Forschungen zur Justiz unter der Besatzung im Zweiten Weltkrieg stellen nach wie vor ein Desiderat dar, obwohl die nationalsozialistische Herrschaft über Europa weit weniger regellos organisiert war als gemeinhin angenommen wird oder es dem Erleben der Besetzten entsprach. Der berechtigte Fokus auf die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung verstärkt diesen Eindruck noch, denn die Opfer des Holocaust waren in der Tat völlig rechtlos. Doch auch ihre den Deportationen vorausgegangene Erfassung und Enteignung verlief nach festgelegten Vorschriften, an denen Gerichte mitwirkten. Die Justiz ist jedoch ein weithin unterschätztes Element im nationalsozialistischen Unterdrückungsapparat.
Hans Petter Graver, Professor für Privatrecht an der Universität Oslo, Präsident der Norwegischen Akademie der Wissenschaften und durch zahlreiche Publikationen ausgewiesener Experte für Rechtsgeschichte, liefert mit der Studie „Der Krieg der Richter“ eine Gesamtdarstellung der Gerichte in Norwegen unter der nationalsozialistischen Besatzung. Gleichzeitig untersucht Graver die rechtsstaatsgeschichtlich und justizpolitisch wichtige Frage, warum sich der Rechtsstaat gegen autoritäre Herausforderungen häufig so verwundbar zeigt(e). Die Justiz in Norwegen im Zweiten Weltkrieg ist ihm dafür vor allem Beispiel; gleichwohl steht sie im Zentrum des Buches.
Um die Wahl dieses Exempels zu verstehen, muss man einen Blick auf die Geschichte Norwegens zu Beginn der Besatzungszeit werfen, wo sich nach der Niederlage gegen die Wehrmacht ein Kollaborationsregime um die norwegische nationalsozialistische Bewegung der Nasjonal Samling um Vidkum Quisling etablierte. Graver untersucht in seinem souverän geschriebenen Buch den Umbau des Justizwesens durch die Nasjonal Samling, die unter Justizminister Sverre Parelius Riisnæs in diesem Bereich weitgehend unabhängig von den deutschen Besatzungsbehörden unter Reichskommissar Josef Terboven agierte. Im Mittelpunkt der Studie stehen die Richter, oder besser: die Motive, die sie dazu brachten, am Umbau des Rechtsstaats in ein autoritäres Regime mitzuwirken, und ihr Handeln. In diesen Motiven sieht Graver die hauptsächlichen Gründe für die Anfälligkeit des Rechtsstaats gegenüber autoritären Herausforderungen. Über die Biographien einzelner Juristen erfährt man dagegen nur wenig, wohl auch, weil die Quellen nicht mehr hergeben.
Auch in der Darstellung der Besatzungsjustiz ist dem Autor ein Buch gelungen, das differenziert argumentiert und die Feinheiten des Rechtssystems unter der Besatzung herausarbeitet. Graver beschränkt sich auch nicht, wie dies häufig geschieht, auf die Strafjustiz, sondern bezieht auch die Zivilrechtsprechung ein, die – anders als zeitgleich im Reich – im besetzten Norwegen keineswegs eingeschränkt wurde. Den Aufbau, die Zuständigkeit und die Tätigkeit der norwegischen ordentlichen Gerichte stellt er ausgehend vom Obersten Gerichtshof („Høyesterett“) dar. Riisnæs „säuberte“ den Gerichtshof 1940, indem er die Pensionsgrenze senken ließ und neue Richter, die der Nasjonal Samling nahestanden oder Mitglied waren, ernannte. Doch mehrere der Neuernannten weigerten sich, ihre Ämter anzutreten, sodass Riisnæs letztlich gezwungen war, Kompromisse einzugehen. Graver geht auch auf weitere Fälle richterlichen Widerstands ein – von mutigen Urteilen, die gegen die Intentionen der Nasjonal Samling verstießen, bis zum Verschwindenlassen von Akten jüdischer Bürger, um diese vor der Deportation zu schützen. Letztlich war dieser Widerstand jedoch überschaubar, und die weitaus meisten Richter auch der kaum mit Mitgliedern der Nasjonal Samling besetzten ordentlichen Gerichte wirkten willig an der Umsetzung der Verordnungen des Kollaborationsregimes und der Besatzer mit. Graver unterstreicht diese unerzwungene Mitwirkung unter anderem mit Stellungnahmen Riisnæs aus der Besatzungszeit, in der die Unabhängigkeit der Gerichte bestätigt wird.
Neben den ordentlichen Gerichten gab es seit Oktober 1940 einen norwegischen „Volksgerichtshof“, der aufgrund einer Verordnung des Reichskommissars eingerichtet wurde und hauptsächlich „Bagatelldelikte“ (S. 175) aus dem Umfeld des Widerstands verhandelte. Die höchste Strafe, die der Volksgerichtshof jemals verhängte, waren dementsprechend vier Jahre Haft. Mit seinem deutschen Namenspendant ist er auch deshalb nicht zu verwechseln. Auch die ab 1943 eingesetzten Sondergerichte hatten mit den deutschen Ausnahmejustizorganen nur den Namen gemeinsam. Insgesamt verhängten norwegische Sondergerichte 19 Todesurteile. Zuständig waren sie ebenfalls für Widerstandsdelikte, für Straftaten norwegischer Beamter und Polizisten sowie norwegischer paramilitärischer Einheiten, den sogenannten Hirden. Graver schildert die Praxis der NS-Gerichte ebenso wie die der ordentlichen Justiz anhand von Einzelfällen, wobei die Entscheidungen der Richter und weniger das Schicksal der Angeklagten im Vordergrund stehen. Das gilt auch für einen einordnenden Vergleich mit der wenig erforschten einheimischen Justiz Belgiens, Dänemarks und Frankreichs unter der Besatzung.
Die meisten Fälle wegen Widerstands wurden von der deutschen Besatzungsgerichtsbarkeit verhandelt, insbesondere dem Reichskriegsgericht, das auf seinen Gerichtsreisen immer wieder in Norwegen Station machte, sowie durch das SS- und Polizeigericht Nord. Und auch hier stehen bei Graver nicht etwa die norwegischen Angeklagten – von denen 273 zum Tode verurteilt wurden – im Mittelpunkt, sondern das richterliche Handeln.
Schließlich betrachtet Graver die Nachgeschichte der Besatzungsjustiz und untersucht deren juristische Aufarbeitung in der Nachkriegszeit. Während in Norwegen die Urteile der deutschen Gerichte, der norwegischen Sondergerichte, des Volksgerichtshofs und viele Urteile der ordentlichen Gerichte bereits pauschal 1946 außer Kraft gesetzt wurden und die Opfer der Justiz damit zumindest nachträglich so etwas wie Gerechtigkeit erfuhren, verlief der strafrechtliche „Reinigungsprozess“ zum Teil entgegen rechtstaatlicher Standards. Insgesamt war der norwegische „Aufarbeitungsprozess“, so Graver, „stark davon geprägt, dass eine Gruppe als außerhalb der nationalen Gemeinschaft befindlich definiert wurde“ (S. 256).
In seinem abschließenden Kapitel wendet sich Graver wieder der Frage zu, warum der Rechtsstaat häufig vor autoritären Herausforderungen kapituliert. Neben dem Fall der norwegischen Justiz unter Besatzungsbedingungen geht der Autor dabei etwa auf Chile unter Pinochet, die DDR, vor allem aber auf die NS-Diktatur in Deutschland ein. Die Übertragung von Harald Welzers sozialpsychologischem Ansatz aus der Täterforschung auf die Richter ist innovativ.
Manchmal jedoch fehlt der Darstellung Gravers ein wenig die Verortung im allgemeingeschichtlichen Kontext: So bleibt unklar, welche Rolle der Oberste Gerichtshof in der Übergangsphase zwischen der Flucht der norwegischen Regierung aus Oslo und der vollständigen Besetzung des Landes durch die Wehrmacht spielte. War er, wie Graver andeutet, als einzig verbliebenes gesamtnorwegisches staatliches Organ tatsächlich Judikative, Legislative und Exekutive in einem? Auch im überraschend schmalen Literaturverzeichnis von nur neun Seiten fehlen Studien wie etwa die immer noch wichtige Untersuchung von Hans-Martin Ottmer über das „Unternehmen Weserübung“ von 1994. Für die Kernfrage, warum der Rechtsstaat so anfällig für autoritäre Herausforderungen ist, wäre eine stärkere Unterfütterung mit der umfangreichen Forschungsliteratur zur NS-Justiz im Reich, zu anderen Diktaturen (auf die sich Graver bezieht) und deren Aufarbeitung notwendig gewesen. So haftet der Darstellung, die viele neue Gesichtspunkte aufwirft und viel Stoff zum Nachdenken bietet, letztlich etwas Unintendiert-Essayhaftes an. Dass das Buch trotzdem weitgehend zu überzeugen vermag, ist insbesondere der abgewogenen und differenzierten Argumentation Gravers zu verdanken. Es bleibt zu hoffen, dass diese lesenswerte Studie nicht nur Juristen, sondern auch Historiker wahrnehmen werden.