Die Diskussionen um den Orientalismus als konstitutivem Bestandteil der europäischen Kolonialgeschichte haben das Nachenken darüber angestoßen, ob es parallele Tendenzen auch in der Geschichte des Russischen Reiches in seinem Verhältnis zu den nicht-europäischen Bevölkerungen gegeben hat. Ulrich Hofmeister, Universitäts-Assistent an der Universität Wien, konzentriert sich hierbei auf den Aspekt der Zivilisierungsmission Russlands gegenüber Zentralasien. Er beschreibt seinen Ansatz als geistesgeschichtlich und diskurstheoretisch. Dafür hat er ca. 300 Texte eines Elitendiskurses von Journalisten, Reisenden, Beamten und Militärs ausgewertet. Die wichtigsten Teilnehmer werden mit Kurzbiographien vorgestellt. Der Schwerpunkt umfasst die Zeit seit den 1860er-Jahren mit einem kursorischen Ausblick auf die sowjetische Periode. Dies geschieht immer mit einem vergleichenden Blick auf parallele britische und französische Debatten.
Die Besetzung Zentralasiens unterschied sich von vorhergehenden Eroberungen dadurch, dass seine Integration ins Reich nicht mehr über eine Kooperation mit den lokalen Eliten erfolgte. Zentralasien mit seinen einheimischen Einwohnern (tuzemcy) erhielt faktisch den Status einer Kolonie. Schon die Eroberung wurde als ein Akt der Zivilisierung dargestellt. Die weitere Legitimation der Beherrschung diskutiert Hofmeister unter dem Aspekt der Zivilisierungsmission. Obwohl die russischen Eliten – im Unterschied zu den britischen und französischen – sich selbst nicht an der Spitze der Zivilisation sahen, begriffen sie sich doch im Verhältnis zu den „wilden“ Völkern Zentralasiens als Kulturträger. Die vielen Varianten dieses oft stereotypen Diskurses werden – manchmal etwas zu umständlich und sich wiederholend – in den ersten vier Kapiteln vorgestellt.
Die Diskussionen um die russische Zivilisierungsmission zeichneten sich durch ihre Uneindeutigkeit und begriffliche Unschärfe aus. Hofmeister ordnet sie ein in umfassendere ideologische Systeme vom klassischen Aufklärungspathos des ausgehenden 18. Jahrhunderts über den Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts über den imperial konnotierten russischen Nationalismus bis zum Sozialdarwinismus. Und sie lassen sich wenig modifiziert auch im Bolschewismus erkennen. Konkret bedeutete dies, dass die Zivilisierungsmission die Hebung des zivilisatorischen Niveaus durch formelle (säkulare) Ausbildung ebenso meinen konnte wie die schon im 19. Jahrhundert propagierte nebelhafte „Annäherung“ und „Verschmelzung“ mit dem übrigen Reich bis hin zu Varianten von Russifizierung. Letztere konnte sowohl auf eine wie auch immer geartete staatsbürgerliche Integration (graždanstvennost’) als auch auf eine im engeren Sinne ethnische Russifizierung zielen. Gerühmt wurde zudem als spezifisch russische Variante des Umgangs mit der einheimischen Bevölkerung, dass es keine so scharfe Trennung zwischen Kolonialherren und Kolonisierten gab wie in den westlichen Kolonien. Die Uneindeutigkeit all dieser Rezepte und Schlagworte sollte allerdings nicht die faktische Differenz zwischen den kolonialen Eliten und den tuzemcy aufheben, denn eine vom kolonialen Status befreiende Emanzipation, die auf Eigenständigkeit, Eigenstaatlichkeit oder gar Unabhängigkeit hinauslaufen würde, war unvorstellbar. In modischer Formulierung: Das „Othering“ mochte sich mit der Zivilisierung der Einheimischen verändern, sollte aber nicht aufgehoben werden trotz Annäherung und Verschmelzung als Visionen in einer fernen Zukunft.
Hofmeister unterscheidet zwei Phasen. Die eher optimistische Sicht bis in die 1870er- und 1880er-Jahre setzte auf das attraktive Vorbild russischer säkularer Kultur in der Hoffnung auf spontane Nachahmungseffekte unter der muslimischen Bevölkerung. Deshalb wurde in deren Gesetze und Gebräuche, das Gewohnheitsrecht (adat) bei den Nomaden und die Scharia bei den Sarten, kaum eingegriffen. Dies geschah auch aus Angst, keine negativen Reaktionen der stark vom Islam geprägten Sarten zu provozieren. Die eher pessimistisch geprägten Debatten seit den 1890er-Jahren, befeuert durch den Aufruhr von 1898 in Andijan, stießen sich an der Beharrungskraft des Islam, seinem „Fanatismus“ besonders unter den Sarten, und an der Konkurrenz mit den djadidistischen Reformern. Es handelte sich bei Letzteren um eine Generation manchmal in russischen Einrichtungen ausgebildeter Muslime, die sich für eine nach europäischem Vorbild ausgerichtete Modernisierung der Welt der Muslime einsetzte. Gegen eine solche Modernisierung suchte die russische Verwaltung dann doch Unterstützung bei den konservativen muslimischen Eliten.
Den Umschlag der Debatten ins Pessimistische und oft auch schon ins Feindselige erklärt Hofmeister mit den politischen Praktiken vor Ort: Wer konnte überhaupt als Kulturträger funktionieren und welche Projekte mochten die Überlegenheit europäischer Zivilisation repräsentieren? Um diese Frage zu beantworten, verlässt Hofmeister die Ebene des Diskurses und misst Erfolge und Misserfolge an verschiedenen Parametern von „Zivilisierung“: Dem Bahnbau kam hier wohl die größte Bedeutung zu, nicht zuletzt weil er – neben wirtschaftlichen und strategischen Aspekten – den muslimischen Einwohnern die eigentlich unerwünschte Hadj, die Pilgerfahrt nach Mekka, erleichterte. Einen gewissen Erfolg verzeichnete der Bau von Krankenhäusern und Frauenambulatorien. Als Misserfolg galten das säkulare Schulwesen, das mit den Maktab und Medressen (Koranschulen unterschiedlicher Stufung) und selbst mit den wenigen djadidistischen Reformschulen bei den Muslimen nicht konkurrieren konnte. Ein völliger Fehlschlag war die Propagierung von Frauenemanzipation. Zunächst scheiterten auch die ersten größeren Bewässerungsprojekte, die eigentlich die Überlegenheit europäischer Technik hatten beweisen sollen.
Nur noch negative Folgen für die Einheimischen zeitigte die forcierte Migration von russischen Bauern in die Steppengebiete und ins Semireč’e-Gebiet und von Arbeitern in die Städte. Russische Bauern und Arbeiter, die aus der Sicht der russischen Eliten ebenso wie die Muslime als zivilisierungsbedürftig galten, konnten kaum als Träger einer überlegenen Kultur funktionieren. Zum vermutlich wichtigsten Stein des Anstoßes wurden dann Inkompetenz und Korruption der russischen wie der lokalen einheimischen Verwaltung. War die Beseitigung der Herrschaft der Chanate mit ihrer Korruption und Gewalttätigkeit legitimiert worden, so erwies sich das Versprechen einer auf Gesetz und Ordnung basierenden russischen Herrschaft als Illusion.
Dies zeigte sich im Aufstand von 1916, als die muslimische Geistlichkeit wie die Nomaden gegen die Rekrutierung junger Muslime als Bausoldaten in die russische Armee revoltierten. Ausgelöst wurde der Aufstand durch die korrupten Praktiken der Rekrutierung vor Ort, aber mehr noch durch den Landraub und die Verdrängung der Nomaden durch die russische Einwanderung.
Die Fixierung auf die Debatten um die Zivilisierungsmission marginalisiert das mindestens ebenso bedeutsame Projekt der forcierten Migration von Bauern und die damit verbundene Verdrängung der Nomaden. Zur Not ließ sich zwar die russische Zuwanderung als Bestandteil der Zivilisierungsmission ausgeben und die Russen konnten als „ältere Brüder“ (A. N. Kuropatkin) deklariert werden, welche die Sesshaftmachung der Nomaden erzwangen. Faktisch geschah dies aber unter der Hinnahme des Landraubs und der Marginalisierung der Nomaden. Ihre Konzentration in Reservaten und ihr prospektives Aussterben wurden immerhin schon angedacht. Hier kamen bereits Legitimationsmuster und Praktiken zur Geltung, wie sie typisch für Siedlerkolonien waren. Ob sie wie auch die späteren Argumente und noch brutaleren Praktiken der Bolschewiki unter dem Begriff der Zivilisierungsmission zu fassen sind, darauf geht Hofmeister nicht weiter ein.
Verdienstvoll ist die Konfrontation der Zivilisierungsmision mit den tatsächlichen „Errungenschaften“ russischer Herrschaft. Aber die Fixierung auf die russische Variante der Zivilisierungsmission verengt den Rahmen öffentlicher Debatten über das Verhältnis zu Zentralasien und zu seiner Bevölkerung. Wirtschaftliche, militärstrategische und zuletzt auch bevölkerungspolitische Aspekte in den Debatten werden zu sehr marginalisiert. Damit bleibt auch das Gewicht der „Diskurse“ um die russische Zivilisierungsmission im Unklaren. Denn „Diskurs“, im ursprünglichen Sinn als eine machtgestützte Debatte verstanden, verschweigt in der Regel mehr als sie offenlegt. Bei einem solchen Zugang hätte stärker aufgezeigt werden können, was die Diskurse verbargen oder welche anderen Interessen und Debatten mit der Zivilisierungsmission konkurrierten oder verdrängt wurden.