Forschungen über das Bischofsamt im frühen und vor allem hohen Mittelalter erleben seit mindestens zwei Jahrzehnten Konjunktur. Neben einer Vielzahl an Studien zu einzelnen Bischöfen oder Bistümern sind vor allem die einflussreichen Arbeiten von Stefan Patzold, Oliver Auge und Florian Mazel zu erwähnen, welche teilweise neue Interpretationsrahmen geschaffen haben. Der vorliegende Sammelband enthält eine Auswahl an Beiträgen des Mailänder Historikers Nicolangelo D’Acunto, wohl einer der besten Kenner des italienischen Episkopats zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert. Die Zusammenstellung von 19 zwischen 2002 und 2017 erschienenen Aufsätzen plus drei Beiträgen, die hier zum ersten Mal gedruckt werden, ist nicht willkürlich, sondern zeichnet sich durch den Versuch aus, anhand von repräsentativen Beispielen eine strukturelle Entwicklungslinie des italienischen Episkopats abzuzeichnen, die schon im Untertitel des Werkes prägnant zum Ausdruck gebracht wird: dal protagonismo politico alla complementarità istituzionale. Anstatt eine Zusammenfassung der einzelnen Beiträge zu liefern, sollen im Folgenden die aus Sicht des Rezensenten relevantesten Forschungsergebnisse resümiert werden.
Die politische Führungsrolle der Bischöfe (protagonismo politico) im Rahmen des italienischen Reichsgefüges bildet den roten Faden der Beiträge im ersten Teil. Zumindest mit Bezug auf das Regnum Italicum gilt der Zeitraum zwischen der Mitte des 10. und dem späten 11. Jahrhundert als die Epoche, in der die Bischöfe vor allem durch die Herausbildung der Stadtherrschaft den Höhepunkt ihrer Einflussmöglichkeiten erreichten. Der genannte Umstand wurde von der älteren Forschung oft als Produkt einer planmäßigen Politik der römisch-deutschen Herrscher interpretiert, welche sich ab Otto dem Großen südlich der Alpen zunehmend auf den Episkopat stützten und diesen mit einer großen Anzahl an Klerikern nordalpiner Herkunft besetzten. D’Acuntos Beiträge relativieren diese Meistererzählung und suggerieren, dass die Einbindung des oberitalienischen Episkopats in das sogenannte Reichskirchensystem – die Verwendung des Begriffes erscheint dem Verfasser durchaus legitim – weitgehend zentripetalen Charakter hatte, denn gewichtige Impulse kamen nicht nur von einer vermeintlichen „königlichen Zentrale“, sondern auch und vor allem von den lokalen geistlichen Eliten, welche auf diese Weise an der Formierung des Regnum mit seinen eigentümlichen Dynamiken und Funktionsweisen entscheidend beitrugen.
Dass es Ansätze einer stärkeren Integration des Episkopats in die Königsherrschaft durch die Übernahme von genuin königlichen Funktionen durch die Bischöfe bereits vor der Durchsetzung der Ottonen in Italien gegeben hat, zeigen die Initiativen des Bischofs Atto von Vercelli, auf die der Verfasser im Beitrag I eingeht (S. 4–15). Die Bischöfe des 10. und 11. Jahrhunderts waren allerdings nicht nur um die Konsolidierung ihrer Stadtherrschaft, sondern auch um die Umsetzung einer bischöflichen Kirchenreform bemüht, deren Grundpfeiler in der Rekuperation der res ecclesiae und in der Gründung von Klöstern bischöflichen Rechtes ausgemacht werden können (Beiträge II und VI, S. 17–48, 131–151). Daraus, dass eine Verwirklichung dieser Ziele ohne eine allgemeine politisch-militärische Stabilität unmöglich gewesen wäre, erklärt sich die dezidierte Unterstützung der „Italienpolitik“ Ottos III., Heinrichs II. und Konrads II., welche als Stabilisierungsfaktoren empfunden wurden.
Anregungen, welcher es zur weiteren Vertiefung bedarf, befinden sich in den Aufsätzen V, VII und VIII, in denen es um die um die Bischöfe zur Zeit Mathildes von Canossa (S. 111–129) sowie um die Positionierung einzelner Prälaten aus dem mittelitalienischen Raum (bes. Umbrien und Mark, S. 153–165, 167–188) während des Investiturstreites geht: In Anlehnung an die Studien von Giancarlo Andenna zur Turiner Mark erkennt D’Acunto im Canossaner Herrschaftsbereich die allmähliche Herausbildung einer markgräflichen Kirche (chiesa marchionale) mit eigenen Spezifika, welche sich im Laufe des 11. Jahrhunderts als Alternative zur traditionellen Reichskirche profilierte; die Schwankungen mancher mittelitalienischen Bischöfe im Investiturstreit – erwähnt sei das Beispiel des Bistum Rimini – interpretiert D’Acunto u.a. im Lichte ihrer geographischen Lage, denn sie wirkten in einem Grenzgebiet, wo die Interesse des Papsttums, der Erzbischöfe von Ravenna und teilweise auch der Canossa in Konflikt traten.
Von einer politischen Führungsrolle der italienischen Bischöfe kann nach der Zäsur des Investiturstreites nicht mehr die Rede sein. Die Bischöfe des 12. und 13. Jahrhunderts partizipierten länger nicht mehr an der königlichen Herrschaft und mussten vielmehr ihre Handlungsspielräume im Austausch mit dem zentralisierenden Papsttum und der expandierenden Stadtkommune erarbeiten. Diese veränderte Lage wird in den Beiträgen des zweiten und dritten Teiles deutlich, in denen es jeweils um Bistümer der Lombardei und Umbriens geht. Der Beitrag XI skizziert die Fortschritte der päpstlichen Zentralisierung im Erzbistum Mailand des 12. Jahrhunderts und betont die maßgebliche Rolle der Schismen für die Verfeinerung der Instrumente päpstlicher Regierung (S. 221–230).
Die Entwicklung der pastoralen Tätigkeit der Bischöfe in der longue durée steht im Mittelpunkt des umfangreichen Aufsatzes XII, in dem es um das Bistum Brescia zwischen dem 9. und dem späten 13. Jahrhundert geht (S. 231–336). Vor teilweise andere Herausforderungen waren die umbrischen Bischöfe des 12. und 13. Jahrhunderts gestellt: In Mittelitalien verfolgte nämlich das Papsttum nicht nur eine kirchliche Zentralisierung, sondern auch die Herstellung einer territorialen Herrschaft. Wie stark die Handlungsspielräume der Bischöfe dieser Region zwischen dem 12. und dem 13. Jahrhundert verringert wurden, zeigt D’Acunto im Beitrag XV, in welchem auch der Aufstieg der Bettelorden und dessen Auswirkung auf das Bischofsamt thematisiert werden (S. 373–405). Aus der Inanspruchnahme lokaler Notare sowie der Ernennung von notarii episcopi ergaben sich für die italienischen Bischöfe des hohen und späten Mittelalters zusätzliche Einwirkungsmöglichkeiten auf die städtische Gesellschaft, wie im Aufsatz XVI am Beispiel der Verhältnisse zwischen Bischöfen von Assisi und örtlichen Notaren geschildert wird (S. 407–425).
Die Aufsätze des vierten und letzten Teiles unterscheiden sich von den restlichen durch einen dezidierteren Bezug auf ausgewählte Quellen, in denen es um Assisi und dessen Bischöfe geht. Besondere Aufmerksamkeit wird den beiden Gestalten Guido I. und Guido II. geschenkt, welche Zeugen des Aufkommens der franziskanischen fraternitas waren und sich in ständiger Interaktion mit Papsttum und römischer Kurie befanden (Beiträge XVIII–XXI, S. 441–503). Der abschließende Beitrag (S. 505–542) liefert die Edition einer unbekannten Redaktion der Exkommunikation Friedrichs II. von 1245, die im Kapitelarchiv von S. Rufino zu Assisi überliefert wird und die Intensität der Beziehungen zwischen Papsttum und Assisi im 13. Jahrhundert einmal mehr zeigt. Ein Personen- und Ortsnamenregister beschließt den Band (S. 543–568).
Trotz der Heterogenität der Beiträge erweist sich die vorliegende Aufsatzsammlung als eine wertvolle Hilfestellung, um die Evolution des Bischofsamtes im ober- und mittelitalienischen Raum zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert zu verstehen. Die große theologische und kanonistische Komplexität des officium episcopale erlaubte es deren Trägern, sich dem changierenden Kontext anzupassen und sehr unterschiedliche Funktionen im Rahmen von ecclesia, regnum, civitas sowie der societas christiana zu übernehmen. Doch während Themen wie Bischof und Kommune oder Bischof und Papsttum von der Forschung relativ ausführlich behandelt wurden, bleibt auf manchen von D’Acunto bearbeiteten Gebieten – etwa zum zentripetalen Charakter der italienischen Reichskirche oder zur chiesa marchionale in Piemont und dem Canossaner Herrschaftsbereich – noch Forschungsarbeit zu leisten. Lohnen würde sich auch, die Veränderung des Bischofsamtes in Italien in den Jahrzehnten 1090–1130 näher zu untersuchen – eine Phase, die auch im vorliegenden Band nur am Rande Beachtung gefunden hat.