Über das Alter spricht man nicht, es ist umstellt von einer „Verschwörung des Schweigens“.1 Diese viel beachtete und hinterfragte These Simone de Beauvoirs bildet die Kontrastfolie für die Habilitationsschrift der Kunsthistorikerin Sabine Kampmann.2 Das Besondere an der kulturwissenschaftlich orientierten Studie: Sie konzentriert sich auf visuelle Artefakte. Damit rücken Quellen in den Fokus, die ansonsten von der Altersforschung kaum beachtet werden.3 Kampmanns Leithypothese lautet, dass in den Jahrzehnten um die Jahrtausendwende in Kunst und visueller Kultur westlicher Gesellschaften eine „neue Sichtbarkeit des Alters“ (S. 11) zu beobachten sei. Das Panorama dieses Visualisierungsschubs, der sich überwiegend in fotografischer Form ereigne zu entfalten, ist das Ziel der Arbeit. Dafür werden künstlerische Fotografien multiperspektivisch untersucht: Ausgehend von einem konstruktivistischen Altersbegriff stehen Fragen nach „Semantiken des Alters“ (S. 22) im Vordergrund. Um Kontinuität und Wandel von Altersdeutungen sowie von Bildtraditionen mitberücksichtigen zu können, werden wiederholt auch historische Alters-Bilder in die Analyse einbezogen. Ebenso wie durch punktuelle Seitenblicke auf zeitgenössische nicht-künstlerische Aufnahmen aus der Werbung, Beispiele aus Film und Fernsehen sowie – kulturvergleichend – auf Japan sollen so außerdem gesellschaftliche Funktionen genauso wie unterschiedliche Produktions- und Rezeptionsweisen aktueller Altersvisualisierungen deutlicher hervortreten. Zwei Aspekte sind Kampmann schließlich noch besonders wichtig: einerseits die Doppelrolle des Greisenkörpers als zentrales Thema und Motiv von Altersvisualisierungen. Sie soll vor dem Hintergrund verschiedener Körpervorstellungen und -praktiken beleuchtet werden. Andererseits möchte Kampmann dem Verhältnis von Alter(n) und dem Medium Fotografie nachspüren.
In vier thematischen Kapiteln behandelt das Buch „jene Motive und Denkfiguren des Alter(n)s, die die gegenwärtigen visuellen Welten beherrschen“ (S. 27). Im Zentrum des ersten Kapitels stehen fotografische Akte, die „mit dem Tabu der Sichtbarkeit nackter, alter Menschen“ (S. 63) brechen. Kampmann interpretiert diese Bilder als Irritation in dreifacher Hinsicht: Mit gealterten Männern und Frauen geben sie „skandalöse Körper“ (S. 35) zu sehen und widersetzen sich dadurch erstens den Alters- und Geschlechtsnormen der Gattung Akt sowie zweitens dem klassischen Schönheitsideal eines jugendlichen Körpers. Drittens irritieren die Aufnahmen durch ihre ungewöhnliche Auseinandersetzung mit der Fotografie. Vor allem Haut werde inszenatorisch eingesetzt, um die vermeintliche Wirklichkeitstreue des Mediums zu hinterfragen und eine spezifische Beziehung von Fotografie und Alter offenzulegen.
Nackte Körper sind auch Thema des zweiten Kapitels „Liebende Leiber“. Kampmann konstatiert darin „eine komplette Umdeutung moralischer Werte“ (S. 115). An der Schwelle zum 21. Jahrhundert werde (insbesondere weibliche) Alterssexualität nicht mehr nach Tradition des christlichen (Sexual-)Moraldiskurses und des misogynen antiken vetula-Topos, der die alte Frau mit Merkmalen wie Hässlichkeit, Devianz und Lüsternheit versieht, visuell negiert oder verspottet. Stattdessen erscheine der sexuell aktive alte Körper im Rahmen von Anti-Aging-Kultur sowie der seit den 1990er-Jahren hegemonial werdenden neoliberalen Konzeption eines aktiven Alter(n)s als „exemplum virtutis“ (S. 115), Sex im Alter als verjüngende Praxis der Selbstermächtigung und -kontrolle.4 Daneben werden auch Fotoprojekte behandelt, die im Modus der Provokation, Normalisierung oder Selbstbestätigung an der Aufwertung von Sexualität im höheren Lebensalter arbeiten.
Warum gilt – anders als der gealterte Körper – das greise Gesicht im Bild mitunter als berührend, spannend und schön? Diese Frage steht im Mittelpunkt des darauffolgenden Kapitels. In einer ersten Antwort geht Kampmann von einem „pathognomischen Deutungsreflex“ (S. 176) aus: Das gealterte, von Falten durchzogene Antlitz fasziniere, weil es „als vermeintlich paradigmatischer Spurenspeicher gelebten Lebens“ (S. 27) angesehen werde. Mit einer solchen Lesbarkeit der Physiognomie kalkulieren auch Darstellungen, in denen das greise Gesicht die Funktion eines memento senescere übernehme. Am Übergang zum 21. Jahrhundert werde das Altersgesicht dann oft als Vorbild für ein autonomes, würdevolles Altwerden vor Augen gestellt. Zur Attraktivitätssteigerung von Altersgesichtsbildern komme zudem ein Arsenal idealisierender Stilmittel zum Einsatz (zum Beispiel Helligkeit), das sich seit der Renaissance in der Gattung Porträt herausgebildet habe.
Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit den sozialen Rollen und Positionen älterer Menschen im gesellschaftlich-generationellen Gefüge. Kampmanns entscheidender Befund lautet, dass die hierfür untersuchten Bildquellen als „Ausdruck eines Emanzipationsstrebens gelesen werden“ können (S. 169), das sich gegen die Großelternidylle, erfunden im 19. Jahrhundert, richte. Gemeinsam sei den diversen Bildern, die für ein Leben im Alter jenseits von Verhäuslichung, Sentimentalisierung und Familialisierung gefunden werden, dass sie unabhängige, selbstbewusste und jugendliche Alte zur Schau stellen. Um die Jahrtausendwende komme so eine neue stereotypisierende Vorstellung vom Altsein mit aufs Foto – der aktive Senior.
Wie lässt sich die neue Sichtbarkeit des Alters nun abschließend bewerten? Kampmann zufolge ist sie Ausdruck eines gesteigerten Bedarfs an „Neucodierung und Umwertung von Vorstellungen und Bildern alter Menschen“ (S. 178). Der Greisenkörper, das zeige der historische Rückblick, erscheine in diesen Neudefinitionsversuchen als „visuelle, symbolische Form“ (S. 178), deren Darstellungsmodi zwar über die Jahrhunderte tradiert worden seien, die aber stetig mit veränderten Deutungen belegt werde bzw. werden könne. Die Fotografie unterhalte dabei eine ganz eigene Beziehung zum alt(werdend)en Körper: Fotografische Alters-Bilder reflektierten die Zeitlichkeiten sowie den Konstruktionscharakter des Alter(n)s und machten sich die dem Fotografischen zugeschriebene Authentizität zunutze oder, wenn doch seltener, versähen diese mit einem Fragezeichen.
Obwohl Kampmann somit im Laufe ihrer Untersuchung viele instruktive Antworten findet, bleiben zum Schluss dennoch auch einige Fragen offen. Die multiperspektivische Anlage des Textes ist insgesamt zu multiperspektivisch geraten. Dadurch gehen manchmal Systematik und Tiefenschärfe in der Argumentation etwas verloren, spannende Quellen und Kontexte können teilweise nur angeschnitten werden. Aber auch eigene Überlegungen kommen zu kurz. Beispielsweise hätte die Altersbildforschung davon profitieren können, wenn Kampmann das von ihr vorgeschlagene Forschungsfeld „Visual Aging Studies“, das sich eigens mit „der visuellen Kultur des Alters“ beschäftigen und für das die Studie „erste Vorarbeiten liefern“ soll (S. 14), genauer konturiert hätte. Zudem wäre eine ausführlichere Schilderung der theoretisch-methodologischen Zugangsweisen dem Buch zugutegekommen. Dabei hätte etwa die Auswahl der Quellen nachvollziehbarer gemacht (Warum genau diese Aufnahmen? Weshalb wurden keine weiteren Bildwelten miteingezogen?) und deren widersprüchlicher Status aufgeklärt werden können: Einerseits handle es sich nicht um „repräsentative Stichproben“ (S. 13), andererseits könnten sie aber „einen Querschnitt durch den zeitgenössischen visuellen Diskurs des Alters“ (S. 27) abbilden.
Diese Kritikpunkte ändern jedoch nichts daran, dass Kampmann mit ihrer Habilitationsschrift eine lesenswerte und – auch für Nicht-Kunstgeschichtler/innen – gut lesbare Studie vorgelegt hat. Die darin vorgestellten Bildanalysen bereichern ganz konkret die wenige zeithistorische Forschung zu Alter(n) im 20./21. Jahrhundert: Sie verschaffen Einsichten in den Beitrag der Fotografie zur Konstruktion von Altersdeutungen, wobei, wie jüngst gefordert, „competing visions for old age“5 ebenfalls Berücksichtigung finden; anschlussfähig sind sie außerdem für neuere Untersuchungsperspektiven, die den Verbindungen von Alter(n), Gender und Körper sowie der Institutionalisierung von Alter als Lebensphase und der Partizipation und Repräsentation alter Menschen nachgehen.6 Darüber hinaus liefern sie aber auch der Altersforschung allgemein eine Reihe überzeugender Gründe und Anknüpfungspunkte dafür, sich zukünftig vermehrt Alters-Bildern, ihren Traditionen und Medienspezifika sowie Fragen nach Bildpolitiken oder der Sicht- und Zeigbarkeit des Alters zu widmen.
Anmerkungen:
1 Simone de Beauvoir, Das Alter. Essay, Hamburg 1972, S. 5.
2 Für den deutschen Kontext im 20. Jahrhundert widerspricht etwa Gerd Göckenjan de Beauvoirs These: Gerd Göckenjan, Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt am Main 2000, S. 12.
3 Noch am stärksten interessieren sich Kunstgeschichte, Archäologie und Medienwissenschaften für Altersvisualisierungen.
4 Zum aktiven Alter(n) siehe Tina Denninger u.a., Leben im Ruhestand: Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft, Bielefeld 2014.
5 James Chappel, Old Volk: Aging in 1950s Germany, East and West, in: The Journal of Modern History 90 (2018), S. 792–833, hier S. 796.
6 Vgl. Antje Kampf, Alter(n), Gender, Körper: Neue Verbindungen für die zeithistorische Forschung, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10 (2013), S. 464–470, https://zeithistorische-forschungen.de/3-2013/4548 (10.07.2020); Nicole Kramer, Alter(n) als Thema der Zeitgeschichte, in: ebd., S. 455–463, https://zeithistorische-forschungen.de/3-2013/4565 (10.07.2020).