Cover
Titel
Alles nur gekauft?. Korruption in der Bundesrepublik seit 1949


Autor(en)
Engels, Jens Ivo
Erschienen
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thorsten Holzhauser, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Die Bundesrepublik galt lange Zeit als korruptionsfrei. Der deutsche Beamte war unbestechlich, politische Sauberkeit galt als teutonische Kerntugend und Bestechung war ein Phänomen vormoderner Gesellschaften. Seit den 1980er-Jahren erlebte aber auch die Bundesrepublik Affären und Debatten um Bestechung und Vorteilsnahme, Parteien und Politiker galten vielfach als „korrupt“ und 2012 musste schließlich ein Bundespräsident über die Frage zurücktreten, wer seine Hotelrechnung bezahlt hatte. Wie es zu diesem offensichtlichen Wandel kam, fragt der Darmstädter Historiker Jens Ivo Engels in seinem Buch zur Korruption in der Bundesrepublik seit 1949 – und gibt ebenso interessante wie streitbare Antworten.

Wer Engels‘ wissenschaftlichen Ansatz nicht kennt, wird schnell irritiert sein: Untertitel und einige Kapitelüberschriften versprechen eine Geschichte der Korruption in der Bundesrepublik und werden beim nicht-wissenschaftlichen Publikum, für das das Buch sichtlich (auch) geschrieben ist, die Erwartung an einen historischen Kriminalroman schüren, der endgültig Licht ins Dunkel der Korruption in Deutschland bringt. Engels aber geht einen anderen Weg und versucht, die selbst erzeugten Erwartungen schon in der Einleitung zu zerstreuen. Nicht eine Geschichte „der Korruption“ solle es sein, sondern eine Geschichte der „Debatten und Skandale“ rund um das Phänomen (S. 12). Der Autor folgt damit wie schon in seinem Vorgängerbuch zur Geschichte der Korruption seit der Frühen Neuzeit einer Tendenz in der jüngeren Forschung zur Korruptionsgeschichte: Der Schwerpunkt liegt nicht auf Praktiken, sondern auf Deutungen.1

Das hat mehrere Gründe: „Die“ Korruption gibt es nicht und was darunter verstanden wird, definiert (bis zu einem gewissen Grad) der Diskurs, der auch die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatem, zwischen legitimem und illegitimem Handeln bestimmt. Engels geht sogar so weit, dem Thema Korruption generell die Tauglichkeit als wissenschaftliche Kategorie abzusprechen, weil es sich um ein moralisches Urteil handele, das zwar beschreibbar, aber nicht messbar sei. Die Konzentration des Buchs auf öffentliche Debatten ergibt sich aber auch aus dem Umstand, dass es sich mit einem Phänomen beschäftigt, das nicht leicht aufzuarbeiten ist, weil es in der Regel im Verborgenen geschieht, mit dem Ziel, im Verborgenen zu bleiben.

Engels‘ Befund, dass Korruption in der frühen Bundesrepublik eine vergleichsweise geringe Rolle gespielt habe, bedeutet daher auch nicht, dass es sie nicht gegeben hätte. Stattdessen arbeitet das Buch sehr gut heraus, wie die politischen und medialen Eliten der Ära Adenauer darin übereinstimmten, dass eine allzu starke Thematisierung oder gar Skandalisierung von Korruptionsfällen die junge Demokratie gefährden und antidemokratische Ressentiments reaktivieren würde. Stattdessen gelang der jungen Bundesrepublik ein diskursiver Coup: Korruption wurde als wesentliches Kennzeichen totalitärer Regime interpretiert und die parlamentarische Demokratie nicht mehr, wie noch zu Weimarer Zeiten, als Hort der Korruption be-, sondern als Gegenmittel zu ihr verschrieben. Die zurückhaltende, von Engels etwas beschönigend als „sachlich“ bezeichnete Art, in der Korruptionsfälle in der frühen Bundesrepublik medial verhandelt (oder nicht verhandelt) wurden, hatte daher viel mit dem Ringen der Westdeutschen zu tun, sich vom NS-Regime zu distanzieren und zugleich eine neue Demokratie aufzubauen. Um diese zu stützen, kreierten Medien und Politik eine Vorstellung von einer vermeintlich korruptionsfreien Bundesrepublik. Diese wurde auch durch die Großaffären um die gekaufte Hauptstadt-Entscheidung, die Einflussnahme von Auto- und Rüstungsindustrie oder das gescheiterte Misstrauensvotum gegen Willy Brandt nicht erschüttert. Die Verbindungen eines Abgeordneten der Christlich Demokratischen Union zu einem Wirtschaftsunternehmen, die im Jahr 2020 den „Eindruck der politischen Käuflichkeit“2 erwecken, hätten in der frühen Bundesrepublik wohl kaum zu medialer Aufregung geführt. Erst die Flick-Affäre der 1980er-Jahre, so Engels, habe ein größeres Umdenken zur Folge gehabt und den Mythos von der unkorrumpierbaren Bundesrepublik nachhaltig erschüttert. Dies wiederum ereignete sich vor dem Hintergrund eines Wandels des Politischen, in dem neoliberale Staatskritik, populistische Parteienkritik und globale Antikorruptionspolitik zusammenkamen.

Um solche größeren Zusammenhänge geht es Engels in erster Linie, weniger um einzelne Korruptionsfälle, von denen er zwar die öffentlichkeitswirksamsten nachzeichnet, deren Darstellung aber streckenweise etwas summarisch anmutet. Dafür wartet der Autor immer wieder mit erhellenden Einsichten auf, die sich vor allem aus dem Gesamtbild von mehr als sechs Jahrzehnten ergeben. Weniger die Korruption steht dabei im Interesse als die mit ihr verbundenen sozialen Vorstellungen von Politik, Wirtschaft und Moral, privatem, ökonomischem und öffentlichem Nutzen. Wurden Korruptionsfälle in der frühen Bundesrepublik noch vor dem Hintergrund der klaren Trennung zwischen (vermeintlich unbestechlichem) Staat und (korrumpierbarer) Öffentlichkeit verhandelt, so verschob sich im Laufe der Zeit die Bewertung: Der Staat selbst wurde mehr und mehr als korruptionsanfällig beschrieben.

Zu den aufschlussreichsten und brisantesten Passagen des Buchs gehört der längere Exkurs zur Herausbildung einer neoliberal inspirierten Antikorruptionspolitik in den 1990er-Jahren, einem „Jahrzehnt der Korruptionsobsession“ (S. 170). Wissenschaften, Unternehmen, Regierungen und internationale Organisationen wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Transparency International setzten das Thema Korruption auf die internationale Agenda und sagten dem „Krebsgeschwür“ (Weltbank-Chef Wolfensohn) den Kampf an. Sie wurden so zu Akteuren einer sich global entwickelnden „Antikorruptionsindustrie“ (Steven Sampson). Hatte sich die westliche Korruptionskritik traditionell aus einem kapitalismuskritischen Geist gespeist, so galt in den 1990er-Jahren das Gegenteil: Korruption wurde zum Beweis für negative Einflüsse des Staates, zum politischen Instrument, um politische und ökonomische Reformen durchzusetzen, und zur „Erklärung für das Versagen der Marktwirtschaft in den Ländern des Übergangs“ (S. 199): Nicht der Markt war schuld, sondern die Korruption staatlicher Eliten.

Ebenso scharf wie mit der neoliberalen Antikorruptionspolitik geht Engels auch mit ihren wissenschaftlichen Grundlagen ins Gericht, insbesondere mit einer von „Naivität“ (S. 153) geprägten wirtschaftswissenschaftlichen Korruptionsforschung, die aus Perzeptionen Tatsachen machte, aus Korrelationen Kausalitäten und aus ideologischen Annahmen scheinbar nachgewiesene Zusammenhänge über Markt, Staat und Korruption. Paradoxerweise ging, so Engels, mit der trügerischen Quantifizierung auch eine Moralisierung der Korruption im Zeichen des Transparenzgebotes einher: In der „Berliner Republik“ wurde die Gier von Managern und Betriebsräten im Rheinischen Kapitalismus gegeißelt und lösten sich die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem zunehmend auf. Wer in der Öffentlichkeit stand, musste auch privat unkorrumpierbar sein.

So spannend und aufschlussreich das Buch in der Analyse dieser historischen Kontexte und Entwicklungen ist, so sehr überrascht dann doch manche Einzeldeutung: Die These, dass Korruption in der Nachwendezeit „eine erstaunlich geringe Rolle“ (S. 14) gespielt habe, muss mit einem Fragezeichen versehen werden, gehörten doch Bestechungsvorwürfe sowohl an die SED-Eliten als auch an die Treuhandanstalt zu den hervorstechenden Motiven in der politischen und medialen Auseinandersetzung der „Wende“.3 Auch hält sich der Autor, gemessen an seinen deutlichen Urteilen in anderen Fragen, bei der Beurteilung der Korruptionsaffären um politische Größen auffällig zurück; Helmut Kohl habe sich mit seiner Falschaussage in der Flick-Affäre „ungeschickt“ angestellt (S. 311) und Franz-Josef Strauß gebe „korruptionsgeschichtlich [...] weniger her, als man erwarten könnte“ (S. 61).

Diese Zurückhaltung im Urteil mag auch dem Ziel des Autors geschuldet sein, mit dem Buch nicht nur das wissenschaftliche Verständnis von Korruptionsdebatten in der Bundesrepublik zu fördern, was ihm an vielen Stellen sehr gelingt. Auch möchte er zu einer Versachlichung der öffentlichen Debatte beitragen. Er verbindet seine Darstellungen daher mit einem Plädoyer gegen apodiktische Urteile und übersteigerte Transparenzhoffnungen und geht mit einer Öffentlichkeit ins Gericht, die auf der Suche nach Offenheit und Ehrlichkeit bereit ist, die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem noch weiter aufzubrechen. Auch in dieser Hinsicht regt das Buch zum Nachdenken an.

Anmerkungen:
1 Jens Ivo Engels, Die Geschichte der Korruption. Von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2014; vgl. auch Norman Domeier, Rezension zu: ebd., in: H-Soz-Kult, 30.08.2016, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-21471 (27.08.2020).
2 Timo Lange (Lobbycontrol) im Gespräch mit Stefan Heinlein, „Hier ist eine Grenze überschritten“, in: Deutschlandfunk, 16.06.2020, https://www.deutschlandfunk.de/lobby-affaere-um-philipp-amthor-hier-ist-eine-grenze.694.de.html?dram:article_id=478712 (27.08.2020).
3 Vgl. Constantin Goschler / Marcus Böick, Studie zur Wahrnehmung und Bewertung der Arbeit der Treuhandanstalt, im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, Bochum 2017, S. 27; Marcus Böick, Vom Blitzableiter zur Bad-Bank. Die Debatten um die Treuhandanstalt – und was sich daraus über das Verhältnis von Politikwissenschaft und Zeitgeschichtsforschung lernen lässt, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft (Online First) 2020, DOI https://doi.org/10.1007/s41358-020-00228-1 (27.08.2020).

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