1957 fand in dem kleinen Dorf Pugwash in der kanadischen Provinz Nova Scotia eine Wissenschaftlerkonferenz statt (die Anwesenden waren zu diesem Zeitpunkt noch alle Männer), deren Zweck es war, durch wissenschaftlichen Austausch über die Blockgrenzen hinweg internationale Entspannung zu ermöglichen. „Pugwash“ wurde anschließend der Name für die Organisation und die von ihr veranstalteten Folge-Konferenzen. Von Beginn an wurde Pugwash insbesondere in den USA kommunistischer Umtriebe verdächtigt und die Geschichte von Pugwash ist vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts nie unumstritten gewesen. Es ist das Verdienst des vorliegenden Sammelbandes, erstmals umfassend und auf breiter Quellengrundlage die Geschichte von Pugwash für die Jahre 1955 bis 1965 auszuleuchten, ohne dabei hagiographischen oder verdammenden Tendenzen zu verfallen.
Zu den bestimmenden Ausgangsfragen für alle Beiträge zählt, wie die jeweilige nationale Verankerung der in Pugwash organisierten Wissenschaftler:innen ihr Handeln prägte, Möglichkeiten eröffnete, aber auch Grenzen setzte. Dies ist insbesondere deshalb eine fruchtbare Fragestellung, da sie die Pugwash-Rhetorik der über alle politischen und geografischen Grenzen durch die „Sprache der Wissenschaft“ verbundenen Wissenschaftler:innen gegen den Strich bürstet.
Der Band beginnt mit einem Beitrag von Geoffrey Roberts zur Rolle des Physikers Frédéric Joliot-Curie sowie der „World Federation of Scientific Workers“ (WFSW) bei der Gründung von Pugwash. Der Beitrag zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er das Bild der vollkommen abgeschotteten Sowjetunion in den letzten Jahren der Herrschaft Stalins relativiert. Vielmehr gab es noch zu Lebzeiten Stalins über die WFSW und den „World Peace Council“ (WPC) transnationale Kontakte zwischen Wissenschaftlern, auf die Pugwash nach Stalins Tod aufbauen konnte. Es folgt ein Aufsatz von Carola Sachse zum schwierigen Verhältnis zwischen den Pugwash-Wissenschaftler:innen und dem für die Finanzierung der ersten Konferenzen existentiell wichtigen Philantropen Cyrus Eaton. Eaton, in der US-Presse auch als „Khrushchev’s Favorite Capitalist“ (S. 94) bekannt, versuchte immer wieder, die Pugwash-Konferenzen in der Öffentlichkeit als unterstützendes Element seines persönlichen Engagements für eine Verständigungspolitik mit der Sowjetunion darzustellen. Da der in Washingtoner Kreisen zweifelhafte Ruf Eatons aber das Bemühen um Kontakte in die Politik erschwerte, waren die Wissenschaftler:innen schlussendlich gezwungen, sich zwischen Eatons Finanzierungshilfen und ihrem Ruf als neutrale und objektive Vermittler:innen von Wissen zu entscheiden.
Der dritte Beitrag von Fabian Lüscher widmet sich der ersten Generation sowjetischer Wissenschaftler, die in Pugwash aktiv waren. Dabei stellt er insbesondere das zwiespältige Verhältnis zwischen ihren Loyalitäten gegenüber Staat und Partei sowie ihrer Loyalität gegenüber der „Gemeinschaft der Wissenschaftler:innen“ in den Mittelpunkt. Aus offizieller Perspektive gab es diesen Widerspruch nicht, da die Arbeit fortschrittlicher Wissenschaftler:innen letztendlich immer ein Beitrag zum Aufbau des Kommunismus war. In der Realität von Pugwash mussten die sowjetischen Wissenschaftler einerseits die Parteilinie vertreten, da sie vom KGB überwacht wurden. Andererseits mussten sie auch in ihren westlichen Gegenübern den Eindruck erwecken, dass sie als Wissenschaftler in Moskau Gehör fanden, auch wenn die in Pugwash entwickelten Positionen einmal von der Parteilinie abweichen sollten. Daraus resultierte ein Dilemma, welches permanentes Abwägen notwendig machte.
Der folgende Aufsatz von Paul Robinson stellt die langwierigen Folgen der McCarthy-Ära und des Anti-Kommunismus in den USA heraus. Kurioserweise sahen die US-amerikanischen Pugwash-Teilnehmer:innen darin weniger eine Gefahr, als sich unwissentlich von philanthropischen Organisationen finanziell abhängig zu machen, die wiederum von der CIA finanziert wurden. Sie befürchteten unter diesen Umständen, innerhalb von Pugwash gegenüber ihren westeuropäischen Partnern an Einfluss zu verlieren. Gleichzeitig übersahen sie dabei, dass die anti-kommunistischen Diffamierungen während der Präsidentschaft Lyndon B. Johnsons zu einem Verlust an Kontakten in die Regierung und erschwerter Akquise von Fördermitteln führten.
Der fünfte Beitrag zur chinesischen (Nicht-)Teilnahme an Pugwash kann als einer der faszinierendsten des Bandes gelten. Gordon Barret arbeitet darin heraus, wie Pugwash auch als transnationales Netzwerk von Wissenschaftler:innen fungierte. Über zwei Jahrzehnte versuchte ein Netzwerk um die britische Chemikerin Dorothy Hodgkin Kontakt zu dem chinesischen Physiker Zhou Peiyuan zu halten. Trotz der zeitweilig schwierigen innenpolitischen Situation Chinas im Zeichen der Kulturrevolution hatte dieses langanhaltende Engagement Erfolg und führte 1985 zur erstmaligen Wiederteilnahme einer chinesischen Delegation seit 1960. Doch um diesen Erfolg möglich zu machen, musste nicht zuletzt die chinesische Zensur überwunden werden. Dies geschah unter anderem, indem „zufällige“ Begegnungen zwischen Pugwash-Mitgliedern und Peiyuan während dessen Reisen nach Europa, die offiziell anderen Zwecken dienten, organisiert wurden.
Der Beitrag von Silke Fengler zu Pugwash in Österreich behandelt eine der wenigen Pugwash-Gruppen, die kontinuierlich engen Austausch mit ihrer Regierung vorweisen konnte. Die Besonderheiten Österreichs führten zu einer sehr spezifischen Pugwash-Sektion. Auf der einen Seite hatte sie beste Kontakte zur SPÖ und insbesondere zu Außenminister Bruno Kreisky. Dieser sah in Pugwash eine Möglichkeit, Österreich als internationalen Verhandlungsort zwischen Ost und West zu profilieren. Auf der anderen Seite war die österreichische Pugwash-Gruppe, trotz der Rhetorik von Austausch und Offenheit, auf nationaler Ebene stramm anti-kommunistisch ausgerichtet. Zudem ergab sich eine besondere Verbindung der Interessen der in Pugwash aktiven österreichischen Physiker und der Regierung. Beide wollten das zivile Atomprogramm Österreichs gegen Kritik abschirmen, die auch in Österreich in Folge der internationalen Kontroverse um Fallout aufgekommen war und insbesondere von kommunistischen Intellektuellen lanciert wurde.
Doubravka Olšáková beschäftigt sich in ihrem folgenden Beitrag mit der Rolle und dem Spielraum tschechoslowakischer Wissenschaftler:innen in Pugwash. Damit bringt sie die wichtige Perspektive eines sowjetischen „Satelliten“ mit ein. Sie stellt dabei heraus, wie die Bedeutung von Pugwash für die sowjetische Führungsspitze wuchs, je mehr die Frontorganisationen WFSW und WPC an Einfluss im Westen verloren. Gleichzeitig ergab sich daraus das Dilemma, dass Pugwash aufgrund seiner transnationalen Struktur und wenig hierarchischen Organisation von Moskau kaum zu kontrollieren war. Dies wiederum eröffnete den tschechoslowakischen Wissenschaftler:innen bis zur Niederschlagung des Prager Frühlings große Freiräume, eigene Positionen und Ideen zu entwickeln.
Der letzte Beitrag von Alison Kraft widmet sich der europäischen und deutsch-deutschen Dimension von Pugwash. Dabei standen die Wissenschaftler der DDR bei Konferenzen, die in NATO-Ländern stattfanden, regelmäßig vor dem Problem, dass sie aufgrund der Hallstein-Doktrin keine Visa für die Einreise erhielten. Kraft zeigt, wie die west- und ostdeutschen Wissenschaftler Pugwash dazu nutzten, trotzdem Kontakte aufzubauen, indem sie sich für die Bevorzugung von Konferenz-Orten einsetzten, die Einreisenden aus der DDR Visa erteilten. Darüber hinaus zeigt Kraft, wie die Veränderung der geopolitischen Rahmenbedingungen zu Kontroversen um und innerhalb Pugwashs führten. Das stärker werdende deutsch-deutsche aber auch ost-europäische Engagement innerhalb von Pugwash brachte heikle Fragen nach atomwaffenfreien Zonen in Europa und die damit verbundene deutsche Frage auf die Tagesordnung von Pugwash-Konferenzen.
Während der Sammelband also eine große Bandbreite an unterschiedlichen (nationalen) Perspektiven auf Pugwash bietet und in dieser Hinsicht sehr zu loben ist, setzt hier auch die Kritik an. Denn die vielen Beiträge, die immer wieder explizite und implizite Anknüpfungspunkte untereinander aufweisen, stehen am Ende der Lektüre doch nebeneinander. So verweisen beispielsweise die Beiträge von Robinson, Olšáková und Kraft aus ihrer jeweiligen Perspektive auf die Konferenz von Karlovy Vary im Jahr 1964 als wichtiges Ereignis. In Folge der Kritik an dem Konzept der „Multilateral Force“ (MLF), die auf der Konferenz geäußert wurde, verschlechterte sich das Verhältnis der US-amerikanischen Sektion von Pugwash und der US-Regierung drastisch (Robinson); aus tschechoslowakischer Perspektive war die Konferenz im eigenen Land samt hohem Anteil an US-Regierungsberatern, wie Bentley Glass, Hans Morgenthau und Henry Kissinger, ein Durchbruch zum internationalen wissenschaftlichen Austausch (Olšáková); aus europäischer Perspektive zeigten die Ergebnisse der Konferenz, einschließlich der Ablehnung der MLF, das gewachsene Selbstverständnis und den gesteigerten Einfluss innerhalb von Pugwash (Kraft). Hier hätte ein abschließendes Kapitel der Herausgeberinnen abhelfen können, welches diese Anknüpfungspunkte analytisch verbunden und durchdrungen hätte, indem es beispielsweise nach den Wechselbeziehungen auf der Konferenz von Karlovy Vary gefragt hätte. Dafür wird der Band aber durch einen abschließenden und sehr anregenden Kommentar von Matthew Evangelista abgerundet, der darüber hinaus weiterreichende und insbesondere vergleichende Perspektiven zur Pugwash-Geschichte empfiehlt.