D. Sangmeister u.a. (Hrsg.): Deutsche Pornographie in der Aufklärung

Cover
Title
Deutsche Pornographie in der Aufklärung.


Editor(s)
Sangmeister, Dirk; Mulsow, Martin
Published
Göttingen 2018: Wallstein Verlag
Extent
753 S.
Price
€ 29,90
Reviewed for H-Soz-Kult by
Wolfgang Burgdorf, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Nicht nur, wer sich für Pornografie interessiert, sollte dieses Buch lesen. 22 Autorinnen und Autoren räumen in vier Abteilungen – Grundlegungen, Anfänge, Entwicklungen und Sammlungen – mit dem Mythos auf, die sittsamen Deutschen des 18. Jahrhunderts hätten kaum erotische oder gar pornografische Texte verfasst. Immerhin lassen sich ca. 300 nachweisen, wenngleich viele die Zeiten nicht überdauert haben – wohl zurecht, ist nach der Lektüre des zitatreichen Bandes zu konstatieren. Deutsche Pornografie aus dem 18. Jahrhundert war oft moralinhaltig – nach dem Muster: Mädchen lässt sich verführen und landet in der Gosse. Autoren machten die Sittenlosigkeit zu ihrem Geschäftsmodell und empörten sich gleichzeitig über das, wovon sie lebten. Die lustvolle Eleganz, der Esprit oder auch nur die Freude an der Lust, die sich in frühneuzeitlichen Werken dieses Genres aus Italien, England und Frankreich zeigen, fehlen allzu oft, obwohl es Ausnahmen gab.

Der erste Überblicksbeitrag von Dirk Sangmeister „Deutsche Pornographie in der Aufklärung“ hat mit 220 Seiten monografische Ausmaße, doch jede Seite ist lesenswert. Er verweist darauf, dass Historiografie und Germanistik das Thema lange vernachlässigt haben. Das ändert sich nun, wie der jüngst von Johannes Frimmel, Christine Haug und Helga Meise herausgegebene Sammelband „‚in Wollust betäubt‘ – Unzüchtige Bücher im deutschsprachigen Raum im 18. und 19. Jahrhundert“ (2018) und viele Veröffentlichungen der zu beiden Werken Beitragenden zeigen. Sangmeister behandelt zunächst den Vertrieb der „schweinischen“ Literatur auf der Leipziger Messe. Hier geriet Goethes Werther wegen der „Empfehlung des Selbst-Mordes“ auf den Index (S. 16), eindeutig pornografische Werke aber nicht. Der Begriff Pornografie war noch unüblich, in der Regel wurde von Sotadica, Priapea, lasciven Romanen, schlüpfriger, erotischer bzw. obszöner Literatur, geilen oder unzüchtigen Schriften, saloperies (Schweinereien), Zotenbüchern, heimlichen Büchern sowie Schriften der Wollust gesprochen. Das Wort Pornograf, aus dem Griechischen über das Französische emigriert, tauchte in Deutschland erstmals 1768 auf (S. 21).

Im zweiten Teil betrachtet Sangmeister den Unterschied zwischen „anregender“ und „erregender“ Literatur bzw. zwischen galanten Romanen und dem, was später Pornografie genannt wurde – ein Problem, welches auch viele der anderen Beitragenden beschäftigt. Obwohl zu ihnen oft auch Germanistinnen oder Germanisten gehören, erörtert keiner die viel spannendere Frage, was gute von schlechter Pornografie trennt. Die vielen Zitate in dem Band zeigen ganz erhebliche Differenzen in der sprachlichen Qualität.

In dem Kapitel „Grundlagen und Forschungen“ werden die Sittengeschichten und einschlägigen Bibliografien des 19. Jahrhunderts beleuchtet und dem Olymp gehuldigt: Susan Sontags The Pornographic Imagination (1967) und Robert Darntons Sex for Thought (1994). Dann wird das Spektrum der Texte vom galanten Roman bis zur Politpornografie des späten 18. Jahrhunderts vorgestellt. Politisch war Pornografie jedoch schon immer. In ihr wurden nämlich in der Ständegesellschaft Freiheit und Gleichheit, zuweilen auch weibliche Selbstbestimmung vorgeführt (S. 32). Die Pornografie bzw. in ihr das Bett wurde zu dem Ort, an dem erstmals die sozialen Schranken fielen (S. 581). Im Gegensatz zu sämtlichen anderen literarischen Gattungen wurde in der frühneuzeitlichen Pornografie auch die weibliche Lust gleichwertig der männlichen Begierde gegenübergestellt (S. 457). Hier wurden Frauen erstmals von Sexobjekten zu Sexsubjekten. In der Emanzipationsgeschichte ist dies bisher nicht hinreichend beachtet worden. Einige der Publikationen lassen sich geradezu als Emanzipationsschriften charakterisieren, z.B. Die Kunst der Koketterie. In Briefen von einer Kunsterfahrenen an ihre Schülerinnen (1791). Das Motto dieser Schrift ist ziemlich eindeutig: „Eure Männer sind eure Feinde. – Brecht auf. Glück zu streitbare Mädchen!“ (S. 718). Nicht zuletzt ging es um sexualpraktische Fundamentalaufklärung.

Weitere Themen sind Pasquille, Libelle, Manuskripte, Autoren, Drucker und Verleger, Zensur, Verbote und Konfiskationen, Wege der Distribution, Leihbibliotheken als Multiplikatoren, Rezensionen, Lesesucht und Onanie, Pornografie und die Frauen sowie schließlich Käufer, Leser und Sammler. Hergestellt wurden die Schriften in der Regel in Druckereien in kleinen protestantischen Territorien (S. 99). Auch rezipiert wurden sie überwiegend im protestantischen Raum (S. 257, 260). Ergänzen ließe sich, dass das calvinistische Amsterdam im 18. Jahrhundert zum Pornoshop Europas wurde.

Ulrich Joost setzt sich mit dem Begriff Pornografie im 18. Jahrhundert auseinander. Mona Garloff verortet die galanten Romane Christian Friedrich Hunolds auf dem Buchmarkt der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Wie auch andere Beitragende bemüht sie sich um die Rezeptionsgeschichte, dabei ist ihr jedoch die genreüberschreitende Karriere von Hunolds Satyrischer Roman (1706) entgangen. Er wurde nämlich zur Grundlage des Librettos von Georg Philipp Telemanns Oper Der neumodische Liebhaber Damon, oder die Satyrn in Arcadien (1724). Hier machte die Verwechslung von galanter Liebe und Sex Damon zum neumodischen Verehrer. Ein Opernskandal in Hamburg lieferte den Stoff für einen „pornographischen“ Roman, dieser dann den Stoff für eine neue Oper in Hamburg.

Olaf Simons Beitrag zu der Frage „Warum das frühe 18. Jahrhundert nicht den ‚pornographischen Roman‘ erfand“ gibt Aufschluss über die Entwicklung des europäischen Romans. Die eigentliche Epoche des Romans beginnt mit der Romantik. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden im deutschen Sprachraum nur um die 20 Titel pro Jahr publiziert, davon kaum einschlägiges. In England zeigte sich der Politporno hingegen bereits 1714. Einer von verschiedenen Autorinnen, die in der Anonymität der Metropole London wirkten, sorgte sogar für den Sturz einer Regierung.

„Galante Erotik zwischen Voyeurismus, Komik und Ekel“ ist das Thema von Isabelle Stauffer. In Celanders Verliebter Studente (1709) wird ein Mann lächerlich gemacht, weil er die „angebotene Rose nicht gebrochen hat“ (S. 349). Man denkt an Goethes poetische Gestaltung einer Vergewaltigung vom Ende des Jahrhunderts. Statt die Rose zu brechen, besudelt der Mann die Frau. Auch in anderen Schriften werden Frauen mit Kot beschmutzt. Hier noch von „galanter Erotik“ zu sprechen (S. 355), ist diskussionswürdig. Es scheint zwar so, dass unmoralische Frauen bestraft werden, jedoch unter dem Aspekt der Urophilie oder Koprophilie ist gerade dies die eigentlich sexuelle bzw. pornografische Handlung. Die Vormoderne hatte ein anderes Verhältnis zu Körperausscheidungen. In Grimmelshausens Simplicissimus (1669) erzählt ein Klopapier sein Leben, und Mozarts berühmter Kanon Leck mir den Arsch fein recht schön sauber (Köchelverzeichnis 233) sind nur einige Beispiele. In der Stolberg zugeschriebenen Priapischen Ode heißt es 1795 „beschissen soll ihre Nase sein“ (S. 543). Herzog Carl August von Weimar besaß eine Abhandlung über das Kunstfurzen.

„Unterschlagene Quellen deutschsprachiger Erotica im 18. Jahrhundert“ führt Yong-Mi Rauch vor. Bis 1770 gab es kaum Übersetzungen aus dem Französischen. Zuvor wurden die Werke im Original rezipiert (S. 363). Bei Übersetzungen wurde häufig abgemildert, und deviante Praktiken sparte man aus (S. 375). Norbert Bachleitner befasst sich mit „Drei Erotica aus der Secreta-Sammlung der Wienbibliothek“, und Martin Mulsow berichtet über „Dinge in antiklerikaler Pornographie der Österreichischen Aufklärung“. Schon bei Yong-Mi Rauch erzählte ein Sofa (S. 375), hier sind es nun ein Lehnstuhl (S. 369f.), Pferde und Unterröcke (S. 397), aber auch die Geschlechtsteile der Frauen (S. 403). Offensichtlich gab es im 18. Jahrhundert auch Live-Shows in sekreten Theatern (S. 406). Carolin Fischer behandelt Franz Kratters‘ Schleifermädchen aus Schwaben. Kratter war antiklerikal – fast wie die Franzos/innen – und wandte sich gegen das Rechtssystem des Ancien Régime in Österreich. Das Credo der Libertins wird jedoch durch eine neue bürgerliche Moral ersetzt.

Urszula Bonter untersucht zwei Romane aus dem vergessenen Korpus genauer, und Hans Richard Brittnacher stellt einen besonders bizarren Text vor: Ernst Nachersbergs „Schauergemälde“ Der Giftkocher (1798). Ursula Pia Jauch macht sich „Gedanken über das Verhältnis von Pornographie, Philosophie und Leben“. Sie geht dabei von Schwester Monika (1815) aus und enthüllt gleichzeitig ihre eigene Zeit- und Weltwahrnehmung „im doch erotisch recht heruntergewirtschafteten frühen 21. Jahrhundert“ (S. 466). Schlüssig erläutert sie, dass die „Fortsetzung der Philosophie mit anderen Mitteln“ zur „Pornosophie“ führt (S. 470). Jene Passagen in Schwester Monika, in denen ein „freies und unzensiertes Denken“ auftritt, erklärt sie als fortsetzende Erinnerung an Friedrich Schlegels Lucinde.

„Erotisches im Theater der deutschen Aufklärung“ ist der Gegenstand von Norbert Otto Eke. Auch für Frankreich sind solche Bühnen belegt (S. 482). Simon Bunke thematisiert „Versificirte Ejaculationen“. Der subversive Charakter der Gattung zeigt sich auch daran, dass es in der Hochphase der allgemeinen Onaniepanik lustvolle Bekenntnisse zu dieser Art des Solosex gab wie Grécous Le manuel solitaire (1777) oder das auch stilistisch ansprechende Gedicht Ich freue mich auf meine eigene Hand (1793). Die Autoerotik wird hier keineswegs als defizitär dargestellt oder moralisch abgewertet, sondern steht gleichberechtig neben anderen sexuellen Praktiken (S. 520). Auch Friedrich Karl Frobergs Antonii Panormitae Hermaphroditus (1824) stellte sich dem Onanie-Diskurs der Aufklärung entgegen (S. 605). Wenn in dem Gedicht von 1793 der „arme Dichter“ hervorgehoben wird, dann verweist das jedoch nicht nur auf die „poetologische Dimension“ der Masturbation, sondern auch darauf, dass ein großer Teil insbesondere der männlichen Bevölkerung in der Vormoderne keinen legalen Zugang zu zwischenmenschlicher Sexualität hatte.

In einem weiteren Beitrag behandelt Ulrich Joost noch einmal den Mythos von den „Phantasien in drei priapischen Oden“ und deren (Nicht-)Zuschreibung an Mitglieder des Göttinger Hainbundes. Die Zensur einschlägiger Werke durch die Leipziger Bücherkommission beleuchtet Katrin Löffler. Friedrich Carl Frobergs Edition des Hermaphroditus ist das Thema von Guido Naschert. Hierbei handelt es sich um den ersten Klassiker der Sexualkunde. „Sexuelle Bilder auf antiken und nachantiken Gemmen“ analysiert Carina Weiss. Ihr zufolge hatte dieses Sujet den „entscheidenden Vorteil“, dass man mit „mythischen Figuren […] jede ins Bild gesetzte sexuelle Phantasie weit vom aktuellen Bezug in der Antike angesiedelt unterbringen“ (S. 624) konnte. Darauf reagierten unzählige Fälscher und produzierten Bilder, die in der Antike nie zu sehen waren. Sie lassen sich unter anderem erkennen, weil in der griechischen und römischen Antike die Intimrasur verbreitet war (S. 648). Das Phänomen der glyptischen Pornografie entstand zeitgleich zur Vermehrung der pornografischen Literatur im 18. Jahrhundert (S. 665).

Die Pornografie-Sammlung des Marburger Medizinprofessors Baldinger behandelt Ulrike Leuschner, und Claudia Taszus jene Carl Gottlob Günthers. Beide Sammlungen wurden nach dem Tod der Besitzer zum Problem. Sie stellten einen erheblichen Wert dar, ließen sich aber nicht ohne Weiteres verkaufen, da auch Auktionskataloge der Zensur unterlagen. Besonders amüsant ist, dass Günthers Sohn für diesen Bereich der Zensur zuständig war. Das Auktionsverzeichnis seiner einschlägigen Sammlung, das auch erotische Bühnenwerke umfasste (S. 716), wurde zum „ersten deutschen Erotica-Katalog“ (S. 711). Die Auflage betrug 100 Exemplare. Sammler bezahlten bis zu vier Reichstaler, und es gab sogar einen Nachdruck. Einen gemeinsamen Beitrag widmen Yong-Mi Rauch und Dirk Sangmeister der „Bibliotheca Erotica des Weimarer Herzogs Carl August“. Offenbar war diese Sammlung keineswegs unbeachtet, denn bis heute wurden zwei Drittel ihres Bestandes gestohlen. Bedauerlich ist, dass die Erotica-Sammlung Franz von Krenners in der Bayerischen Staatsbibliothek keine/n Bearbeiterin oder Bearbeiter gefunden hat. Aber, wie gesagt, nicht nur wer sich für Pornografie interessiert, sollte dieses Buch lesen. Es bietet viele interessante Entdeckungen.

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