Mit seiner kulturwissenschaftlichen Dissertation „Das Pferd im ‚Nachpferdezeitalter‘“ erschließt David M. de Kleijn Neuland. Die Arbeit ist äußerst innovativ und wirft weiterführende Fragen nach Mensch-Tier-Beziehungen auf. Nicht nur für deren Kulturgeschichte und die Tiergeschichte, sondern auch für die deutsch-deutsche Gesellschaftsgeschichte ist die Studie von großem Wert.
Rekurrierend auf Ulrich Raulff1 definiert de Kleijn den ursprünglich 2003 von Reinhart Koselleck2 geprägten Terminus des „Nachpferdezeitalters“ ganz neu. Kosellecks Marginalisierungsthese erwidert de Kleijn damit, dass es sich „bei der Geschichte des Pferds eben mitnichten um eine abgeschlossene Geschichte handelt“, mehr noch, dass „unterdessen ein Prozess der funktionellen Umorientierung stattgefunden haben muss, der zu einer kulturellen Neusemantisierung der Mensch-Pferd-Beziehung führte“ (S. 21). De Kleijn begründet seine These mit einer gründlichen Analyse der Mensch-Pferd-Beziehungen und der stets emotional besetzten Diskurse rund ums Pferd nach 1945. Methodisch bedient er sich dafür unter anderem bei Michel Foucault und Fernand Braudel. Auch Bruno Latours „Akteur-Netzwerk-Theorie“ wird hinsichtlich der Untersuchung von Wirkungs- und Handlungsmacht der Mensch-Pferd-Beziehungen mit dem Konzept der „Animal Agency“ erwogen. Gleichwohl betrachtet der Autor diesen Ansatz – gut nachvollziehbar – als nicht hinreichend zur Erfassung der kulturellen Semantisierungen einer gesamten Tierart. In fünf Hauptkapiteln beleuchtet de Kleijn die Zeitspanne vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Er folgt konsistent der Frage nach Transformation und Kontinuität der Semantisierungen – der Bedeutungen, Ausprägungen und Konzeptionen – von Mensch-Pferd-Beziehungen im geteilten und wiedervereinigten Deutschland.
Die Analyse fußt auf einer breiten, sorgfältigen Erschließung und umsichtigen Interpretation der Quellen. Das Quellenkorpus ist üppig: Film- und Fernsehquellen wie Spielfilme und Serien, Sekundärliteratur, Romane, populäre Literatur, Publikationen zur Reitlehre, ebenso wie (Pferdesport-)Zeitschriften und Hörspiel- wie Comicreihen bilden die Materialgrundlage der Arbeit. Ergänzend zieht de Kleijn archivalische Quellen heran, vor allem für eine Beurteilung der Mensch-Pferd-Beziehungen in den ersten Nachkriegsjahren.
Das Hauptaugenmerk de Kleijns liegt indes auf den Aushandlungsprozessen des Verhältnisses des Menschen zu Pferden sowie auf deren Semantiken und Diskursen im Nachkriegsdeutschland. Dabei verfolgt er sein Thema für die Bundesrepublik und die DDR gleichermaßen, ordnet es in kultur- und mentalitätsgeschichtliche Zusammenhänge beider nachkriegsdeutscher Staaten ein und fragt nach Parallelen und Unterschieden. Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle der analysierende Blick des Autors auf das bundesdeutsche Kriegsgedenken und die Rolle der Pferde darin. Dabei wird zunächst das Mensch-Pferd-Verhältnis in der Zeit des Zweiten Weltkrieges ausführlich beleuchtet. Konstatiert wird ein extremes Changieren zwischen empathischer Zuneigung und heroisierender Glorifizierung auf der einen sowie die Inkaufnahme eines qualvollen Todes von Pferden auf der anderen Seite. Tendenziell sei das Gedenken an die Treck- und Kriegspferde stark emotionalisiert, so de Kleijn. Den Versuch der Reinwaschung des Reitsports von etwaigen Schuldvorwürfen wertet er als Indiz für ein Bewusstsein der „persönlichen Verstrickung“ (zit. nach Norbert Frei, S. 140). Dafür spricht auch die Eigenstilisierung der Akteure als vorbildhafte, unbescholtene Sporttreibende mit traditionellen gesellschaftlichen Wertvorstellungen: „Die durch die Inanspruchnahme der tierlichen Unschuld für sich selbst figurativ angestrengte kathartische Rückversetzung in einen idealisierten Naturzustand instrumentalisierte Pferde zu Katalysatoren der Resozialisierung ihrer Reiter.“ (S. 140) Der Schreibstil des Autors mag etwas hermetisch oder gar esoterisch wirken, aber wer sich auf das Buch einlässt, bekommt viele neue Perspektiven auf vermeintlich Bekanntes geboten.
Die Viktimisierung von und mit Pferden fügte sich, so de Kleijn, in das Opfernarrativ der Frontgeneration ein und war auf größtmögliche Anschlussfähigkeit ausgelegt. In einem Unterkapitel fragt der Autor sodann nach den Entlastungsrhetoriken des Reitsports; am Beispiel ehemaliger Frontsoldaten analysiert er die Rolle von Reitsportlern als nationale Symbolfiguren. Anhand des Romans „…reitet für Deutschland“ von Clemens Laar zeigt er eindrücklich, dass auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine nationale Aufladung des Reitsports fortbestand – und das soldatische Kameradschaftsethos recht nahtlos in den sportlichen Wettkampf der Nachkriegszeit überging. Exemplarisch zeigt sich an der Analyse dieses Romans eine interessante Weiterentwicklung bisheriger Forschungen im Bereich der kulturgeschichtlichen Tierstudien, insbesondere derer zum 20. Jahrhundert in Deutschland. De Kleijn entwickelt eine besondere Sensibilität für die Wandelbarkeit historischer Quellen und ihrer Neuinterpretation, je nach Kontext. Der erstmals 1936 erschienene Roman (der bis 1980 in überarbeiteter Form mehrfach neu aufgelegt wurde) diente 1941 als Grundlage für eine nationalsozialistische Verfilmung, die auch 1952 in bundesrepublikanischen Kinos nochmals reüssierte. Am Beispiel von „…reitet für Deutschland“ ordnet de Kleijn den Film als wirkungsvolles Propagandamittel ein, das sich aufgrund seines vermeintlich unpolitischen Charakters zur subtilen Verbreitung nationalsozialistischer Ideologeme besonders eignete. Euphorische Glorifizierungen aktueller und vergangener Reit-Erfolge reichten in die Nachkriegszeit und wirkten, so de Kleijn im Fazit, mitunter „wie Surrogate eines tabuisierten soldatischen Heldengedenkens“ (S. 514).
Für die Neusemantisierung des Pferdes im „Nachpferdezeitalter“ der Bundesrepublik schreibt de Kleijn dem Freizeitreiten einen zentralen Stellenwert zu, was im scharfen Kontrast zu leistungsbezogenen Sinnrahmungen gestanden habe und mit einer Subjektivierung des Pferdes etwa als Familienmitglied einhergegangen sei. Mit der Entwicklung des Freizeitreitens wurde ein sentimentalisiertes und idyllisierendes Pferdeverständnis geprägt. Freundschaftssemantiken herrschten vor, wie etwa am Beispiel „Immenhof“ deutlich wird, einer Pferdefilm-Reihe der 1950er- bis 1970er-Jahre. Zwar schaffte es die Freizeitreiter/innenbewegung nicht, den Wettkampf-Reitsport aus seiner dominanten Position zu verdrängen. Dennoch sei ihr Einfluss kaum zu überschätzen. Eine immense Vielfalt an Medien- und Konsumangeboten führte zu einer fortgesetzten Pluralisierung der Zugänge zum Pferd. Dabei geht de Kleijn unter anderem auf das Westernreiten und die Werke Karl Mays ein. Daneben wirft er auch einen Blick auf Geschlechtersemantiken sowie die Entwicklung eines zunächst männlich definierten und dominierten Bereichs hin zum Reiten als „Mädchenhobby“. Der schon aus dem 19. Jahrhundert stammende, immer wieder aufgegriffene Black-Beauty-Stoff wird exemplarisch zur Analyse von Pferden als Handlungsträgern untersucht und als Grundlage für das Mädchen-Pferdebuch-Genre ab den 1950er-Jahren ausgemacht.
Im Vergleich zur Bundesrepublik bilanziert de Kleijn für die DDR einen kaum nennenswerten medialen Diskurs und ebenso wenig sichtbare Glorifizierungen des Reitens und der Begegnung mit dem Pferd in den 1950er-Jahren. Dennoch bestimmte auch hier der Leistungssport die Ausrichtung der Mensch-Pferd-Beziehung, so der Autor. Die zunehmende Gewichtung auf einen gesellschaftlichen und politischen Nutzenfaktor sowie verbreitete Vorbehalte gegen den als elitär geltenden Reitsport führten zu einem Bedeutungsverlust des Reitsports und zu dessen sukzessiver Marginalisierung. Der stete Abwärtstrend des DDR-Reitsports ab den 1970er-Jahren wurde nach der Wiedervereinigung besonders sichtbar, gerade im Vergleich zum Westen. Die deutsche Einheit eröffnete neue Optionen und Gelegenheiten, stärkere Bindungen zu Pferden einzugehen, schlussfolgert de Kleijn.
In der vorliegenden Studie verdichten sich verschiedene Positionen zu Mensch-Pferd-Beziehungen im „Nachpferdezeitalter“. Das Buch ist äußerst gehaltvoll: Es vermittelt neue, wichtige und weiterführende Erkenntnisse nicht nur für die deutsch-deutsche Geschichts- sowie speziell die Tiergeschichtsforschung, sondern auch für Handelnde und Wirkende im Mensch-Pferd-Verhältnis. David M. de Kleijn gelingt es, die von ihm analysierten Machtbeziehungen zu nivellieren, indem er die Ausnutzung der Pferde durch Menschen mithilfe einer Nebeneinanderstellung von Mensch und Pferd widerlegt. Er nimmt keine Hierarchisierung vor und auch keine Objektivierung der Pferde. Sie sind ebenso Akteure der Geschichte wie die Menschen. Einziger Wermutstropfen der ansonsten überaus gelungenen Arbeit ist die stark exkludierende Schreibweise. Das Buch könnte sonst nicht nur für akademische Leser/innen, sondern auch für die Praxis sehr interessant sein und damit ein breiteres Publikum ansprechen. Abgesehen davon gibt de Kleijns Buch aber wichtige Impulse für die weitere Erforschung von Mensch-Tier-Verhältnissen.
Anmerkungen:
1 Ulrich Raulff, Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung, München 2015; rezensiert von Hans-Werner Hahn, in: H-Soz-Kult, 06.04.2016, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-23795 (06.06.2020).
2 Reinhart Koselleck, Das Ende des Pferdezeitalters, in: Süddeutsche Zeitung, 25.09.2003, S. 18.