Dass auch Richterinnen und Richter Gefühle haben, wird niemand bestreiten wollen. Unklarheit besteht allerdings darüber, ob und wie sich diese richterlichen Gefühle zu Urteilsfindung und Gerichtspraxis in Bezug setzen lassen. Die vorliegende Studie von Sandra Schnädelbach, eine an der Freien Universität Berlin angenommene Dissertation aus dem emotionsgeschichtlichen Forschungsschwerpunkt des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, nähert sich dem Problem aus historischer Perspektive. Sie untersucht die Konjunktur, welche die Rede von einem spezifischen „Rechtsgefühl“ der Richterschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik erlebte, und sie fragt danach, wie die hergebrachten Dichotomien von Emotionalität und Rationalität, Affekt und Kontrolle innerhalb der Sphäre des Rechtlichen neu ausgehandelt und transzendiert wurden.
Schnädelbach organisiert ihr Thema in vier Hauptteilen: Auf eine ausführliche Begriffsklärung (Kapitel 2) folgt eine Betrachtung der Auseinandersetzung mit dem Rechtsgefühl in seiner wissenschaftlichen wie richterlichen Anwendung (Kapitel 3); weiter wird die Herausbildung einer entsprechenden emotionalen Ausstattung als Sozialisationsfrage untersucht (Kapitel 4) und schließlich der Stellenwert des Rechtsgefühls in der eigentlichen Gerichtspraxis erörtert (Kapitel 5). Das ist ein breites und etwas diffuses Panorama, dessen Erschließung aber auch deshalb gelingt, weil es der Untersuchung, wie vielen Studien der Emotionsgeschichte, weniger um tatsächliche Gefühle als um deren diskursive Thematisierung geht. Denn während erlebte Affekte und innere Regungen meist flüchtig sind und sich in den Quellen kaum klar fassen lassen, hat das strukturierte Nachdenken über das Rechtsgefühl innerhalb der Jurisprudenz eine gut erkennbare Spur hinterlassen. Schnädelbach greift vorwiegend auf zeitgenössische rechtswissenschaftliche Schriften zurück, daneben auf Autobiographien, Rhetoriklehrbücher und die allgemeine Publizistik sowie fallweise auf Akten des Preußischen Justizministeriums zu Personalsachen und Disziplinarverfahren.
Zu welchen Befunden gelangt die Studie? Zunächst bestätigt sie die intuitive Erwartung, dass die Debatte um das Rechtsgefühl seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer auch eine Auseinandersetzung um den Stellenwert des Emotionalen in der modernen Gesellschaft war und sich um die Möglichkeiten seiner rationalen Erfassung und Einordnung drehte. Zwar blieben Versuche einer naturwissenschaftlichen Ergründung und physiologischen Vermessung letztlich nur Randphänomene, aber die Frage, welche Bedeutung dem Rechtsgefühl in der Bestimmung des Normativen zukam, war eine ungeklärte Frage, der sich in Deutschland unterschiedliche Disziplinen annahmen, darunter nicht zuletzt die aufsteigende Soziologie. Nachdem die Historische Rechtsschule bereits das Recht als ein „mehr oder weniger dunkles Gefühl“ (S. 99) des Volks betrachtet hatte, war es innerhalb der Jurisprudenz vor allem die „Freirechtsbewegung“, welche dem „wertenden Fühlen“ (S. 116) einen größeren Raum zugestehen wollte. In der Tat sorgte man sich in der Richterschaft angesichts einer regen Gesetzgebungstätigkeit zunehmend um die notwendigen Ermessensspielräume des Urteilens. Trotz der Normenflut des modernen Staates sei ein „gesunder Menschenverstand“ wachzuhalten, so eine der gängigen Vorstellungen, und für die Anwendung des Rechts sei das Urteilsgefühl des Richters letztlich wichtiger als buchstabengetreue Subsumtionen.
Das in solchen Annahmen vorausgesetzte Abwägungsvermögen, ein auf Takt und Instinkt gegründetes Verständnis für zwischenmenschliche Interaktion, verweist auf den außerberuflichen Hintergrund der Richterschaft. Es überrascht nicht, dass es sich weit überwiegend um Männer bürgerlicher Herkunft handelte, bildungs- und leistungsorientiert, staatsnah, im Kaiserreich meist noch monarchieloyal, in der Republik eher demokratieskeptisch. Schnädelbach geht es allerdings weniger um Fragen der Elitenbildung, der sozialen Selbstrekrutierung oder gar der „politischen Justiz“, welche die Forschung lange Zeit intensiv beschäftigt haben, sondern um die Bedeutung bürgerlicher Sozialisationsbedingungen für das richterliche Selbstverständnis. Die zentrale Erwartung an die Richterschaft, so wird anhand zeitgenössischer Literatur und Selbstzeugnisse plausibel aufgezeigt, war die Befähigung zur Kontrolle der eigenen Emotionen als Voraussetzung für eine unparteiische, unabhängige und zugleich gerechte Entscheidungsfindung. Der Richter sollte ein emotionaler „Gleichgewichtskünstler“ (S. 196) sein, der zwar Recht und Ordnung zu repräsentieren habe, dem aber nichts Menschliches fremd sei oder der zumindest nicht weltfremd sein dürfe.
Diese Befähigung zu einer herausgehobenen emotionalen Selbstführung jenseits des Haders der Streitparteien musste zu verschiedenen Seiten abgegrenzt werden. Einerseits war die Erwartung einer besonderen Schwingungsfähigkeit nicht so einfach mit den Geschlechterstereotypen einer Zeit in Übereinstimmung zu bringen, die Frauen gemeinhin eine größere Emotionalität und Feinfühligkeit zuschreiben wollte. Es kostete die zeitgenössischen Autoren einige waghalsige Argumentationen, um das Rechtsgefühl als exklusiv männliche Domäne zu behaupten; zum Richteramt wurden Frauen in Deutschland erst 1922 und gegen beträchtliche Widerstände zugelassen. Andererseits erwuchsen der Richterschaft in den Anwälten, deren Zahl nach Freigabe der Advokatur 1878 beträchtlich anstieg, zunehmend selbstbewusste Gegenspieler. Diesem Konkurrenzverhältnis widmet Schnädelbach ein vielleicht zu knappes Unterkapitel, kommt aber in ihrer nachfolgenden Betrachtung der Gerichtspraxis an einigen Stellen ausführlicher auf die richterliche Abgrenzung vom Stand der Rechtsanwälte zu sprechen. Die Sorge vor einer manipulativen Emotionalisierung von Gerichtsverfahren durch die Anwälte saß tief, so wird jedenfalls deutlich, und es liegt nahe, dass in der Richterschaft insbesondere theatralische Auftritte im Mandanteninteresse gefürchtet wurden.
Daneben zeichnet sich Schnädelbachs Rekonstruktion der emotionalen Praxis im Gerichtssaal vor allem durch eine sorgfältige Aufmerksamkeit für meist als selbstverständlich übergangene Aspekte aus. Über den Einfluss von Tonfall, Miene und physischer Präsenz des Richters auf die Prozessführung ist aus historischer Sicht noch wenig nachgedacht worden. Wie Schnädelbach aufzeigt, galt die Stimme als „der wichtigste Marker für die richterliche Gefühlshaltung“ (S. 295), wobei zeitgenössische Handbücher zunehmend von einem militärisch-schneidigen Tonfall abrieten und eine menschlich-verstehende Stimme empfahlen. Gleichfalls instruktiv sind die Ausführungen über die Haltung der Richterschaft zur Öffentlichkeit. Nicht nur der Aufstieg der Massenmedien und die nationale Aufmerksamkeit für spektakuläre Prozesse, sondern auch die vielfach diagnostizierte „Vertrauenskrise der Justiz“ in der Weimarer Republik forderte dazu auf, in neuartiger Weise über die öffentliche Wahrnehmung des eigenen Standes nachzudenken. An die Stelle einer unergründlichen Abschließung von den übrigen Prozessteilnehmern sollten die Richter, zumindest in einem moderaten Rahmen, nunmehr ihre innere Bewegtheit erkennen lassen, um der Entfremdung der Gesellschaft von einer seelenlosen „Justizfabrik“ entgegenzuwirken; zugleich war ein solches Nachdenken über die Performanz der richterlichen Gefühle die notgedrungene Reaktion auf eine Zeit, in der, wie ein Berliner Amtsgerichtsrat beklagte, „die Öffentlichkeit […] zum Richter des Richters“ (S. 340) geworden sei.
Insgesamt hat Sandra Schnädelbach eine gelungene Studie vorgelegt, die einen wenig beachteten Diskussionsstrang in der rechtswissenschaftlichen Literatur und richterlichen Selbstbespiegelung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik gekonnt freilegt. Sicherlich wäre hier und da mehr Konkretion wünschenswert gewesen, um die dargestellten Entwicklungstendenzen anhand greifbarer Protagonisten, Institutionen oder Ereignisse weiter zu veranschaulichen; stellenweise gleitet die Argumentation etwas zu mühelos auf den Quellen voran, ohne dass deren Kontexte mitsamt ihren unweigerlichen Widersprüchlichkeiten wirklich in den Blick geraten. Die vorrangige Konzentration auf die diskursive Verfertigung des Rechtsgefühls erklärt vielleicht auch die bedauerliche Entscheidung von Autorin und Verlag, auf einen Index zu verzichten. Trotzdem bietet das Buch viele Anregungen für weitergehende Überlegungen. Wer sich für eine scharfsinnige Zusammenführung von Rechts- und Emotionsgeschichte interessiert und eine originelle Perspektive auf die deutsche Justizgeschichte werfen möchte, sollte es zur Hand nehmen.