S. Justke: "Brückenbauen" gegen Apartheid?

Cover
Titel
"Brückenbauen" gegen Apartheid?. Auslandspfarrer in Südafrika und Namibia


Autor(en)
Justke, Sebastian
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gisa Bauer, Institut für Kirchengeschichte, Universität Leipzig

In seiner von Axel Schildt betreuten und 2018 an der Universität Hamburg als Promotionsschrift angenommenen Untersuchung beschäftigt sich Sebastian Justke mit der Geschichte des Wirkens westdeutscher evangelischer Pfarrer (wohl ausschließlich Männer), die über das Kirchliche Außenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) während der Apartheid-Ära in deutschsprachige Kirchen und Gemeinden nach Südafrika und Namibia entsandt wurden. In diese Geschichte sind diverse Themenkomplexe eingeschlossen bzw. werden von ihr berührt, die besonders für die kirchenhistorisch-zeitgeschichtliche Forschung der 1970er- und 1980er-Jahre bedeutend sind, etwa die Positionsänderungen der EKD gegenüber der Apartheid als Brennpunkt der kirchenpolitischen Verschiebungen und der Internationalisierung der bundesdeutschen evangelischen Kirchen oder die Rolle des Kirchlichen Außenamtes in der Auslandsarbeit. Dies ist ein bisher generell kaum bearbeitetes Feld, zu dem in Bälde auch ein Tagungsband der Konferenz „Deutsche evangelische Auslandsgemeinden im 20. Jahrhundert“ vom Juni 2018 erscheinen wird.1

Grundsätzlich müsse, so Justke eingangs, die „Reaktion der evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik auf die Apartheid [...] auch als Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte verstanden werden“ (S. 13). Seine Herangehensweise an diese Geschichte folgt den Perspektiven der unterschiedlichen Protagonisten: Das methodische Instrumentarium werde vom Begriff der „Wahrnehmung“ bestimmt, „der für ein Verständnis des skizzierten Beziehungsgeflechts als zentral erachtet wird“ (S. 14). In einem Teilkapitel wird „Wahrnehmung als epistemologische Kategorie der Zeitgeschichte“ (Kapitel 1.3) grundsätzlich erläutert und für die Arbeit fruchtbar gemacht.

Der zeitliche Beginn der Untersuchung liegt in den frühen 1970er-Jahren, als die ersten Proteste gegen die Unterstützungspolitik der EKD in der Bundesrepublik öffentliche Debatten auslösten. Dabei kam dem 1972 ins Leben gerufenen „Mainzer Arbeitskreis Südliches Afrika“ (MAKSA) eine prominente Rolle als kritischer Konterpart der EKD zu. Die Studie schließt mit dem Ende der Apartheid, das sich in einem Übergangsprozess zwischen 1989 und 1994 vollzog. In den behandelten gut 20 Jahren wurden über 80 Pfarrer und ihre Familien über das Kirchliche Außenamt der EKD in das Südliche Afrika entsandt – im Buch verstanden als „Chiffre für Südafrika und Namibia während der Apartheidära“ (S. 9, Anmerkung 7). Sie sahen sich mit einer komplexen, im Wandel begriffenen und kirchenpolitisch-theologisch gestützten Gemengelage konfrontiert. Die EKD förderte die „Auslandsgemeinden“ personell und finanziell – traditionell somit die deutschen, weißen Gemeinden. Dadurch war eine Manifestation von Apartheid grundgelegt, die erst Anfang der 1970er-Jahre im Zuge elementarer Debatten zum Verhältnis von Kirche und Gesellschaft überhaupt reflektiert wurde, begleitet von einem fatalen Wissensdefizit über die Situation vor Ort. Justke stellt dies an verschiedenen Stellen anschaulich dar. Neben der Einleitung (Kapitel 1) und dem Fazit (Kapitel 5) umfasst die Studie drei ausführliche Kapitel, die allesamt mehr oder weniger komplexe Spannungsfelder behandeln.

Das zweite Kapitel bietet mit dem „Spannungspol“ „Deutschsprachige Minderheiten und Kirchen im südlichen Afrika. Zugehörigkeiten und Loyalitäten im Apartheidstaat“ eine fundierte Annäherung an das Thema, die nötigen historischen Rückblicke und Kontextualisierungen einschließlich statistischer Konkretisierungen zu den „deutschen Minderheiten“, aus denen sich die Formationen der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre ergaben. Fragen zu den (gefühlten) nationalen Zugehörigkeiten werden angesprochen, die Verhältnisse der „deutschen Gemeinden“ nach 1945 historisch skizziert und erste kritische Stimmen des westdeutschen Protestantismus zum Apartheid-System noch vor dem Ende der 1960er-Jahre dargestellt.

Im dritten Kapitel wird der „Spannungspol“ „Kirchliches Außenamt der EKD“ unter dem aussagekräftigen Titel „Ökumene durch Apartheid“ problematisiert. In Form eines Exkurses kommen die historischen Hintergründe zur Sprache, die nach 1945 die Auslandsarbeit der EKD prägten, ebenso die Verschiebung inhaltlicher Positionen im Kirchlichen Außenamt, nicht zuletzt durch personelle Veränderungen, in der Mitte der 1970er-Jahre. Infolge der zunehmenden Bedeutung der Ökumene, die „christliche Variante einer Internationalisierung“ (S. 132), wuchsen Spannungen, die sich in zugespitzten Konflikten niederschlugen. Die 1970er- und 1980er-Jahre waren im Kirchlichen Außenamt vor allem von der Südafrika-Frage geprägt. Die Haltungen in den einzelnen Landeskirchen dazu waren disparat. 1973 wurde die „Kommission des Rates der EKD für das südliche Afrika“ gegründet, später umbenannt in „Evangelische Kommission für das Südliche Afrika“, die vornehmlich erst einmal Informationen zusammentrug. Immer wieder klingt in Justkes Untersuchung durch, dass die EKD zu dieser Zeit unter einem eklatanten Mangel an Kenntnissen über die Situation im Südlichen Afrika litt. So diente denn auch die Kontaktaufnahme zum Südafrikanischen Kirchenrat, dem South African Council of Churches (SACC), gegen Ende der 1970er-Jahre dem Eruieren von Informationen und Eindrücken seitens der vom Apartheid-System Betroffenen. Der Kirchenrat, der schon frühzeitig die Apartheid verurteilt hatte, blieb der wichtigste Ansprechpartner für die EKD, und durch diese Partnerschaft veränderte sich die Haltung und Strategie der Evangelischen Kirche gegenüber den deutschsprachigen Kirchen und Gemeinden im Südlichen Afrika nachhaltig. Die EKD machte sich offiziell gegen Ende der 1970er-Jahre die Ablehnung der Apartheid zu eigen und forderte die deutschsprachigen Partnerkirchen auf, sich über „Rassengrenzen“ hinweg für die Einheit der Kirche einzusetzen. Für das Kirchliche Außenamt schuf die „doppelte Partnerschaft“ einerseits zum SACC, andererseits zu den die Apartheid befürwortenden deutschen Auslandsgemeinden, die von deutschen Kirchen bzw. der EKD weiterhin finanziell und personell gefördert wurden, eine zunehmend widersprüchliche Situation.

Der Brückenschlag zwischen den Paradoxien oblag den aus Deutschland entsendeten Auslandspfarrern. Diese standen in den nahezu durchgängig von rassistischen Denkmustern und Praktiken geprägten deutschsprachigen Gemeinden vor dem Problem, dass ihre weitgehende Ablehnung der Apartheid, ja allein schon ökumenische Begegnungen mit den nichtdeutschsprachigen evangelisch-lutherischen Kirchen, misstrauisch beobachtet und als unzulässige Politisierung kritisiert wurden. Frontstellungen und Auseinandersetzungen zwischen Pfarrern und ihren Gemeinden waren vorprogrammiert. Detailreich verfolgt Justke die Situation der Auslandspfarrer, ihre Motive, sich auf eine Pfarrstelle im Südlichen Afrika zu bewerben, ihre (fehlende) Vorbereitung auf diesen Dienst sowie die rechtlichen und finanziellen Regelungen. Besonders die geschilderten Einzelfälle entwerfen ein Bild von Zerreißproben für einen Großteil der Pfarrer in den Gemeinden, die wegen ihrer Grundsätzlichkeit kaum zu lösen waren. Sehr zu Recht steht der Buchtitel „,Brückenbauen‘ gegen Apartheid?“ unter einem Fragezeichen.

Im vierten, mit über 200 Seiten ausführlichsten Kapitel geht der Verfasser zu einer Form von Einzelstudien über, die als „Sehepunkte“ spezifische Kumulationspunkte der kirchlichen Lebensgestaltung im Südlichen Afrika aufgreifen. Der erste erörterte „Sehepunkt“ sind die dortigen Gemeinden, in denen die Befürwortung von Apartheid an der Tagesordnung war und die Einschätzung der Apartheid zur Gesinnungs- und Entscheidungsfrage wurde. In diesen Gemeinden entwickelten sich, zumindest an den Rändern, offene Protesthaltungen gegen die Anti-Apartheid-Politik der EKD. Ein bemerkenswertes Unterkapitel fokussiert diejenigen deutschen Auslandspfarrer, die nicht wie ihre Amtsbrüder wegen des vorherrschenden Rassismus in Konflikte mit den Gemeinden gerieten, sondern die vordergründig über die Kritik an der Politisierung der Kirche, hintergründig durch ihre antiliberale, rechtskonservative und dem Anti-Anti-Apartheid-Denken verhafteten Vorstellungen in den Gemeinden einen Resonanzraum fanden. Die kirchenpolitischen Lager der Bundesrepublik verlängerten sich so ins Ausland, bis hin zur Gründung von „Notgemeinschaften“ im Südlichen Afrika in Anlehnung an die „Notgemeinschaft Evangelischer Deutscher“ in der Bundesrepublik – ausgerechnet einer der politischsten und sogar innerevangelikal umstrittenen Ableger der evangelikalen Bewegung in Westdeutschland.

Weitere, im wahrsten Sinne des Wortes spannungsvolle „Sehepunkte“ waren die deutschen Schulen mit ihrer Erziehung zur Apartheid, darüber hinaus die „Segregation des Arbeits- und Lebensraums“ als „ein auf rassistischen Kriterien basierendes ,sociospatial engineering‘“ (S. 339) in der „Apartheid-City“, in deren Ordnungsmodell die Pfarrer schon durch ihre Wohnsitze eingebunden waren, sowie die „Ökumene vor Ort“ in Verbindung mit den „Kirchen der unterdrückten Mehrheitsbevölkerung“.

Durch das Herausgreifen von paradigmatischen Aktionsorten in der Darstellung dieser „Sehepunkte“ werden die Ausführungen des zweiten und dritten Kapitels, die sich vor allem auf die bundesdeutsche kirchliche und theologische Situation beziehen, mit einem Perspektivwechsel zum Südlichen Afrika komplettiert. Die Konflikte als Folge der nebeneinander bestehenden Wahrnehmungen lösen sich in ihrer Vielschichtigkeit dabei nicht auf – sie können auch gar nicht aufgelöst werden –, erhalten aber so eine ausgezeichnete Tiefenschärfe.

Resümierend ist zu unterstreichen, wie gründlich Sebastian Justke recherchiert hat und wie differenziert seine Argumentation ist – die Darstellung der einzelnen Untersuchungsgegenstände lässt kaum Fragen offen. Mitunter sind die Hintergrundinformationen zur Geschichte von Südafrika und Namibia, die für die geschilderten Entwicklungen von eminenter Bedeutung sind, auf einige skizzenhafte Bemerkungen reduziert. Aber das trübt den Gesamteindruck kaum, der auch dank der geschickten Komposition der gesamten Arbeit durch den Einbezug verschiedener wahrnehmungsgeschichtlicher Ebenen ein ganz hervorragender ist: geschichtswissenschaftliche Qualifikation von ihrer besten Seite.

Anmerkung:
1 Vgl. meinen Tagungsbericht, in: H-Soz-Kult, 28.08.2018, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7836 (14.09.2020). Der Sammelband ist in der Reihe „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte“ bei Vandenhoeck & Ruprecht geplant. Zum breiteren Kontext speziell mit Blick auf die Apartheid-Geschichte gehört außerdem der von Knud Andresen, Sebastian Justke und Detlef Siegfried herausgegebene Sammelband „Apartheid and Anti-Apartheid in Western Europe“, der für Januar 2021 bei Palgrave Macmillan angekündigt ist.