Jan Grossarth legt mit „Die Vergiftung der Erde“ eine Monografie vor, die die Metapher des Giftes als politisches Argument vornehmlich in Deutschland untersucht und historisiert. Der Klappentext verspricht, dass das Buch damit einer „kulturellen Leitmetapher in ökologischen Diskursen“ nachspüren und historiographische, natur- und agrarwissenschaftliche Elemente miteinander verbinden werde. Im Kern fragt Grossarth danach, wie Gift in umwelt- und agrarpolitischen Diskursen zum Argument wird, wer in welchem Kontext, warum von Gift spricht und welche historischen Bezüge dem Begriff zugrunde liegen.
Gegenwärtig ist Grossarth Leiter des Medien- und Kommunikationsstabes im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Zuvor studierte er Volkswirtschaftslehre und arbeitete als Journalist zuletzt bei der FAZ. Grossarth ist Träger von mehreren journalistischen Preisen. Die hier besprochene Monographie basiert auf der an der Universität in Regensburg vorgelegten, kulturwissenschaftlichen Dissertationsschrift.
Die Studie baut auf einem breit gefächerten Forschungsstand auf. Dies gilt gerade für eng mit dem Thema verbundene historiographische Studien zu Pestiziden (hier als Sammelbegriff für Insektizide, Herbizide und Fungizide verwendet), die zum Teil auch die Dimension des Giftes jenseits von Landwirtschaft und Krieg thematisieren.1 Während der Schwerpunkt bislang auf der Erforschung der US-amerikanischen, französischen und schweizerischen Chemie- und Umweltgeschichte lag, besteht für Deutschland noch eine Forschungslücke. Die „Vergiftung der Erde“ fügt ihren Teil dazu bei, um dieses Desiderat zu schließen. Beispielhaft seien nur zwei Studien angeführt, die vielleicht am ehesten zeigen können, wie die von Grossarth beschriebenen Diskurse auf deren gesellschaftliche Wirkung hin untersucht werden könnten. Durch eine Analyse des Diskurses um den Begriff des „Schädlings“ suchte Sarah Jansen den Mord an den europäischen Juden während des Nationalsozialismus durch Praktiken der angewandten Entomologie zu erklären.2 Breit rezipiert wurde zudem Lukas Straumanns Monographie über die Geschichte des Pflanzenschutzes in der Schweiz im Feld von Wissenschaft, Industrie und Politik.3 Hier wird gezeigt, was eine kontextbezogene Analyse von Diskursen um Pestizide leisten und wie die Erfolgsgeschichte des Pestizid-Einsatzes (hier bis 1952) erklärt werden kann.
Seinen Text gliedert Grossarth in zwei Hälften. Einer recht umfangreichen Einleitung folgt der erste Teil, in dem „Gift“ historisiert wird. Das informative und aufschlussreiche Kapitel verweist unter anderem auf die Komplexität der Definition von Gift. Dem ist die Darstellung von Traditionslinien der Verwendung der Giftmetapher bei Seite gestellt, was eine/n Leser/in verwirren kann, der/die eine klare Abgrenzung zwischen Metapher und naturwissenschaftlichen Erklärungen erwartet oder mehr über die Funktion der weiten historischen Rückschau für das Argument erfahren möchte. Dieser Rückblick geht mitunter weit über die Industrialisierung hinaus. So werden beispielsweise sogenannte, zeitgenössisch den Juden zugeschriebene „Brunnenvergiftungen“ während des Mittelalters erwähnt. Das Kapitel hat in weiten Teilen Sachbuchcharakter und stellt in seiner zweiten Hälfte, in der es die Geschichte der Pestizide thematisiert, diese in bekannter, bruchloser und gradliniger Manier dar: Der Siegeszug der Pflanzenschutzmittel beginne so am Ende des Ersten Weltkrieges und erhalte neue Dynamik durch die Erfindung des DDT im Jahr 1942. Erst Rachel Carsons Buch „Der stumme Frühling“ (1962) habe eine Kehrtwende eingeläutet und einer entstehenden Umweltbewegung Vorschub geleistet, deren Protest schließlich zu Verboten und Reglementierungen geführt habe.
Der zweite Teil des Buches, der dessen Schwerpunkt bildet, stellt periodisch den Konjunkturen von Gift-Leitmetaphern im zeitgenössischen Kontext nach. Der erste vom Autor abgesteckte Zeitraum reicht von 1949 bis 1962. Dieser sei von tradierten Vorstellungen des NS geprägt gewesen, zugleich habe sich eine nur marginale Gegenöffentlichkeit zur Technikaffinität gebildet. Durch Carsons Bestseller habe sich im folgenden Zeitraum von 1963 bis 1986 die Semantik von Akteuren der Umweltbewegung gewandelt – weg von der Schuld einzelner hin zu einer kollektiven Vergiftung der Erde. Wobei Umweltkatastrophen und Skandale von diesen Akteuren als Kriegszustand gedeutet worden seien und marxistische Ansätze sowie Abhängigkeitsvorstellungen von der Industrie zur weiteren Verschärfung des Diskurses geführt hätten. Die Jahre von 1987 bis 2000, beginnend mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, seien hingegen von Vernetzung der Akteure und einem globaler werdenden Austausch geprägt gewesen. Ebenso seien Vorstellung von alternativen-spirituellen Heilungskonzepten in dem Zeitraum wiederaufgelebt worden. Ab 2001 sei die Giftmetapher zum bloßen „Dramatisierungsmittel“ journalistischer Texte geworden, da neue Medien und die stetig wachsende Anzahl von Themen die Konkurrenz um die öffentliche Aufmerksamkeit verschärft hätten. Die genaue temporale Gliederung des Kapitels macht die Relevanz von Zeiträumen stark. Wünschenswert wäre eine weniger eklektische Zusammenstellung von Giftmetaphern gewesen, die eventuell gar Zäsuren wie die von 1962 und 1986 hinterfragt, um den Pestizid-Diskurs in der BRD besser einordnen und seine Eigenheiten verstehen zu können. Wie erklärt sich so beispielsweise die zeitliche Lücke zwischen Carsons Bestseller und der Verschärfung des Pflanzenschutzgesetzes (1968) oder dem DDT-Verbot (USA 1972, BRD 1977) und wie wirkten die Katastrophen in den Chemiefabriken von Seveso (1976) und Bhopal (1984) auf den bundesdeutschen Diskurs zu den Gefahren bei der Herstellung von Pflanzenschutzmitteln?
Das Schlusskapitel verweist auf den häufig unreflektierten Umgang mit der Giftmetapher von Akteuren in Öffentlichkeit, Politik und auch Naturwissenschaft und auf seine kulturell bedingte, enorme Dehn- und Übertragbarkeit in verschiedene Kontexte. Doch auf eine Beantwortung der Frage beispielsweise, wie die herausgearbeiteten Metaphern als kontextgebundene Argumente eingesetzt wurden und was die dahinterstehenden Akteure erreichen wollten, wartet der/die Leser/in vergeblich.
Die im Anspruch kulturwissenschaftlich angelegte Studie bleibt dem journalistischen Stil verhaftet. Grossarths Buch ist damit nahe an der gegenwärtigen Politik angesiedelt. Die herausragende Stärke seiner Arbeit ist die Aktualität der Thematik und die konsequente Analyse von Diskursen bis in die Gegenwart (Stichwort Glyphosat). Die Historisierung der Debatte macht eine engere Auswahl der Quellen notwendig, deren Auswahl hier etwas unklar bleibt. Grossarth beschränkt seine Analyse im Hauptteil des Buches, der nach 1945 ansetzt, auf Artikel der Zeit und der FAZ. Warum sich gerade diese eher bildungsbürgerlichen Zeitungen dazu eignen, die Fragestellung zu beantworten, lässt er jedoch offen. Der Verweis auf die Erfahrung des Autors, aus der die „Kenntnis relevanter Werke“ (S. 47) resultiere und die daher wohl zur richtigen Auswahl der ergänzenden Literatur führen soll, mutet dazu schon fast ein wenig bizarr an. Aus der Quellenauswahl resultiert auch, dass in der Studie die genauere Konstellation der maßgeblichen Akteursgruppen offen bleibt, genauso wie sie sich in den in erster Linie politischen Diskurs einzuschreiben suchten. Der interdisziplinäre Ansatz verdient hingegen Respekt. Doch erscheint die Perspektive von Naturwissenschaftler/innen besser dargestellt als viele Stimmen von Journalist/innen und Aktivist/innen, die die Metapher des Giftes als Argument gegen den Einsatz von Pestiziden vorbrachten. Was sich hinter dem Wort interdisziplinär verbirgt, bleibt zwar weithin umstritten, eine Auseinandersetzung mit den häufig einhergehenden verschiedenen theoretischen Ansätzen und methodischen Zugängen ist in diesem Text jedenfalls nicht damit gemeint. Auch hier übertreffen die Idee und der Anspruch des Buches deren Ausführung.
Trotz aller Kritik kann Grossarths Buch als grundlegend angesehen werden. Die Studie ordnet erstmals informativ das breite Panorama der Ereignisse um die diskursive Verwendung von Gift und Pestiziden. Ihre gute Lesbarkeit spiegelt den professionellen Hintergrund des Autors wider, der auch für ein breites Publikum schreiben kann. Der Text weckt Interesse am Thema und ebnet weiterführenden Fragen, wie den oben skizzierten, den Weg. Im guten Sinne ist ausdrücklich die politische Intention des Autors hervorzuheben, die nicht wissenschaftlich verschleiert wird, sondern mit dem Appell für reflektiertes Argumentieren in der Öffentlichkeit endet.
Anmerkungen:
1 Bspw. Ernst Homburg / Elisabeth Vaupel (Hrsg.), Hazardous Chemicals. Agents of Risk and Change, 1800–2000, New York 2019.
2 Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hätten Vertreter dieser Disziplin die Wahrnehmung, die Erfassung und die Bekämpfungspraxis von „Schädlingen“ als Dispositiv entwickelt. Dies habe schließlich der Schoah den Weg bereitet, was in dieser Geschichte eindrucksvoll, aber fast ein wenig zu zwangsläufig dargestellt ist. Sarah Jansen, „Schädlinge“. Geschichte eines wissenschaftlichen und politischen Konstrukts 1840–1920, Frankfurt am Main 2003.
3 Lukas Straumann, Nützliche Schädlinge. Angewandte Entomologie, chemische Industrie und Landwirtschaftspolitik in der Schweiz 1874–1952, Zürich 2005.