Cover
Titel
Provokationen der Technikgeschichte. Zum Reflexionszwang historischer Forschung


Herausgeber
Heßler, Martina; Weber, Heike
Erschienen
Paderborn 2019: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
VI, 258 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eike-Christian Heine, Institut für Geschichtswissenschaft, Technische Universität Braunschweig

Provokationen sind laut Duden „Herausforderung[en], durch die jemand zu (unbedachten) Handlungen veranlasst wird oder werden soll“. Wer will hier wen zum Handeln veranlassen? Die Beitragenden des Bandes sind – bis auf die Leiterin eines Sammlungsbereichs am Technischen Museum Wien – Inhaberinnen und Inhaber von technikhistorischen Lehrstühlen sowie deren Mitarbeiterinnen. Wen sie herausfordern wollen, notieren Martina Heßler (Darmstadt) und Heike Weber (Berlin): erstens ihr eigenes Fach, das sich fragen müsse, „ob die bestehenden Methoden, Ansätze und interdisziplinären Kooperationen für derzeitige und zukünftige Forschungen noch ausreichen“. Zweitens wollen sie über enge Fachzusammenhänge hinaus wirken, auf „Wissenschaftler/innen anderer Disziplinen, […] die sogenannte ‚allgemeine‘ Geschichte und […] populäre Bilder und Vorstellungen von Technik“ (S. 4).

David Gugerli und Daniela Zetti (Zürich) erhoffen sich „von der Computergeschichte frischen Wind“ (S. 222). Computerentwicklung zeichnete sich durch „massive Erwartungsüberschüsse“ aus, die „stets wenig Geschichte und dafür umso mehr Zukunft“ angeboten hätten (S. 193). Solche Dimensionen „mit Wiederbelebungspotential für die Technikgeschichte“ würden vielfach nicht reflektiert, es dominierten stattdessen etwa „teleologische und technikdeterministische Argumentationen“ (S. 222). Freilich ignorieren die Autoren bei ihrer berechtigten Kritik technizistischer Narrative viele neue Geschichten des Digitalen, die ihren Untersuchungsgegenstand anders erschließen.1 Gugerli und Zetti fordern abschließend die Untersuchung von Computergeschichte in ihren Interdependenzen zur Wissensgeschichte und zu „soziotechnische[n] Verhältnisse[n]“ (S. 221). Zudem wollen sie jene „Kippmomente“ betrachten, „in denen historische Akteure von ihrem eigenen Tun überrascht sind“, und historische Projekte rund um Computer als „Aushandlungsplattformen der digitalen Gesellschaft“ analysieren (S. 222).

Ebenfalls die Technikgeschichte im Blick hat Ute Hasenöhrl (Innsbruck). Die Globalgeschichte der Technik gleiche „empirisch wie konzeptionell einem Flickenteppich“ (S. 180). Der Blick auf den globalen Süden produziere Area Studies, während der Fokus auf Netzwerke globaler Technik viele Akteure, Techniken und Regionen „durchs Netz fallen“ lasse (S. 181). Die Quellenlage sei oft schwierig, und es dominierten weiterhin Blicke, die von westlichen Traditionen vorstrukturiert seien. Hasenöhrls Antwort ist die konsequente Pluralisierung: Es brauche große Geschichten und zugleich regionale Mikrogeschichten, Analysen globaler Infrastrukturen und Studien zu Alltagstechniken sowie mehr Beiträge nicht-westlicher Historikerinnen und Historiker. An die Stelle des Vorhabens, „die Globalgeschichte der Technik schreiben zu wollen“, müsse das Ziel treten, „eine von vielen möglichen Globalgeschichten von Techniken zu verfassen“. Dies lade „zum Spiel ein mit den Sichtweisen und Ebenen, zu Bricolage und Experiment“ (S. 182).

Helmuth Trischler und Fabienne Will (München) skizzieren die interdisziplinäre Forschungslandschaft rund um das „Anthropozän“.2 Dieses Paradigma sei dazu geeignet, eine „inter- und transdisziplinäre Scharnierrolle zu übernehmen“ (S. 96). Analyse und Einordnung des in der Debatte stets zentralen Begriffs „Technik“ fordere das Fach Technikgeschichte zu Wortmeldungen auf. Hier müssten Kooperationen mit „Schwesterdisziplinen wie Umwelt- und Wissensgeschichte“ verstärkt sowie in Richtung „Human- und Geowissenschaften“ ausgeweitet werden. Man müsse sich „von überkommenen linearen Temporalitäten“ lösen (S. 97) und sich in Richtung Globalgeschichte erweitern. Zudem seien die Debatten ums Anthropozän immer normativ. Im Raum stehe die Frage, „welche Rolle welchen Technologien für die Lösung in der Gegenwart identifizierter und in die Zukunft projizierter Probleme planetarer Dimension zugeschrieben wird“. Diese Dimension gelte es freizulegen und an „historische Diskurse über Technik zurückzubinden“ (S. 98).

Anne-Katrin Ebert (Technisches Museum Wien) wendet sich mit der Diagnose an Technikmuseen und Technikgeschichte, dass die einst enge Kooperation in die Krise geraten sei. Auch wenn beide Seiten unterschiedliche Forschungsschwerpunkte, Organisationsformen und Zielgruppen hätten, so gebe es doch ein gemeinsames Interesse an technischen Dingen und materieller Kultur. Ebert plädiert dafür, verstärkt „an den Objekten und […] musealen Objektsammlungen“ zu forschen (S. 229). Bei den Technikmuseen stehen Fragen der Digitalisierung und des Verhältnisses von Depot und Ausstellung auf der Agenda, die durch großtechnische Artefakte eine besondere Schärfe haben. Für die Technikgeschichte bieten sich Ebert zufolge Anknüpfungspunkte an den „gegenwärtigen Boom der materiellen Kulturforschung“, von dem die technikhistorische Forschung – „ein kleines Fach mit vielen großen und kleinen Museen“ – besonders profitieren könne (S. 231).

Martina Heßler entwirft „Perspektiven einer Historischen Technikanthropologie“ als interdisziplinären Forschungsgegenstand.3 Ihr Ausgangspunkt ist, dass „die Verbindung von Menschen und Maschinen […] nicht erst das Thema unserer Zeit“ sei (S. 35). Diskurse um „Mensch-Maschinen-Verhältnisse“ hätten sich im 20. Jahrhundert verdichtet, aber weder Technikgeschichte noch Historische Anthropologie hätten diesen Wandel nachgezeichnet. Einer philosophischen Technikanthropologie (d.h. Autoren wie Günther Anders oder Marshall McLuhan) bescheinigt Heßler Geschichtsvergessenheit. Im Mittelpunkt ihres eigenen Forschungsfelds „stehen zuallererst vergangene Beschreibungsformen von Mensch-Maschine-Verhältnissen, die Historizität der Menschen, ihre sich im Verhältnis zu Technik verändernden Selbstdeutungen sowie der Wandel der technisierten Praktiken, Existenzformen und Lebensweisen“ (S. 43). Ihr „Programm einer […] durchgängigen Historisierung“ der Sprech- und Handlungsweisen in Bezug auf Technik und Mensch sei das „Angebot für einen […] interdisziplinären Diskurs mit Technikphilosophie, Science and Technology Studies und kulturwissenschaftlicher Medienwissenschaft“ (S. 63f.).

Heike Weber stellt das in der Technikgeschichte diskutierte Phänomen in interdisziplinäre Zusammenhänge, dass Altes meist nicht verschwindet, wenn neue Technik Einzug hält: „Persistenz, Polychronie und das Nachleben von Technik sind Teil unseres […] Alltags […].“ Man müsse nicht (nur) nach dem Neuen fragen, „sondern nach der Rolle des Alten im technischen Wandel“ (S. 141). Diese Diagnose, welcher der britische Historiker David Edgerton mit „The Shock of the Old“ das Stichwort gegeben hat4, sei für zwei „hoch aktuelle Debatten“ relevant. Zur „Frage nach der Zukunft von Technik“ – damit zielt Weber unter anderem auf Visionen von Technikapologeten – stellt sie fest: „[E]s wird keinen ‚technological fix‘ geben.“ Die Herausforderungen der Zukunft lassen sich nicht allein mit Technik lösen, da sich Technikwandel „stets in einem Geflecht von Technik, Wirtschaft, Kultur und Welten und Normen vollzieht“. Wenn etwas bewegt werden solle, dann müsse „sich zusammen mit der Technik auch dieses Geflecht“ ändern (S. 142). Die zweite interdisziplinäre Provokation für Gegenwartsdeutungen sieht Weber in der Frage, ob „Beschleunigung, Flexibilisierung und Gegenwartsschrumpfung wirklich das […] prägende Erfahrungsmoment der jüngeren Vergangenheit bilden“. Denn die Temporalitäten umfassen heute „zuvor […] unbekannte Extreme […]: Den Hunderttausenden von Jahren des Strahlens von atomarem Müll stehen Artefakte oder Techniken gegenüber, die nur kurzzeitig genutzt werden.“ (S. 142f.)

Der Band versammelt wichtige und klar argumentierende Positionen der Technikgeschichte als Kulturgeschichte. Unscharf bleibt der Untertitel; dass Wissenschaft reflexiv zu sein hat, erscheint selbstverständlich. Eine Schwachstelle ist das wohl unumgängliche Problem programmatischer Aufsatzsammlungen, dass sie gleichsam die Brille putzen, dann aber mit dem soeben geklärten Blick ihre Gegenstände nicht mehr gründlich anschauen (können). Natürlich wünscht man sich hier Anschlüsse in Form konkreter Projekte. Der Band präsentiert sich als eine Art Schaufenster, in dem aktuelle, im Fach vielfach schon bekannte Forschungsansätze der deutschsprachigen Technikgeschichte ausgelegt werden.

Wer fühlt sich da fachintern provoziert? Vielleicht jene, die nicht mit im Schaufenster liegen. Denn natürlich sind im Band nicht alle Konzepte und Neuorientierungen der Gegenwart versammelt. Nützlich ist die Sammlung freilich auch für jene fehlenden Richtungen, jedenfalls wenn sie die Herausforderung annehmen und ihre Argumente für die Bedeutung technikhistorischer Perspektiven schärfen. Wie hätte der Band provokanter werden können? Gern hätte man etwas darüber gelesen, wie interdisziplinäres Arbeiten zwischen Geschichts-, Sozial-, Ingenieur- und Naturwissenschaften funktionieren kann und wo es scheitert; oder wo der Blick von außen durch andere Fächer die Schwachstellen der Technikgeschichte offenlegt. Auch die Herausforderungen einer „Kulturgeschichte der Technik“5 durch die expandierenden Digital Humanities vermisst man. Und wer jenseits der Technikgeschichte könnte sich provoziert fühlen? Webers Zuspitzung, dass Geschichts- und Sozialwissenschaften es sich mit ihren Thesen von Beschleunigung, Flexibilisierung und Gegenwartsschrumpfung zu einfach machen und den Forschungsstand der Technikgeschichte ignorieren, ist eine Position, auf die man sich Erwiderung wünscht.

Angesichts der Zusammensetzung der Beitragenden sind die „Provokationen der Technikgeschichte“ noch in einem anderen Sinn Schaufenster. Hier lässt sich etwas über das umstrittene technikhistorische Selbstverständnis lernen. 2013 stellte Matthias Heymann dem Fach ein gutes Zeugnis aus: Es baue selbstbewusst auf seinem Erkenntnisstand zur „Gewordenheit des Menschen in der technisierten Lebenswelt“ auf und zeige „methodische Reife“.6 Ulrich Wengenroth diagnostizierte 2011 hingegen „etwas zu viel Langeweile, zu viel Konformität, zu viel radikale Spießigkeit“.7 Anlass zu dieser Kritik bot das 20-jährige Jubiläum der Gesellschaft für Technikgeschichte (GTG). Hans-Ulrich Braun hielt damals dagegen: Das Fach habe sich zu allen Seiten geöffnet, methodisch und thematisch habe man sich nichts vorzuwerfen. Die „Bringschuld“ sei erfüllt, eher müsse man „von einer ‚Holschuld‘ bei der Rezeption technikgeschichtlicher Fragestellungen bei den deutschen Historiker/inne/n allgemein sprechen“.8 Diese Gleichzeitigkeit von Selbstbewusstsein angesichts eines methodisch reflektierten Forschungsstands, Kritik an eingefahrenen Bahnen im Fach und Missfallen über fehlende Rezeption scheint mir auch die Diagnosen des vorliegenden Bandes zu kennzeichnen. Und doch hat sich seit 2011 etwas geändert: Die Technikgeschichte drängt stärker in eine interdisziplinäre Forschungslandschaft. Es wird spannend sein zu sehen, wie die Provokationen ans eigene Fach beim 30-jährigen Jubiläum der GTG 2021 diskutiert werden; und ob „die sogenannte ‚allgemeine‘ Geschichte“ (S. 4) und andere Fächer davon Notiz nehmen.

Anmerkungen:
1 Für einen Literaturüberblick vgl. etwa Martin Schmitt / Julia Erdogan / Thomas Kasper / Janine Funke, Digitalgeschichte Deutschlands. Ein Forschungsbericht, in: Technikgeschichte 83 (2016), S. 33–70, https://zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/2012-2/Schmitt_ua_2016.pdf (06.12.2019). Neuere nicht-technizistisch argumentierende Veröffentlichungen: Frank Bösch (Hrsg.), Wege in die digitale Gesellschaft. Computernutzung in der Bundesrepublik 1955–1990, Göttingen 2018, oder Joy Lisi Rankin, A People’s History of Computing in the United States, Cambridge 2018.
2 Helmuth Trischler hat bereits an anderer Stelle in ganz ähnlicher Weise vom Anthropozän als Herausforderung gesprochen; vgl. ders., The Anthropocene. A Challenge for the History of Science, Technology, and the Environment, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 24 (2016), S. 309–335, https://doi.org/10.1007/s00048-016-0146-3 (06.12.2019).
3 Siehe demnächst auch Martina Heßler / Kevin Liggieri (Hrsg.), Technikanthropologie. Handbuch für Wissenschaft und Studium, Baden-Baden 2020 (angekündigt für Januar).
4 David Edgerton, The Shock of the Old. Technology and Global History since 1900, London 2006.
5 Martina Heßler, Kulturgeschichte der Technik, Frankfurt am Main 2012.
6 Matthias Heymann, Konsolidierung, Aufbruch oder Niedergang? Ein Review-Essay zum Stand der Technikgeschichte, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 21 (2013), S. 403–427, hier S. 423f., S. 405, https://doi.org/10.1007/s00048-014-0110-z (06.12.2019).
7 Hans-Joachim Braun u.a., 20 Jahre GTG, in: Technikgeschichte 78 (2011), S. 123–134, hier S. 133, https://doi.org/10.5771/0040-117X-2011-2-123 (06.12.2019).
8 Ebd., S. 126.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch