Hürter, Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2006.

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