Cover
Titel
Vor Achtundsechzig. Der Kalte Krieg und die Neue Linke in der Bundesrepublik und den USA


Autor(en)
Frey, Michael
Reihe
Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 26
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
472 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Bebnowski, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Als der Journalist Eckart Spoo (1936–2016) im Jahr 2008 gebeten wurde, sich an 1968 zu erinnern, bekannte er, es „nicht als Jahr des Aufbruchs, [sondern] eher als Jahr des Niedergangs erlebt“ zu haben.1 Prägend waren für Spoo die damals rund zehn Jahre zurückliegenden Aktivitäten der westdeutschen Anti-Atom-Bewegung, wegen derer er sich als „58er“ begriff. Diese „58er“ sind es unter anderem, die in Michael Freys transnationaler Studie mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland und die USA die Schlüsselakteure zur Erklärung von „Genesis und Geltung der transnationalen Protestbewegung“ (S. 12) verkörpern. Frey widmet sich damit dem in der breiten Forschungsliteratur zum Thema nach wie vor nicht selbstverständlichen Zusammenhang – einer Einbettung des linken Aktivismus der „langen sechziger Jahre“2 oder „Global Sixties“3 in aktivistische Spektren, die sich bereits seit den 1950er-Jahren entfalteten. Plakativ bedeutet das: „Die Neue Linke und die New Left gab es schon, lange bevor die ‚Greensboro Four‘ oder Rudi Dutschke überhaupt politisch aktiv wurden.“ (S. 168)

Michael Frey wurde für sein Werk, das auf einer 2017 an der Universität Jena eingereichten Dissertation basiert, 2019/20 mit dem Willy-Brandt-Preis für Zeitgeschichte ausgezeichnet.4 In der Tat liegt hier ein dichtes, anregendes und zugleich gut lesbares Buch vor, in dem viele lokale Details und Spezifika gekonnt das Hauptnarrativ eines Entstehens der Neuen Linken vor dem Hintergrund weltpolitischer Zusammenhänge stützen. Das breite Akteursgeflecht dieser Neuen Linken soll „als Teil einer Globalgeschichte des Kalten Krieges“ (S. 26) interpretiert werden. Frey navigiert sicher durch das Massiv der Sekundärliteratur. Ergänzt werden die Befunde durch mündliche Auskünfte und umfangreiches Quellenmaterial aus deutschen und amerikanischen Archiven. Teilweise wird dabei auch auf bisher unveröffentlichte Dokumente zurückgegriffen, wie die Memoiren des noch durch die Deutsche Jungenschaft vom 1. November 1929 („dj.1.11“) geprägten SDS-Vorstandsmitglieds und späteren Juristen, Politikwissenschaftlers und Aktivisten Jürgen Seifert (1928–2005). Eine Leistung des Buches ist es, mit Seifert und weiteren Aktivisten der Ostermärsche wie dem Quäker Konrad Tempel, dem niederländisch-amerikanischen Pazifisten Abraham J. Muste oder dem afroamerikanischen Bürgerrechtler Bayard Rustin in Westdeutschland und den USA Akteure ins Zentrum der Geschichte zu rücken, die zuvor – wenn überhaupt – am Rande verortet worden sind.

Gestützt auf dieses Quellenkorpus verkörpert 1968 für Frey den „Kulminationspunkt“ (Kap. V) langfristiger Entwicklungen, was gleichzeitig einen Kontrapunkt gegen das „Eruptionsparadigma“ (S. 22) setzt, in dem die Proteste der 1960er-Jahre zumeist auf 1968 und die Studentenbewegung seit 1966/67 verkürzt werden. Die Geschichte „Vor Achtundsechzig“ beginnt mit der Auflösung des ideologischen Konsenses des Kalten Krieges, der in den USA und in Westdeutschland die „bewusste ‚Eindämmung‘ des Kommunismus nach innen und nach außen“ bedeutete (S. 45, dortige Hervorhebung). Da sich linksliberale und sozialdemokratische politische Akteure in den USA und in der Bundesrepublik dieser politischen Stoßrichtung verschrieben hatten, wurde auch die unabhängige demokratische Linke vom antitotalitären Bannstrahl des Antikommunismus getroffen. In der Nachkriegszeit entstand deshalb ein „verbotener Raum“ links der Sozialdemokratie (Jürgen Seifert; vgl. S. 74).

Nicht alles an Freys Buch ist neu – und kann es bei dem breiten Forschungsstand auch nicht sein. Gerade deshalb ist die Leistung, die einzelnen Episoden gleichermaßen ausgewogen wie pointiert in einem originellen Narrativ miteinander zu verbinden, hoch zu bewerten. Nach den US-Atombombentests des Jahres 1954 wandten sich pazifistische Gruppen neuen Themen zu. Gleiches galt für Linkssozialisten und Kommunisten nach den Ereignissen des Schlüsseljahres 1956. Die Abnabelung der New Left von der Old Left sei durch Selbstverständigungsprozesse unter Intellektuellen eingeläutet worden, wie Frey in diversen neu entstandenen Publikationen wie der „Sozialistischen Politik“ oder der US-amerikanischen „Liberation“ nachzeichnet. Deutlich wird, dass hierbei sowohl in der Bundesrepublik als auch in den USA vielfach trotzkistische Gruppierungen eine zentrale Rolle spielten. Sie propagierten die vor allem in den USA zuvor geläufige Idee eines dritten Weges oder „Third Camps“, die schließlich von radikal pazifistischen Gruppen wie der in beiden Ländern aktiven und für die Ostermärsche wichtigen Internationale der Kriegsdienstgegner aufgenommen wurde (S. 130). Auftrieb erhalten habe die Idee eines dritten Weges nicht zuletzt durch die „Entdeckung“ der Dritten Welt nach der Konferenz von Bandung im Jahr 1955, die Dekolonialisierungsbestrebungen beförderte.

Diese Verkoppelung der Neuen Linken mit solchen weltpolitischen Wegmarken überzeugt durchaus. Allerdings lässt sich bei einer der Kernthesen des Buches, „[o]hne Kalten Krieg hätte es eine Neue Linke nicht gegeben“ (S. 25), die Frage stellen, ob die große Schablone des Kalten Krieges nicht etwas zu suggestiv und überwältigend wirkt und manche Unschärfe voraussetzt. Die Neue Linke wird beispielsweise nicht kohärent definiert; sie umfasst hier Angehörige ganz verschiedener Generationen und Strömungen, von Wolfgang Abendroth und Herbert Marcuse hin zu Jürgen Seifert und Tom Hayden. Zugleich lässt dieser generationenübergreifende Charakter der New Left den Befund einer Abnabelung der neuen von der alten Linken zweifelhaft erscheinen. Tatsächlich könnte man angesichts der vor allem während der 1960er-Jahre in Westdeutschland zu beobachtenden Fixiertheit auf linke Theorie und Geschichte fragen, ob hierin nicht der Versuch lag, abgebrochene linke Traditionen wieder aufzugreifen und zu aktualisieren.

Zu Beginn der 1960er-Jahre schließlich konstituierte sich eine „Frühe Neue Linke“ in den USA und der Bundesrepublik. Die Schilderungen machen allerdings implizit deutlich, dass der Autor die New Left vornehmlich als ein Projekt von dissidenten Sozialdemokraten und Linksliberalen fasst. Platz für kommunistische Dissidenten ist in Freys Erzählung kaum. Auch dieser Befund, der dem Vergleich zwischen den USA und der Bundesrepublik geschuldet ist, provoziert neue Fragen. Ein Blick auf Frankreich und Großbritannien, dessen „First New Left“5 unerwähnt bleibt, hätte wohl andere Ergebnisse hervorgebracht, nicht zuletzt mit Blick auf die intellektuellen Netzwerke der Neuen Linken und ihre (möglicherweise überschätzten) Gedankentransfers.

In den USA formierte sich die pazifistische Student Peace Union, die sich über die Idee des Third Camps zum wichtigsten Akteur der US-amerikanischen Neuen Linken aufschwang. Ein intellektuelles Forum bot die 1959 entstandene Zeitschrift „Studies on the Left“, die mit ihrer prononcierten Liberalismuskritik der Frankfurter Schule ähnelte (S. 196). In der Bundesrepublik schlug zeitgleich die Stunde der „Achtundfünfziger“, die sich auf die Aktivitäten der Studentenausschüsse gegen Atomrüstung in vielen Universitätsstädten stützten. Diese Gruppen, so Frey, trugen maßgeblich dazu bei, dass sich der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) zum Kristallisationspunkt der Neuen Linken entwickelte (S. 258).

Auf beiden Seiten des Atlantiks gerieten unter dem Einfluss der neuen linken Akteure nun die diskursiven Schemata des Kalten Krieges in Bewegung; der Konsensliberalismus und auch der militante Antikommunismus bekamen Risse. Im Zuge der Auseinandersetzungen mit der kubanischen Revolution in den USA und dem vielfach beschriebenen Trennungsprozess des SDS von der SPD verstieß die Old Left die New Left (Kap. IV). So verschränkte sich der Abnabelungsprozess der Neuen Linken ab etwa 1963 mit einer Phase der machtpolitischen Entspannung zwischen den Blöcken.

In diesem Klima sei eine „Wende nach innen“ erfolgt, eine verstärkte Beschäftigung mit innenpolitischen Themen (S. 355). Nun begann in den USA die Zeit des Civil Rights Movement mitsamt kalkulierter Regelverletzungen, die die rassistischen Zustände des Landes hinterfragten und so politisierend wirkten. In der Bundesrepublik vollzogen sich ähnliche Prozesse – hier jedoch vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit (S. 375). Frey zeigt vor allem am Beispiel des Mikrokosmos West-Berlin, etwa anhand verschiedener wichtiger Ausstellungen und der Pionierarbeit der Zeitschrift „Das Argument“, dass das Interesse an einem auch theoretisch fundierten Verständnis des „Faschismus“ aus dem „Zwang“ resultierte, „die durch die Totalitarismusdoktrin verursachten Diskursblockaden zu beseitigen“ (S. 398).

Damit landet man beim „Kulminationspunkt ‚Achtundsechzig‘“, der von einer markanten Ambivalenz gekennzeichnet ist. Zwar betont Michael Frey, dass sich die Proteste 1968 vor allem dort entwickelten, wo seit Jahren Netzwerke vorhanden waren. Man wünschte sich nun die fast folgerichtige Zuspitzung der Argumentation, die den Stellenwert von „1968“ – wie im einführenden Zitat Eckart Spoos – womöglich relativieren würde. Doch die Proteste dieser Jahre bleiben in Ausmaß und Intensität letztlich unhinterfragt: „Die New Left wurde für kurze Zeit der Kern einer umfassenden Bewegung, der Achtundsechzigerbewegung.“ (S. 407) Die Reibungsflächen, die an solchen und anderen Stellen dieses argumentativ überzeugenden, quellengesättigten und trotz aller darstellerischen Dichte stilistisch zugänglichen Buches entstehen, laden zu weiteren Forschungen ein.

Anmerkungen:
1 Eckart Spoo, Ich habe es anders erlebt, in: Ossietzky 8/2008, URL: <https://www.sopos.org/aufsaetze/48447bfc8a117/1.phtml.html> (13.10.2020).
2 Exemplarisch aus der breiten Literatur: Detlef Siegfried, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, 3., um ein Nachwort ergänzte Aufl. 2017.
3 Vgl. Chen Jian u.a. (Hrsg.), The Routledge Handbook of the Global Sixties. Between Protest and Nation-Building, London 2018.
4 Siehe URL: <https://willy-brandt.de/willy-brandt/forschung/willy-brandt-preis/> (13.10.2020).
5 Vgl. Michael Kenny, The First New Left. British Intellectuals after Stalin, London 1995.