Ökonomisierung ist ein Reizwort. Je nach Perspektive verspricht es Effizienz, Leistungssteigerung und satte Gewinne oder aber es beschwört Vorstellungen eiskalten Gewinnstrebens herauf und die Furcht vor einem Ausgreifen marktwirtschaftlicher Prinzipien auf immer weitere Bereiche. Der von Rüdiger Graf herausgegebene Band geht von der Beobachtung aus, dass weltweit Transformationen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen zunehmend als Ökonomisierung kritisiert und mit dem schillernden Begriff des Neoliberalismus verbunden werden. Ziel des Bandes ist es nicht nur, diese Diagnosen zu historisieren, sondern gefragt wird auch, inwiefern sie „für so unterschiedliche Felder wie Recht, Gesundheitswesen, Sicherheit, Sport, Popmusik, Wissenschaft, Politik, Handel, Umwelt, Familie und Schlafen“ (S. 11) angemessen seien.
Damit sind auch die Themenfelder umrissen, die der Band exemplarisch aufgreift. Im Zentrum steht (West-)Deutschland seit den 1970er-Jahren, doch etliche Beiträge sind transnational-vergleichend angelegt, sodass die Vereinigten Staaten sowie auch andere westeuropäische Staaten beleuchtet werden. Da Ökonomisierung sowohl Kampfvokabel wie Analysebegriff ist, setzt der Band mit begrifflichen Reflexionen ein.
Zunächst erläutert Rüdiger Graf in einer knappen Einleitung Ökonomisierung als Analysebegriff. Wer von Ökonomisierung sprach, so Graf, ging davon aus, dass Wirtschaft ein eigenständiges System sei, dessen Prinzipien auf andere Systeme übergreifen. Graf historisiert diesen Ökonomisierungsdiskurs und zeigt gleichzeitig, wie der Blick darauf neue Einblicke in die Wandlungsprozesse seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts geben kann, die in der Geschichtswissenschaft momentan unter verschiedenen Schlagworten viel Aufmerksamkeit finden. Die Soziologin Ute Volkmann vertieft die Auseinandersetzung, indem sie unterschiedliche Grade der Ökonomisierung beziehungsweise des Ökonomisierungsdrucks unterscheidet sowie eine Typologie von Strategien zum Umgang mit solchen Anforderungen anstellt.
Nachfolgend werden Alternativen zum Ökonomisierungsbegriff vorgestellt: Kommerzialisierung (Roman Köster), Vermarktlichung (Ralf Ahrens) und Finanzialisierung (Laura Rischbieter). Diese drei Beiträge zeigen erstens, wo sich die Konzepte überschneiden und wo sie unterschiedliche Blickachsen eröffnen. Sie geben zweitens einen fundierten diskursgeschichtlichen Überblick über heterogene Verwendungszusammenhänge dieser Konzepte. Drittens fragen sie nach dem Mehrwert für die Geschichtswissenschaft. Alle drei Beiträge widersprechen der Vorstellung einer ungehindert immer weiter ausgreifenden Marktlogik. Sie zeigen vielmehr Gestaltungsprozesse an der Schnittstelle von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die eher als Teil einer Geschichte des Kapitalismus als einer Geschichte der Zeit seit den 1970er-Jahren zu verstehen sind, denen vielfältige Interessen zugrunde lagen und die umkehrbar waren.
Der zweite Teil des Bandes nimmt die „Ökonomisierung zentraler Politikfelder“ in den Blick, exemplarisch dargestellt an den Bereichen Bildung (Alina Marktanner), Sicherheit (Marcus Böick), Gesundheitswesen (Martin Lengwiler) und Umwelt (Rüdiger Graf). Im Mittelpunkt steht das Verhältnis von Markt und Staat: Wer legte die Spielregeln fest, nach denen verschiedene Politikfelder funktionieren sollten? Diese Beiträge belegen eindrücklich, was sich im ersten Teil bereits ankündigte: Auch wenn wirtschaftswissenschaftliches Wissen zunehmend gefragt war, stülpte „der Markt“ seine Handlungslogiken anderen Bereichen nicht einfach über, sondern die Akteur/innen der jeweiligen Politikfelder setzten wirtschaftswissenschaftliche Expertisen und Modelle bewusst für ihre Zwecke ein, adaptierten sie dabei und verwarfen manches. Inwiefern die Ausrichtung an ökonomischen Kennziffern oder die Übernahme bestimmter Aufgaben durch private Firmen als sinnvoll galt, hing immer davon ab, was als staatlicher Aufgabenbereich oder als politisches Ziel definiert wurde.
Der vergleichende Beitrag von Martin Lengwiler zum Gesundheitswesen zeigt, dass es mitunter gar nicht so einfach war, Marktmechanismen in ein Politikfeld zu integrieren, und dass diese Integration häufig mit verstärkter staatlicher Regulierung einherging. Rüdiger Graf wiederum argumentiert am Beispiel der Umweltpolitik, dass die Durchsetzung ökonomischer Lösungen – also etwa von Steuern oder Strafzahlungen – zwar durchaus als „Ökonomisierung der Umweltpolitik“ (S. 211) beschrieben werden kann. Er legt aber auch dar, wie die Entscheidung für bestimmte ökonomische Steuerungsmodelle auf zutiefst moralischen Überlegungen basierte und zu einer „Ökologisierung der Wirtschaft“ führte (S. 206), die durch politische Rahmensetzung gestaltet wurde.
Recht, Popmusik, Wissenschaft und Sport sind Themen des dritten Teils. Sie fächern die Bandbreite möglicher Formen und Konstellationen der Ökonomisierung weiter auf. So konstatiert Louis Pahlow, Veränderungen im Rechtssystem der USA und vor allem der Bundesrepublik seien eher auf politische Probleme und Vorgaben zurückzuführen und weniger auf ökonomisches Effizienzdenken. Desirée Schauz verweist mit Blick auf die Ökonomisierungsdiskurse in der Wissenschaft auf die Notwendigkeit, die historischen Referenzpunkte eines als „normal“ empfundenen Zustands in den gegenwärtigen Diskussionen in den Blick zu nehmen, um so die Dimension eines Wandels hin zu einer Ökonomisierung bestimmen zu können. Als einziger Beitrag erwähnt sie die DDR, wo Wissenschaft an den planwirtschaftlichen Zielen ausgerichtet war, und deutet damit an, dass Ökonomisierung auch für sozialistische Staaten untersucht werden könnte.
Klaus Nathaus zeigt auf, wie im Bereich der Popmusik seit den 1960er-Jahren ein Markt für als authentisch und marktfern geltende Musik und daraus eine „Ökonomisierung des ostentativ Unökonomischen“ (S. 260) entstanden. Einen aufschlussreichen Gegenpol bildet Christian Kleinschmidts Beitrag zur Kommerzialisierung des Sports. Die massenmediale Übertragung sportlicher Großereignisse führte dazu, dass der Amateurstatus seit den 1960er-Jahren aufweichte und Sportartikelhersteller Sportler/innen als Markenbotschafter/innen nutzten. Der Clou dabei: Dass Sportler/innen nun Geld mit ihrer Tätigkeit verdienen durften, interpretiert Nathaus als zeitverzögerte Normalisierung im Vergleich zu anderen Kulturbereichen. Denn in Musik, Theater oder Kunst hatte es so etwas wie den Amateurstatus mit seinem Verbot des Geldverdienens nie gegeben.
Teil vier nimmt schließlich „das Private“ in den Blick und auch hier tut sich ein weites Panorama unterschiedlicher Formen, Intensitätsgrade und Folgen von Ökonomisierung auf. Auf der wirtschaftstheoretischen Ebene untersucht Christopher Neumaier den kontrovers rezipierten Ansatz der New Home Economics, demzufolge Partnerschaft und Familie auf Kosten-Nutzen-Kalkülen basierten. Wie wichtig ein genauer Blick auf den Kontext von Ökonomisierungsdiskursen und -prozessen ist, zeigen die Beiträge von Hannah Ahlheim zu Schlaf, Benjamin Möckel zum ethischen Konsum und von Nicole Kramer zur Altenpflege. In allen drei Bereichen gewann das Denken in ökonomischen Zusammenhängen an Bedeutung. Die Aussagekraft der Beiträge ergibt sich jedoch erst aus der umfassenden Kontextualisierung: Guter Schlaf wurde zwar im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunächst als Ressource gedacht und dann zu einem Markt, doch das Wissen um individuelle Schlafbedürfnisse eröffnete auch Möglichkeiten zur individuellen Gestaltung des Schlafes. Im fairen Handel war das Thema der Marktintegration stets hochumstritten (zumindest in der Bundesrepublik), doch nicht zuletzt die Erwartungen der Kund/innen und Produzent/innen erforderten zumindest ein gewisses Maß an Professionalisierung, um überleben zu können und wahrgenommen zu werden. Und im Bereich der Pflege für Hochbetagte zog wirtschaftliches Effizienzdenken nicht nachträglich in einen bereits bestehenden Sektor ein, sondern war integraler Teil von dessen sozialpolitischem Auf- und Ausbau. Das Pflegeverständnis der Wohlfahrtsverbände sorgte dafür, dass Pflege weiterhin als moralisches Tätigkeitsfeld gedacht und so Grenzen der Ökonomisierung aufgezeigt wurden.
Viele Beiträge des Bandes lösen Aha-Momente aus und zeigen überraschende Facetten des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts, das allzu oft undifferenziert als Ära des Neoliberalismus etikettiert wird. Sie sind fast durchweg quellengesättigt und souverän geschrieben und erhellen auf überzeugende Weise die Frage nach dem Nutzen beziehungsweise der Erklärkraft des Ökonomisierungsbegriffes für die Zeitgeschichte. Zur Diagnose, so scheint es, ist er nur geeignet, wenn damit ein offener Blick für höchst unterschiedliche Formen, Intentionen, Intensitätsgrade, Wechselwirkungen und Bewertungen und für die Gestaltungskräfte von Akteur/innen außerhalb der Wirtschaft einhergeht. Am Ende hat die Leserin nicht nur viel über den Ökonomisierungsbegriff gelernt, sondern auch einen neuen Blick auf die jüngere Zeitgeschichte gewonnen.