L. Poliakov: St. Petersburg – Berlin – Paris

Cover
Titel
St. Petersburg – Berlin – Paris. Memoiren eines Davongekommenen. Aus dem Französischen übersetzt von Jonas Empen, Jasper Stabenow und Alex Carstiuc


Autor(en)
Poliakov, Léon
Reihe
Critica Diabolis 266
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Aurélia Kalisky, Berlin

2019 sind die Memoiren des russischstämmigen französischen Historikers Léon Poliakov (1910–1997) in deutscher Übersetzung erschienen. Die ursprünglich 1981 in Frankreich unter dem Titel „L’Auberge des musiciens“ („Die Musikantenwirtschaft“)1 publizierten Erinnerungen des Spezialisten für jüdische Geschichte und Geschichte des Antisemitismus entstanden in zwei Etappen: Der zentrale Teil, in dem Poliakov seine Kriegserlebnisse im besetzten Frankreich schildert, wurde bereits 1946 niedergeschrieben, unter dem „Drang [...] zu berichten“ (S. 15), wie der Autor in einem für die französische Ausgabe formulierten Vorwort festhält. Die beiden anderen Teile wurden etwa dreißig Jahre später verfasst; sie sind jeweils der Kindheit und Jugend des Autors sowie seiner intellektuellen Karriere im Nachkriegsfrankreich gewidmet.

Lebendig und mit einem ausgeprägten Sinn für Selbstironie geschrieben, wird der erste Teil der Memoiren sicherlich alle ansprechen, die sich für die Geschichte der ostjüdischen Einwanderer:innen in Westeuropa zwischen den beiden Weltkriegen interessieren. Poliakovs Jugend ist ebenso bemerkenswert wie exemplarisch für die Biografien vieler Ostjuden jener Zeit: 1910 in eine wohlhabende säkulare jüdische Familie hineingeboren, flieht er 1920 mit seinen Eltern aus dem bolschewistischen Russland zunächst nach Berlin und dann 1924 nach Paris. Dort wächst er unter den jüdischen Migrant:innen aus Osteuropa und der jüdischen Intelligenzia auf, wo die Debatten zwischen vielen verschiedenen politischen Strömungen toben. Doch zunächst identifiziert sich der junge Poliakov nicht wirklich mit seiner jüdischen Abstammung. Während Zeev (Wladimir) Jabotinsky (1880–1940), ein alter Freund der Familie, regelmäßig zum Mittagessen kommt, fragt sich Léon, ob die „Protokolle der Weisen von Zion“ ein authentisches Dokument seien… Als junger Erwachsener wird er stärker in die politischen Konflikte innerhalb der Pariser Diaspora verwickelt, besonders ab 1933, als sein Vater nach der Einwanderungswelle deutscher Juden auf seinen Rat hin das deutschsprachige „Pariser Tageblatt“ gründet. Allerdings beschäftigt sich der Sohn mehr mit seinem Liebesleben als mit seinem Studium der Rechtswissenschaften und der Literatur; er bezeichnet sich selbst humorvoll als „Halbintellektuellen“.

Der zweite Teil der Memoiren, „Die Musikantenwirtschaft“, ist in dem gleichen selbstironischen Ton geschrieben, obwohl Poliakov dies wie gesagt bereits 1946 verfasste. Der Text ist als Zeitdokument allein schon durch seine distanzierte Schreibweise interessant, aber auch deshalb, weil er einige wenig bekannte Episoden aus der Geschichte der französischen Résistance beleuchtet. Poliakov erzählt von seinem Überleben in der „freien Zone“: zuerst in Marseille, wo er den chassidischen Rabbiner Salman Schneersohn kennenlernt, der einen jüdischen Hilfsverein leitet, und dann im Zentrum Frankreichs, zunächst in St. Etienne, wo er im Bistro „Die Musikantenwirtschaft“ arbeitet – unter dem gleichen Namen operiert auch das Netzwerk, an dem er beteiligt ist und das Juden mit falschen Papieren versorgt und ihre Kinder in Sicherheit bringt. Ab 1943 überlebt er in Le Chambon-sur-Lignon. Besonders lesenswert sind die Kapitel über das Kriegsende, als Poliakov – zurück in Paris – seine ersten Schritte an der Spitze der Forschungsabteilung des „Centre de documentation juive contemporaine“ macht, das 1943 von Isaac Schneersohn (einem Cousin des Rabbiners) in Grenoble gegründet wurde und die Verbrechen an den Juden dokumentieren sollte. Im Innenministerium kommt Poliakov eher zufällig in den Besitz eines Archivs, das sich in einer Holztruhe befindet: zusammengewürfelte Dokumente des Generalkommissariats für Judenfragen, der Gestapo und der deutschen Botschaft. Diese unschätzbar wertvolle Dokumentensammlung wird bei den Nürnberger Prozessen für die Anklage verwendet und ist zugleich die Grundlage für Poliakovs erstes Buch, „Bréviaire de la haine“ („Brevier des Hasses“, Paris 1951). Seine zusammenfassende Studie über die nationalsozialistische „Endlösung“, fast noch unter dem direkten Eindruck der Ereignisse geschrieben, wurde auch später in der Holocaust-Forschung nie obsolet, wie die Historikerin Annette Wieviorka in ihrem klugen Vorwort zu dieser deutschen Ausgabe der Memoiren hervorhebt.

Der dritte Teil des Buches hat den Charakter einer intellektuellen Autobiografie, in der es, wie Poliakov selbst sagt, „mehr um Ideen und Texte als um Abenteuer und Tatsachen“ geht (S. 250). Er zeichnet den Weg eines autodidaktischen Historikers und vielseitigen Forschers nach, der sich mit neuen Themen beweisen und als „ernstzunehmender Historiker“ (S. 203) von den Institutionen anerkannt werden will.. Das dritte Kapitel dieses Teils schildert die Entstehung des „Breviers des Hasses“ – was besonders für diejenigen von Interesse sein wird, die sich mit der Geschichte der Historiografie der Shoah beschäftigen und mit der Frage, wie es einigen jüdischen Überlebenden gelang, von ihrer unmittelbaren Erfahrung der Katastrophe zu abstrahieren und sich als Zeug:innen zurückzunehmen, damit ihre Texte den Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens entsprachen. So schreibt Poliakov in diesem Kapitel, dass im Laufe der Zeit sein „Empfinden für das Thema“ ein „professionelles geworden“ sei, „so wie Ärzte und Priester angesichts von Leiden und Tod gefasst sein müssen“ (S. 204). Gleichwohl ist sich Poliakov bewusst, dass die subjektive Verstrickung des Forschers aus dem „jüdischen Historiker“ – sei es willentlich oder nicht – immer einen „Denunzianten“ macht (S. 217). Dies muss keinesfalls zu einer Beschränkung der Perspektive führen: Es ist das Fundament einer jüdischen Geschichtsschreibung. In jedem Fall ist das „Brevier des Hasses“ die erste große Synthese, die sich – zehn Jahre vor Raul Hilbergs Opus magnum von 1961 – auf die Dokumente der Täter stützt. Deshalb sagte Alexandre Kojève, mit dem Poliakov seit der Zeit in der „Musikantenwirtschaft“ befreundet war, über dessen Manuskript: „Ihr Geschick besteht darin, die Henker aussagen zu lassen und nicht die Opfer.“ (S. 204)

Diese epistemologischen Fragen, und auch diejenigen nach der Einbindung Poliakovs in ein transnationales und kollektives Unterfangen zur Dokumentation des Genozids, werden in den Memoiren jedoch nur kurz angesprochen.2 Auch die intensiven Debatten im Nachkriegsfrankreich um das Bewusstsein für die Singularität des Genozids innerhalb der NS-Verbrechen werden kaum erwähnt.3 Und abgesehen von den Passagen, in denen Poliakov die Entstehungsgeschichte seiner monumentalen „Geschichte des Antisemitismus“ nachzeichnet (vgl. S. 213 und passim), ist der dritte Teil der Memoiren für eine deutsche Leserschaft nicht unbedingt spannend. Sicherlich sind die soziologischen Aspekte dieses Strebens nach Status und institutioneller Anerkennung interessant, ebenso wie die wissensgeschichtlichen Dimensionen. Poliakov artikuliert humorvoll eine gewisse Ambivalenz gegenüber der Universität und ihren „hohen Tieren“, die es bis an die Spitze geschafft haben – wie Georges Gurvitch (S. 208), der der Doktorvater eines anderen überlebenden Holocaust-Historikers und Soziologen, Michel Borwicz, wurde. Aber dieser dritte Teil ist eindeutig durch einen präzise definierten Erwartungshorizont begrenzt: denjenigen des französischen akademischen und intellektuellen Milieus, oder allgemeiner des französischen Lesepublikums. Davon zeugt vor allem die Abwesenheit des polnisch-jüdischen Historikers Joseph Wulf in Poliakovs Memoiren, mit dem er drei wichtige Werke in der Bundesrepublik veröffentlichte4 und bis in die 1970er-Jahre korrespondierte.

Wahrscheinlich um diese Einschränkungen auszugleichen, kehrt das Nachwort des Übersetzers Alexander Carstiuc zu Poliakovs Karriere zurück und verortet ihn einerseits in dem internationalen Netzwerk von jüdischen Überlebenden, die sich während des Krieges und unmittelbar danach für die Dokumentation des Völkermordes einsetzten, und andererseits in der westdeutschen Historiografie des Holocaust, in der die Publikationen des Duos Poliakov / Wulf zeitweilig für Furore sorgten. Bei der Lektüre dieses langen Nachworts stört indes, dass es allmählich zu einer berechtigten, aber schlecht argumentierten Anklage gegen die westdeutsche institutionelle Geschichtsschreibung der Shoah wird, die sich deutlich von Poliakovs Memoiren entfernt – so sehr, dass man sich am Ende fragt, warum sich der Verlag für die Übersetzung dieser sicherlich interessanten, aber literarisch eher unbedeutenden Memoiren entschieden hat und nicht für das berühmte „Brevier des Hasses“ oder eine Aufsatzsammlung mit Auszügen aus den Memoiren, dem „Brevier“ und anderen wichtigen Texten Poliakovs, um sowohl den Mann als auch sein Werk hierzulande (wieder) bekannter zu machen. Das Unbehagen wächst, wenn sich das Nachwort ausführlich auf Poliakovs spätere Artikel konzentriert, in deren Mittelpunkt eine manchmal bissige Kritik am Zusammenprall von Strömungen der extremen Linken, Antizionismus und Antisemitismus in den späten 1960er-Jahren stand. Wenn Carstiuc dann am Ende explizit Thesen vertritt, die wissenschaftlich unbegründet und politisch äußerst fragwürdig sind, wie die Behauptung eines dem Koran und dem Islam innewohnenden Antisemitismus, und wenn er den singulären Kontext der Entwicklung der extremen Linken in Frankreich auf die Bundesrepublik Deutschland bezieht, während er sich auf Jean Améry beruft, entsteht der Eindruck, dass Poliakov in einem Kampf instrumentalisiert wird, der nicht der seine ist. Umso mehr lohnt es sich, Léon Poliakovs Arbeiten im Original und im ursprünglichen Zusammenhang zu lesen.

Anmerkungen:
1 Léon Poliakov, L’Auberge des musiciens. Mémoires, Paris 1981. Der Text wurde 1999 unter dem alleinigen Titel „Mémoires“ neu veröffentlicht.
2 Vgl. hierzu die grundlegende Studie von Laura Jockusch, Collect and Record! Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe, Oxford 2012.
3 Die wichtige Rolle Poliakovs in diesen Debatten wurde verschiedentlich analysiert; vgl. u.a. François Azouvi, Le Mythe du grand silence. Auschwitz, les Français, la mémoire, Paris 2012.
4 Léon Poliakov / Joseph Wulf, Das Dritte Reich und die Juden, Berlin 1955; dies., Das Dritte Reich und seine Diener, Berlin 1956; dies., Das Dritte Reich und seine Denker, Berlin 1959.