Als erster Band einer neuen Reihe zur deutsch-deutschen Militärgeschichte bietet die vorliegende Quellenedition einen ebenso umfangreichen wie willkommenen Einstieg ins Thema. Sie hat zum Zweck, „die Bedeutung des Militärischen in der deutschen [Nachkriegs-]Geschichte […] anhand von Dokumenten erschließbar zu machen“ (S. 3). Dass sie ausdrücklich auch darauf zielt, den „militärischen Wesenskern“ (S. 3) der als „Kalter Krieg“ bezeichneten Epoche zu beleuchten (S. 2f.), wird über die militärgeschichtliche Community hinaus Zustimmung finden.1
Bei der facettenreichen Auswahl der Dokumente treten die Interessen der jüngeren Forschung deutlich hervor, bisherige Narrative um einen Strang zu erweitern, der Differenzen und Abgrenzungsversuche, aber auch Gemeinsamkeiten und Verflechtungen, Transfers und übergreifende Problemlagen beider deutscher Staaten zu einer gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte integriert. Die Dokumente sind chronologisch geordnet und in vier Themenbereiche unterteilt, in die der Herausgeber Christoph Nübel mit einer ausgesprochen lesenswerten Überblicksdarstellung einführt. Diese sind die Entwicklungen zur Errichtung der beiden deutschen Streitkräfte, die Bedingungen der jeweiligen Bündnis- und Sicherheitspolitik, das Verhältnis von Militär und Gesellschaft sowie die Streitkräfte im deutschen Einigungsprozess. Mit einem Abschnitt zu Inhalten und Sprache der Akten zeigt Nübel einen weiteren Zugang zur deutsch-deutschen Militärgeschichte auf und liefert hilfreichen Kontext zum Umgang mit den Quellen.
Der erste Schwerpunkt der Edition liegt auf Dokumenten zu den Bedingungen der jeweiligen Bündnis- und Sicherheitspolitik. Sie zeigen grundlegende Unterschiede in der Struktur und im Selbstverständnis der beiden Bündnisse: Während sich in der NATO Mitspracherechte der Mitgliedsstaaten in Verhandlungen über ein gemeinsam abgestimmtes Vorgehen äußerten, war in der Warschauer Vertragsorganisation das Wort des Moskauer Generalstabs Gesetz (S. 21). Die Brisanz daran zeigt sich unter anderem in der Frage des Einsatzes von Nuklearwaffen: Während die Bundesrepublik mit ihren Bemühungen um Schadensbegrenzung im Eventualfall teilweise Erfolge in der Formulierung der Nuklearstrategie erzielte, gelang das der DDR erst kurz vor ihrem Zusammenbruch. Beide Armeen planten auf eine Weise am nuklearen Abgrund entlang, die dem Leser die Tragweite dieser Entscheidungen in aller Deutlichkeit vor Augen führt (Dok. 87, 88, 114, 176).
Auf ideeller und gesellschaftlicher Ebene tritt in den Dokumenten der deutsch-deutsche Gegensatz klar in den Vordergrund. Hierauf liegt der zweite Schwerpunkt der Edition. Jeweils mehrere Dokumente geben Einblick in den grundsätzlich verschiedenen Umgang mit dem gemeinsamen Problem der Suche nach militärischer Tradition und der Ausgestaltung des inneren Gefüges der beiden Armeen angesichts der jüngsten Vergangenheit (Bundesrepublik: Dok. 21, 41, 66, 144, 156; DDR: Dok. 74, 167). Sie zeigen starke Kontraste: Auf der einen Seite die von Spannungen begleitete Verankerung der Bundeswehr in einer demokratischen Gesellschaft mit einer kritischen Öffentlichkeit (Dok. 67) und besonderer parlamentarischer Kontrolle (Dok. 76, 185); auf der anderen Seite die stets scharf indoktrinierte (Dok. 68), mit Spitzelnetzwerken überwachte (Dok. 73) und grundsätzlich auch gegen die eigene Bevölkerung einzusetzende (Dok. 49) Nationale Volksarmee. Diese Kontraste und ihre Schwachstellen waren Gegenstand und Anlass scharfer Attacken in einem Propagandakrieg, in dem beide Seiten aus Abgrenzungsbestrebungen politisches und militärisches Kapital zu schlagen suchten. Von diesem Propagandakrieg überliefern die Dokumente vor allem die Konzepte und Wahrnehmungen der Radiosendungen der DDR (Dok. 70, 80, 89), während etwa die umfangreichen Flugblattabwürfe der Bundeswehr in die DDR unberücksichtigt bleiben. Die Angriffe auf die Wehrbereitschaft ermöglichten es, Fahnenfluchten, Verweigerung und Opposition im eigenen Lager in erster Linie propagandistischen Machenschaften des Gegners zuzuschreiben. Damit begründete man in beiden Lagern verstärkte Konsolidierungsbemühungen, die sich in der DDR in einer Vielzahl von Überwachungs-, Repressions- und Indoktrinierungsmaßnahmen niederschlugen, in der Bundesrepublik die Form systematisch verdeckter Beeinflussung und Beobachtung von Teilen der eigenen Gesellschaft durch die sogenannte Psychologische Kampfführung beziehungsweise Psychologische Verteidigung annahmen (Dok. 59, 98, 158). Es zeigt beispielhaft den besonderen Wert der Edition, dass sie Zusammenhänge wie den von Propaganda, Fahnenflucht, Opposition und militärisch betriebener Beeinflussung auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze anhand von Dokumenten greifbar macht. So belegt sie das Potential einer deutsch-deutschen Militärgeschichte schlaglichtartig.
Die Auswahl der 217 Dokumente unterstützt in Art und Umfang den Anspruch der Edition, das Militärische als Funktion und Teil der Gesellschaft zu erschließen und damit einen Beitrag zur deutschen Nachkriegsgeschichte zu liefern. Geheime Strategiepapiere finden sich ebenso wie Egodokumente vom Gefreiten bis zum General, juristische Bewertungen ebenso wie journalistische Kommentare. Zu eher bekannteren Dokumenten, wie etwa den Thesen „Der Leutnant 1970“ (Dok. 101) oder der Erklärung des Bundesverteidigungsministeriums zum Iller-Unglück (Dok. 48), treten eine Vielzahl weniger bekannter und bislang nicht publizierter Quellen. Sie stammen nicht nur aus dem Bundesarchiv, sondern auch aus weniger zugänglichen Beständen: dem des Bundesnachrichtendienstes, der Stasi-Unterlagenbehörde und aus privaten Sammlungen. Dass sie diese Dokumente zugänglich macht und damit auf das unerschlossene Potential dieser Bestände hinweist, ist ein weiteres Verdienst der Edition.
Angesichts der notwendigerweise großen Bandbreite der edierten Quellen und dem resultierenden Volumen des Bandes ist es verständlich, dass viele Dokumente gekürzt vorliegen. Schade ist, wenn dabei wesentliche Inhalte verloren gehen, wie bei der sogenannten „Schnez-Studie“ (Dok. 100). Die an Zündstoff reiche Analyse war unter anderem deshalb so brisant, weil Militärs sich anmaßten, gegenüber ihrem politischen Auftraggeber weitgehende Grundgesetz- und weitere rechtliche Änderungen zu fordern, die ihre Stellung im Staate auf eine höhere Stufe gehoben hätten. Diese sind den Kürzungen zum Opfer gefallen. Zusammenfassungen der weggefallenen Inhalte in Form von Anmerkungen wären deshalb sinnvoll gewesen. Dennoch bleiben der Charakter des Dokuments und die Botschaft der Militärs, Bundeswehr und Gesellschaft an „‚Haupt und Gliedern‘“ (S. 455) umformen zu wollen, erhalten. Angesichts dieser der Natur von gedruckten Büchern geschuldeten Beschränkungen wäre es eine Überlegung wert, zukünftige Quelleneditionen als Online-Editionen erscheinen zu lassen.
Ein umfangreiches Abkürzungsverzeichnis erleichtert den Zugang zur notorisch von Akronymen verschlüsselten Welt des Militärs ebenso wie die zurückhaltend eingesetzten Anmerkungen. Die sinnvoll gestalteten Sach- und Personenregister machen die Edition leichter zu handhaben. Darüber hinaus wäre ein Archivverzeichnis sinnvoll gewesen; die Herkunft der Quellen ist lediglich im jeweiligen Dokument angegeben. Der Versuch, die Organisation des Ministeriums für Nationale Verteidigung beziehungsweise des Bundesministeriums für Verteidigung durch kursorische Anmerkungen auf drei Seiten erschließbar zu machen und damit die edierten Dokumente institutionell besser zu verorten, muss aufgrund der Komplexität und der zahlreichen Wandlungen des Gegenstandes zu kurz greifen. Er zeigt vor allem Bedarf nach einem entsprechenden Handbuch auf.
Zusammenfassend verdient die Edition aufgrund der facettenreichen und gehaltvollen Dokumente sowie der ausgezeichneten Einführung von Christoph Nübel die Aufmerksamkeit aller zeithistorisch Forschenden, die offen für die Bedeutung des Militärischen in der deutschen Nachkriegsgeschichte sind. Sie bietet zahlreiche Impulse für innovative Arbeiten in einem wenig bestellten Feld.
Anmerkung:
1 Patrick Bernhard / Holger Nehring / Anne Rohstock, Der Kalte Krieg im langen 20. Jahrhundert. Neue Ansätze, Befunde und Perspektiven, in: Patrick Bernhard / Holger Nehring (Hrsg.), Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte, Essen 2014, S. 11–42.