“In der mnemischen Funktion trifft das Wunder der Konstanz mit dem ebenso großen der Wandlung zusammen.” (Aby Warburg)
Die Sammlung “Deutsche Erinnerungsorte” liegt nun komplett vor: 3 Bände mit insgesamt rund 120 Essays und weit über 2.000 Seiten. Als Fortsetzung meiner Rezension von Band I 1 soll der inhaltliche und methodische Ertrag des Projekts zur Diskussion gestellt werden. Was unter “Erinnerungsorten” - in Anknüpfung an Pierre Noras “lieux de mémoire” - zu verstehen sei, haben die Herausgeber Etienne François und Hagen Schulze einleitend skizziert (I 17 f.) 2: “Dergleichen Erinnerungsorte können ebenso materieller wie immaterieller Natur sein, zu ihnen gehören etwa reale wie mythische Gestalten und Ereignisse, Gebäude und Denkmäler, Institutionen und Begriffe, Bücher und Kunstwerke - im heutigen Sprachgebrauch ließe sich von ‘Ikonen’ sprechen. Erinnerungsorte sind sie nicht dank ihrer materiellen Gegenständlichkeit, sondern wegen ihrer symbolischen Funktion. Es handelt sich um langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert.”
1. Stärken des Werks
Die Sammlung richtet sich nicht in erster Linie an ein wissenschaftliches Publikum. Angestrebt wurde vielmehr ein facettenreiches Lesebuch, das die Geschichtlichkeit des kulturellen Gedächtnisses demonstrieren soll. Die Essays enthalten in der Tat viele spannende Details und überraschende Querverbindungen. Das Urteil einer Rezensentin, “daß Leser in flotter Verpackung präsentiert bekommen, was sie ohnehin wissen” 3, erscheint mir nicht gerechtfertigt. Natürlich knüpfen die Autoren an Bekanntes an, doch wird dies um Phänomene und Episoden ergänzt, die keineswegs zum Allgemeinwissen gehören. Zwei Beispiele: Gilbert Badia berichtet, daß eine 1973 geplante Briefmarke mit dem Porträt Rosa Luxemburgs eine Bundestagsdebatte auslöste. Die CDU/CSU wollte das “linksextremistische Flintenweib” nicht gewürdigt sehen, und das Postministerium war gezwungen, auf die Marke zu verzichten (II 118). Stephan Krass schreibt über eine Stollenanlage in der Nähe von Freiburg, den sogenannten “Kulturbunker”, in dem Millionen von Mikrofilmen verwahrt sind. Nach Kriegszerstörungen werden etwaige Überlebende ermitteln können, was einmal deutsches Kulturgut war. Auch die DDR besaß eine derartige Einrichtung - die inzwischen geräumte Lagerstätte in Ferch bei Potsdam (III 651-659). Die Aufsätze bleiben aber nicht im Anekdotischen stecken, sondern verbinden sprechende Einzelbelege mit Thesen von allgemeinerer Bedeutung. Viele Beiträge rufen beim Leser eigene Assoziationen hervor; unwillkürlich erinnert man sich an Filme, Bücher, Personen und Orte, an Lebensstationen und Gefühlslagen.
Ein besonderer Vorteil der Bände ist nämlich, daß sie neben offiziellen Topoi auch alltagsnahe Prägekräfte und Figurationen der Erinnerung aufgreifen. So erläutert Gunter Gebauer die Fußball-Bundesliga als “nationale Passion” (II 452) mit gesellschaftsgeschichtlicher Relevanz (II 465): “Die Erzählungen über die Bundesliga sind zugleich epische Erzählungen über die Bundesrepublik. (...) Aus der Erinnerung der Bundesliga erfahren wir politische Stimmungen und Wünsche, Selbstentwürfe sozialer Gruppen und Vorstellungen von Größe.” Stichworte wie Schrebergarten, Gesangverein und Feierabend (alle in Band III) schließen daran an. Sentimentalität und Nostalgie werden gleichwohl vermieden, denn die Herausgeber haben Wert darauf gelegt, daß die deutsche Erinnerung als dreifach gebrochene präsentiert wird - im europäischen und globalen Zusammenhang, in Reaktion auf den Nationalsozialismus sowie als Folge der jahrzehntelangen Ost-West-Spaltung.
Eine Erweiterung der nationalen Binnenperspektive wird zum Teil schon durch die Auswahl der Symbolorte erreicht. Artikel über Napoleon, Stalingrad und “Made in Germany” (in Band II) sowie über das Straßburger Münster (in Band III) erzwingen geradezu eine transnationale Sicht. Eine veränderte Wahrnehmung ist auch dadurch möglich, daß ‘typisch deutsche’ Erinnerungsorte von ausländischen Autoren beschrieben werden (siehe etwa Francis Claudons Essay über Hausmusik in Band III). Ergiebig ist es zudem, nach funktionalen Äquivalenten nationsspezifischer Erinnerungsmuster zu fragen. So argumentiert Gerd Krumeich, daß Langemarck “als deutsche Entsprechung zum englischen oder französischen Kult des ‘unbekannten Soldaten’” benutzt worden sei (III 309), und Werner M. Doyé weist darauf hin, daß Arminius/Hermann “in Europa viele Kollegen” gehabt habe (III 602). Schließlich gibt es Fälle, in denen der “Blick von außen” deutschen Erinnerungsorten überhaupt erst nationalen Status verliehen hat - dies zeigt Catharina Clemens in einem schönen Essay über Neuschwanstein und dessen amerikanische Rezeption (III 432).
Die zweite konstitutive Bruchlinie des deutschen Erinnerns ergibt sich aus dem Nationalsozialismus und dem Holocaust. Begriffe wie “Heil” oder “Blut und Boden” (beide in Band III) sind nachhaltig diskreditiert, romantische Topoi wie “Der deutsche Wald” (ebenfalls in Band III) können nicht mehr unabhängig von ihrer völkischen Ideologisierung betrachtet werden, und Chiffren wie “Furchtbare Juristen” (in Band II) sind erst als Folge der NS-Zeit aufgekommen. Auch dort, wo man es nicht unmittelbar vermutet, hat der Nationalsozialismus seine Spuren hinterlassen: Gottfried Korff erinnert im Beitrag über den “Feierabend” an das 1937 gebildete KDF-Amt gleichen Titels (III 184). Michael Wolffsohn/Thomas Brechenmacher belegen den Einfluß der NS-Ideologie auf die Häufigkeit bestimmter Vornamen (III 646 f.). Viele ähnliche Beispiele ließen sich anführen, und so überrascht es nicht, daß das Stichwort “Hitler” im Personenregister (III 749-784) die meisten Einträge erhalten hat. (Goethe, Bismarck und Napoleon folgen mit deutlichem Abstand.) Der Vorwurf, daß der Nationalsozialismus “weitgehend ausgespart” bleibe oder daß “nolens volens die ‘Unfähigkeit zu trauern’” fortgeschrieben werde 4, ist geradezu absurd.
Der deutsch-deutsche Systemkonflikt und die Erinnerungsgeschichte der DDR werden in den Bänden II und III stärker berücksichtigt als im Band I. Artikel zu “Wir sind das Volk!”, Stasi, Palast der Republik und Jugendweihe demonstrieren die nachhaltige bzw. nachträgliche Wirkung der ehemaligen DDR. Verweise auf kulturpolitische Konkurrenzen der beiden deutschen Staaten finden sich in zahlreichen Essays - etwa in den Texten über die Wartburg und die documenta I, über den Duden und den Struwwelpeter. Auch hier sind also Entdeckungen zu machen und wunderbare Quellenzitate zu lesen (siehe zum Beispiel das DDR-Gedicht über die Freiheitsglocke, das Dominik Geppert aufgespürt hat [II 246 f.]). Die von den Herausgebern angestrebte “Form eines halboffenen Labyrinths” (I 21) ist im großen und ganzen erfolgreich realisiert worden.
2. Schwächen des Werks
Einige, zum Glück nur wenige Autoren haben den gedächtnisgeschichtlichen Ansatz offenbar nicht ganz verstanden - statt Symbolisierung und Tradierung zu untersuchen, bleiben sie auf realhistorische Sachverhalte fixiert. Dies hängt teilweise mit den Themen zusammen: Die Hanse (in Band II) und Albert Einstein (in Band III) eignen sich nicht besonders, um als “Erinnerungsorte” beschrieben zu werden. Bedauerlich ist aber, daß sogar die Paulskirche (in Band II) und Richard Wagner (in Band III) eher dürftig dargestellt sind. Wolfgang J. Mommsen geht ausführlich auf die Revolutionsereignisse von 1848/49 ein, kaum jedoch auf die wechselvolle Bau- und Erinnerungsgeschichte der Paulskirche selbst 5. Herfried Münkler beschäftigt sich eingehend mit Wagners geistigen und musikalischen Vorstellungen, hat für den Kult um Bayreuth aber nur einen Absatz übrig (III 552 f.).
Nicht durchgängig plausibel erscheint außerdem, wie die Essays auf je sechs Oberbegriffe pro Band verteilt worden sind 6. Ob Königin Luise und die Stasi gemeinsam unter “Disziplin” rubriziert werden können, ist mindestens fraglich, und der diffusen Restkategorie “Identitäten” könnte man im Grunde alle Beiträge zuordnen. Eine typologische Gliederung des unscharfen Terminus “Erinnerungsorte” wäre eventuell überzeugender gewesen. Ein Bauwerk wie das Brandenburger Tor, eine historische Person wie Bismarck, ein Rechtsinstitut wie das Bürgerliche Gesetzbuch und ein verbaler Topos wie “Kinder - Küche - Kirche” entfalten ihre Erinnerungswirkung ja auf recht unterschiedlichen Wegen.
Für die Konzeption gravierender ist indes, daß alle drei Bände eine Vielzahl von “erkalteten Gedächtnisorten” beinhalten, die im heutigen Geschichtsbewußtsein nur mehr eine periphere Rolle spielen 7. Zweifellos ist es eine berechtigte Absicht, dem Präsentismus des übrigen Politik- und Kulturbetriebs ein Korrektiv entgegenzustellen, doch ist der “Eindruck einer gewissen Rückwärtsgewandtheit” nicht von der Hand zu weisen 8. Texte über Professor Unrat, Völkerschlacht, Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Wandervogel etc. sind zwar mit Gewinn zu lesen, für den Zusammenhang dieses Werks aber entbehrlich. Welche Veränderungen eine multiethnische Gesellschaft auch für die Erinnerungskultur mit sich bringt, wird kaum thematisiert, und selbst herkömmliche geschichtspolitische Debatten der letzten zehn Jahre werden allzu knapp behandelt. So verzichtet Michael Jeismann in seinem ohnehin zu kurzen Essay über die Nationalhymne (III 660-664) gänzlich darauf, die 1990/91 geführte Hymnendiskussion zu erläutern 9. Eine Bestandsaufnahme der aktuellen Erinnerungspraxis und ihrer Perspektiven für das 21. Jahrhundert leisten die “Deutschen Erinnerungsorte” nur mit Einschränkungen.
Erwähnt werden muß schließlich ein redaktioneller Mangel: Der Umgang mit dem Bildmaterial ist höchst unbefriedigend. Häufig fehlen Entstehungsdaten der Bilder bzw. der gezeigten Objekte, die Bildlegenden sind zum Teil wenig aussagekräftig, und der Bezug von Bild und Text ist nicht immer nachvollziehbar. Ärgerlich ist auch, wenn ein detailreiches Gemälde wie Werner Tübkes “Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze III” 10 durch Schwarzweißdruck und Miniaturformat unkenntlich wird (II 544). In solchen Fällen wäre eine aufwendigere Wiedergabe oder aber ein anderes Motiv erforderlich gewesen.
Dieser Einwand macht darauf aufmerksam, daß die Präsentation in Buchform ergänzungsbedürftig ist: Die Topologie der Erinnerungsorte würde durch die Anschaulichkeit einer Ausstellung noch erheblich gewinnen 11. An Material würde es nicht mangeln, und für größere Häuser wie das Deutsche Historische Museum müßte eine derartige Schau eine dankbare Aufgabe sein. Dabei bestünde Gelegenheit, einen großen Kreis von in- und ausländischen Besuchern nach ihren persönlichen Erinnerungsorten zu fragen - was vielleicht einen spannenden vierten Band ergäbe.
Anmerkungen
1 Vgl. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensio/buecher/2001/KiJa0601.htm>.
2 Hier und im folgenden verweisen römische Zahlen auf den Band, arabische Zahlen auf die jeweilige(n) Seite(n).
3 Marie Theres Fögen, Gesuchte Rettungsinseln, in: Neue Zürcher Zeitung, 12.6.2001, S. 33 (zu Band I).
4 So Harry D. Schurdel, Deutsche Mythen und Symbole, in: Parlament, 23./30.11.2001, S. 8; Christoph Jahr, Marmor, Stein und Erinnerung bricht, in: ZEIT, 15.11.2001, Literaturbeilage, S. 42.
5 Vgl. dazu Dieter Bartetzko, Denkmal für den Aufbau Deutschlands. Die Paulskirche in Frankfurt am Main, Königstein 1998. Informativ ist auch die Broschüre “Die Paulskirche. Vom Sakralbau zum nationalen Denkmal”, die vor Ort erhältlich ist.
6 In Band II heißen diese Oberbegriffe “Revolution”, “Freiheit”, “Disziplin”, “Leistung”, “Recht” und “Die Moderne”, in Band III “Bildung”, “Gemüt”, “Glaube und Bekenntnis”, “Heimat”, “Romantik” und “Identitäten”.
7 So bereits Ulrich Raulff, Heil dir im Kaffeekranz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.3.2001, S. L 21 (zu Band I).
8 Darin folge ich Christoph Jahr (Anm. 4).
9 Vgl. dazu etwa Symbole für das neue Deutschland. Welcher Name? Welche Hymne? Welcher Feiertag?, in: ZEIT, 15.6.1990, S. 3 f. und 22.6.1990, S. 10. (6 von 34 Befragten sprachen sich dort für Brechts “Kinderhymne” aus.) Mit einem Briefwechsel vom August 1991 haben sich Bundespräsident von Weizsäcker und Bundeskanzler Kohl darauf verständigt, daß allein die dritte Strophe des Deutschlandlieds Nationalhymne der Bundesrepublik sei (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 27.8.1991, S. 713).
10 Vgl. die farbige Reproduktion bei Eckhart Gillen (Hg.), deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land, Köln 1997, S. 205. Daß sich gerade hier ein genauerer Blick lohnen würde, zeigt Tanja Frank, Die Macht der Erinnerung und die Kraft der Bilder. Werner Tübkes ‘Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze’, in: Martin Sabrow (Hg.), Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR, Leipzig 1997 (Geschichtswiss. u. Geschichtskultur im 20. Jh. Bd. 1), S. 293-323.
11 Den Vorschlag machte schon Ulrich Raulff (Anm. 7).