Die Antwort auf die Frage nach dem Beziehungsstatus zwischen Italien und Deutschland lautet schon seit längerer Zeit: Es ist kompliziert. Tatsächlich sind wechselnde Konjunkturen von Kooperation und Konflikt unübersehbar, wobei die Konflikte seit den 1990er-Jahren häufiger geworden sind. Diese Konjunkturen vollziehen sich vor dem Hintergrund einer wechselvollen Geschichte, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem durch Krieg und Gewalt geprägt war, nach 1945 dagegen vom gemeinsamen Wiederaufstieg im Schatten des Kalten Kriegs und im Zeichen der europäischen Integration. Unübersehbar ist auch die Persistenz von mehr oder weniger giftigen Stereotypen und Klischees sowohl südlich als auch nördlich der Alpen, die nicht selten Erfahrungen überlagern und Begegnungen prägen. Die Historiografie hat für dieses komplizierte Geflecht aus Nähe und Distanz, aus Interesse und Unverständnis Narrative wie „Parallele Geschichte“1 oder „Ferne Nachbarn“2 geprägt. Dabei hat die Geschichte der Kriege, die Deutschland und Italien gegen- oder miteinander geführt haben, erheblich mehr Aufmerksamkeit gefunden als die Entwicklung der beiden Nationen in Friedenszeiten. Eine vergleichende Geschichte der Einwurzelung, Entfaltung und auch der Krisen der von Parteien getragenen parlamentarischen Demokratie in zwei postfaschistischen Staaten suchte man bislang vergeblich, ungeachtet der Bedeutung, die diesen Prozessen zugeschrieben werden muss.
Claudia C. Gatzka hat sich mit ihrer Dissertation, die im September 2015 von der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde, das Ziel gesetzt, diese Lücke zumindest teilweise zu füllen. Sie „erzählt eine Beziehungsgeschichte zwischen Wählern und Gewählten in Italien und der Bundesrepublik, die nach 1945 die Erfahrung einer radikalen politischen Ordnungsalternative teilten“ (S. 12). Damit geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die erfahrungs- und kommunikationsgeschichtliche Dimension der parlamentarischen Demokratie in Westdeutschland und Italien zwischen Kriegsende, „Wirtschaftswunder“ – ja, auch Italien erlebte ein solches – und der Krise „nach dem Boom“. Dabei stellt die Autorin drei wirkungsmächtige Deutungsmuster auf den Prüfstand: das Narrativ von der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, die gegenläufige Erzählung von der politischen Dauerkrise Italiens und die Interpretation, wesentliche Veränderungsprozesse seien ab den 1960er-Jahren von der Neudefinition des Politischen im transatlantischen Kontext ausgegangen. Als Fundament für ihre Studie hat die Autorin einen kulturgeschichtlich informierten Ansatz der politischen Sozial- und Parteiengeschichte gewählt, in dem die Kommunikation zwischen den Parteien als Trägern der politischen Willensbildung, den Wählerinnen und Wählern als umworbenen Subjekten und den von zahlreichen Aktivisten unterstützten Mandatsträgern vor Ort eine entscheidende Rolle spielt.
„Vor Ort“ heißt für Gatzka die Analyse von Wahlkämpfen in der urbanen Gesellschaft Westdeutschlands und Italiens zwischen 1944/45 und 1979. Ob die Stadt „als ein politischer Handlungsraum“ tatsächlich „gegenüber dem Land eher unterbelichtet geblieben“ ist, wie die Autorin behauptet (S. 36), sei dahingestellt; interessant ist ihr Vergleich der Städte Hamburg, Ulm, Bologna und Bari allemal. Hamburg und Bologna stehen für Hochburgen verschiedener Spielarten des (demokratischen) Sozialismus, Ulm in Württemberg und Bari in Apulien fungieren dagegen als „christdemokratisch geprägte Kontrapunkte“ (S. 41). Natürlich ist jede Auswahl von standortgebundenen Entscheidungen und Zufälligkeiten der Quellenlage geprägt, aber vor allem im westdeutschen Fall ist zu fragen, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, eine dezidiert katholische Hochburg der Union als Exempel zu wählen, auch um die Rolle von Konfession und Kirche besser vergleichend fokussieren zu können.
Die Darstellung besteht aus fünf Kapiteln, die grosso modo der Chronologie folgen. Das erste Kapitel beschreibt den politischen Neubeginn und die ersten Schritte demokratischer Politik in der „Nachkriegsstadt“ zwischen 1944/45 und 1948/49. Dabei fällt eine konstitutive Asymmetrie auf, die Gatzka besonders hervorhebt: Während man in Teilen Italiens den Übergang vom Faschismus zur Demokratie als „eine Phase lokaler Selbstermächtigung“ (S. 127) erlebte und der Handlungsspielraum der Parteien, die rasch nach Mussolinis Sturz (wieder) das Licht der Welt erblickt hatten, unter milder alliierter Aufsicht groß war, unterbanden die Besatzungsmächte in Deutschland nach Kriegsende zunächst alle parteipolitischen Aktivitäten, und als sie demokratische Parteien wieder zuließen, waren strenge Auflagen zu beachten. In Italien waren es also die Parteien, die in den Städten Neubeginn und Wiederaufbau organisierten, in Deutschland dagegen bis 1946 vor allem die Militärregierungen und ihre zumindest vordergründig unpolitischen Auftragsverwaltungen. In Italien hatten die Parteien damit eine Art Entwicklungsvorsprung, und sie konnten sich den Wählerinnen und Wählern auch als pragmatische Problemlöser und Dienstleister präsentieren. Zudem stellte sich die Frage nach ihrer Legitimität nicht, hatten sie doch als Teil der Resistenza einen wichtigen Beitrag zur Befreiung von Faschismus und Besatzungsherrschaft geleistet. In (West-)Deutschland war diese Legitimität nicht selbstverständlich; sie musste in teils mühsamen Selbstfindungs- und Aushandlungsprozessen erst erworben werden.
Die Kapitel zwei und drei decken die Dekade zwischen Ende der 1940er- und Ende der 1950er-Jahre ab. Die Autorin beschreibt hier mit vielleicht etwas zu großer Liebe zum Detail, wie sich die parlamentarische Demokratie im urbanen Raum zu entfalten begann. Die italienische Variante schildert sie als Mobilisierungs- und „Anwesenheitsdemokratie“ mit der Piazza als zentralem, auch symbolisch aufgeladenem Ort, um den es zu kämpfen und den es zu kontrollieren galt – durchaus auch mit propagandistischen Stilmitteln, die an Mussolinis Faschisten erinnerten. Hier hätte man sich die eingehendere Analyse visueller Quellen vorstellen können, die in dem Buch jedoch nur sparsam und überwiegend illustrativ gebraucht werden. In den westdeutschen Städten, so Gatzka, habe man es im Gegensatz zu Italien mit einer „Abwesenheitsdemokratie“ zu tun gehabt, „wo sich im urbanen Wahlkampf vorrangig Parteimitglieder in überdachten Wahlversammlungen“ eingefunden hätten, „der Kontakt mit Wählern primär über (massen-)mediale Kanäle“ stattgefunden habe und „Nüchternheit und Sachlichkeit“ Trumpf gewesen seien (S. 235f.). Diese Gegenüberstellung wirkt etwas schematisch, zumal halböffentliche Orte politischer Diskussion wie Wirtshäuser oder Vereinsheime, die in der Bundesrepublik eine wichtige Rolle spielten, kaum in den Blick geraten. Auch die Frage, wieviel von der „Nüchternheit“ aufgesetzt war, wäre der eingehenderen Erörterung wert gewesen. Und schießt Gatzka nicht über das Ziel hinaus, wenn sie von der Ära Adenauer als einer „bleiernen Zeit der westdeutschen Demokratie“ spricht (S. 237)?
Kapitel vier und fünf thematisieren die Blüte und Krise der Parteiendemokratie, wie sie sich in der Nachkriegszeit herausgebildet hatte, wobei es vor allem um zwei zeitversetzte Herausforderungen geht, denen sich die Akteure in den 1960er- und 1970er-Jahren gegenübersahen: die neue Aufmerksamkeitsökonomie unter den Bedingungen der Konsum- und Freizeitgesellschaft sowie die Protestbewegungen der „langen 1968er-Jahre“, die sich jenseits der Parlamente und Parteien entwickelten. Während der Partito Comunista und die Democrazia Cristiana zu lange an den erfolgreichen Handlungsmustern des ersten Nachkriegsjahrzehnts festgehalten und damit den Kontakt zu den Wählerinnen und Wählern zunehmend verloren hätten, sei es der SPD und der CDU in der Bundesrepublik gelungen, Erwartungshaltungen der „Wirtschaftswundergesellschaft“ gleichsam marktgerecht zu bedienen3 und von der Performanz der Außerparlamentarischen Opposition zu lernen. Der Immobilismus der beiden größten Parteien Italiens fand auch in der immer weniger gelingenden Kommunikation zwischen Funktionären und Wahlvolk seinen Ausdruck. Zusammen mit einer scharfen Polarisierung trug dies erheblich zur politischen Instabilität des Landes bei. Von solcher Instabilität konnte in der Bundesrepublik aller zeitgenössischen Krisendiagnostik zum Trotz zwar keine Rede sein, aber hier schienen die großen Parteien durch ähnliche Muster von Dialog und Mobilisierung sowie durch eine fast zwanghafte „Fokussierung auf die Diskussion von Sachthemen im urbanen Wahlkampf“ (S. 521) gleichsam ihren weltanschaulichen Markenkern und damit auch einen Teil ihrer Attraktivität verloren zu haben. So öffnete sich zugleich das Spielfeld für neue Gruppierungen wie die Grünen.
Claudia C. Gatzka stellt ein buntes Panorama der parlamentarischen (Parteien-)Demokratie im urbanen Raum vor. Sie kommt dabei zu Thesen und Einsichten, die den gängigen Narrativen der westdeutschen Erfolgs- und der italienischen Krisengeschichte zumindest teilweise zuwiderlaufen. Allerdings stellt sich die Frage, ob die teils weitausgreifenden Schlussfolgerungen der Autorin stets von ihrem stellenweise zu detailliert ausgebreiteten Quellenmaterial gedeckt sind und inwieweit ihre urbane deutsch-italienische Versuchsanordnung generalisierende Aussagen erlaubt. In dieser ansonsten sehr reflektierten Arbeit hätte man sich hier eine intensivere Debatte über die Reichweite der Ergebnisse und auch über die Grenzen des Vergleichs gewünscht. Dennoch wird in Zukunft niemand, der sich für die Entwicklung der (Parteien-)Demokratie südlich und nördlich der Alpen interessiert, an dem Buch vorbeikommen.
Anmerkungen:
1 Gian Enrico Rusconi / Hans Woller (Hrsg.), Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945–2000, Berlin 2006.
2 Christof Dipper, Ferne Nachbarn. Vergleichende Studien zu Deutschland und Italien in der Moderne, Köln 2017.
3 Vgl. dazu Thomas Mergel, Propaganda nach Hitler. Eine Kulturgeschichte des Wahlkampfs in der Bundesrepublik 1949–1990, Göttingen 2010.