V. Dujardin u.a. (Hrsg.): Die Europäische Kommission 1986–2000

Cover
Titel
Die Europäische Kommission 1986–2000. Geschichte und Erinnerungen einer Institution


Autor(en)
Dujardin, Vincent; Bussière, Éric; Ludlow, Nicholas Piers; Romero, Federico; Schlenker, Dieter; Varsori, Antonio
Herausgeber
Europäische Kommission
Anzahl Seiten
XX, 812 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido Thiemeyer, Historisches Seminar II, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Die Historiker-Verbindungsgruppe bei der Europäischen Kommission ist eine transnationale Vereinigung von Geschichtswissenschaftlern, die seit der Mitte der 1980er-Jahre Pionierarbeit bei der Erforschung der Europäischen Integration leistet. Jeweils nach Ablauf der 30-Jahres-Sperrfrist der Akten wurden erste auf Archivrecherchen basierende Forschungsergebnisse zur Geschichte der Europäischen Integration diskutiert und publiziert. Leider ist die Gruppe seit einigen Jahren von diesem Konzept abgewichen. Nun melden sich einige Mitglieder der Forschungsgruppe mit einer Geschichte der Europäischen Kommission zurück, deren letzter Band gerade erschienen ist.

Auf den ersten Blick wirken die drei Bände wie eine Festschrift: Sie wurden vom Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union publiziert, mit farbigen Bildern aufwändig gestaltet und versehen mit einem Vorwort von Jean-Claude Juncker, bis vor kurzem der Präsident der Europäischen Kommission. Der einleitende Text von Vincent Dujardin bedient zudem das Fortschrittsnarrativ der Europäischen Integration. Und doch wird man diesem Band nicht gerecht, wenn man ihn ausschließlich unter der Kategorie „Festschrift“ einordnet.

Der Band beschäftigt sich mit einer Zeit, in der sich die Europäische Gemeinschaft, die ab 1993 Europäische Union hieß, massiv veränderte. Das betraf zum einen die Gestalt der Gemeinschaft selbst. In ihrem Institutionengefüge vollzog sich seit den 1970er-Jahren ein machtpolitischer Wandel, der von der medialen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. Zum einen gewann das Europäische Parlament durch die Direktwahlen ab 1979 und die Einführung des sogenannten Mitentscheidungsverfahrens seit 1986 erheblich an Bedeutung. Zugleich beanspruchte aber auch der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs in zunehmendem Maße eine Führungsrolle in der EG/EU. Die Europäische Kommission, die in den 1960er-Jahren ihrem Selbstverständnis nach eine Vorform einer europäischen Regierung gewesen war, musste sich in diesem Umfeld neu positionieren. Das führte zu einer vollständigen Reform der Organisation im Inneren und vor allem zu einer erheblichen Erhöhung des Personalbestandes. Neue Generaldirektionen entstanden (zum Beispiel Erweiterung, Justiz und Inneres sowie Bildung und Kultur), der Sprachendienst musste wegen der Erweiterungen ausgebaut werden und auch die Öffentlichkeitsarbeit der Kommission wurde einer Generalrevision unterworfen. Alle diese Entwicklungen werden im ersten Kapitel des Bandes detailliert beschrieben.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der „Politik und (den) Maßnahmen im Bereich der Wirtschaft“. Dominant waren in der hier im Zentrum stehenden Epoche die Debatten um die europäische Währungsunion. Jacques Delors war als Ideen- und Impulsgeber sehr wichtig für die Währungsunion. Er glaubte, so formuliert es Eric Bussière, dass es ein europäisches Wirtschaftsmodell gebe, „das durch die gemischte Wirtschaft (das heißt die Kombination von Markt und öffentlichen Einrichtungen), die wirtschaftlichen Befugnisse des Staates, die währungspolitischen Befugnisse der Zentralbank und den sozialen Dialog geprägt sei“ (S. 237). Dieses Modell war aus der Sicht Delors‘ auch maßgeblich für die Binnenmarkt- und Wettbewerbspolitik der Kommission.

Im dritten Kapitel geht es daher um die „Politik und Maßnahmen im Bereich der Solidarität“. Auch wenn es keine europäische Sozialpolitik im engeren Sinne des Wortes gab, wird doch deutlich, dass die Kommission in Kooperation mit den nationalen Regierungen ein Akteur in diesem Politikfeld war. Insbesondere über die Beziehung zwischen der Europäischen Kommission und den nationalen Akteuren im Bereich der Sozialpolitik besteht noch intensiver Forschungsbedarf. Das gilt auch für die europäische Regionalpolitik, deren Ziel es war, strukturschwache Regionen zu unterstützen. Interessant und möglicherweise anregend für die weitere Forschung ist die These von Antonio Varsori, dass die Kommission in der europäischen Sozialpolitik – entgegen dem bisherigen Forschungsstand – eine wichtige Rolle spielte. Es gebe zwar, so Varsori, keine programmatische europäische Sozialpolitik, aber im Rahmen von Ad-hoc-Entscheidungen sei die Kommission in diesem Politikfeld wichtig gewesen.

Kapitel vier nimmt schließlich die Außenbeziehungen der Kommission in den Blick, worunter auch die Erweiterungsrunden von 1995 und (perspektivisch) 2004 fallen. Insgesamt wird auch hier deutlich, dass es – ähnlich wie in der Sozialpolitik – keine europäische Außenpolitik im engeren Sinne gab. Gleichwohl wurde die Europäische Kommission ein Akteur in den internationalen Beziehungen. Das gilt zumal für die Zeit nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes 1990. Handelspolitik und klassische Außenpolitik waren etwa in den GATT-Verhandlungen, aber auch in den Beziehungen der EU-Staaten zu den USA, China und Japan kaum noch voneinander zu trennen.

In methodischer Hinsicht basieren die Beiträge alle auf einer historisch-hermeneutisch unterfütterten Politikgeschichte. Als Quellen dienen oft Interviews mit Zeitzeugen, aber auch neu zugängliche Dokumente aus den Archiven der Kommission. Es versteht sich von selbst, dass in einer solchen Publikation nur erste Schneisen in ein noch vielfach unübersichtliches Gebiet geschlagen werden können. Die meisten Beiträge bleiben daher auf eine deskriptive Betrachtung reduziert und übernehmen oft die Sicht- und Argumentationsweisen der Kommission. Dies gilt beispielsweise für die große Krise, die zum Rücktritt der Santer-Kommission im März 1999 führte. Diese wird geschildert, eine kritisch-analytische Auseinandersetzung jedoch bleibt aus. Das gilt auch für andere große Debatten der Zeit, etwa jene über das Demokratiedefizit der Europäischen Kommission der 1990er-Jahre oder auch den gleichzeitig intensiv geführten Streit über die ordnungspolitische Ausrichtung der europäischen Währungsunion. Es fragt sich auch, ob es sinnvoll ist, in Publikationen mit wissenschaftlichem Anspruch Würdigungen der drei Kommissionpräsidenten der Epoche (Delors, Santer, Prodi) zu integrieren, die ebenfalls weitgehend unkritisch sind. Insofern wandelt der vorliegende Band zwischen Festschrift und Wissenschaft, wobei die Beiträge mal in die eine, mal in die andere Richtung tendieren.

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