Die Zeitgeschichte erforscht die „Epoche der Mitlebenden“. Als Hans Rothfels 1953 diese bekannteste deutschsprachige Definition formulierte1, meinte er damit eine Zeitspanne von rund 35 Jahren, die der Historiker (1891–1976) selbst als Erwachsener erlebt hatte. Zugleich begründete Rothfels seine Setzung damit, dass „1917/18 eine neue universalgeschichtliche Epoche sich abzuzeichnen begonnen“ habe. Das Ende des Ersten Weltkriegs, das Engagement der USA und die Oktoberrevolution hielt Rothfels für so tiefe Einschnitte, dass sie das 20. Jahrhundert klar vom 19. unterscheidbar machten – als „Zeitalter krisenhafter Erschütterung“. Sein Verständnis der Zeitgeschichte war ein doppeltes: Es ging um die unmittelbare Vorgeschichte der Gegenwart sowie um Veränderungen von epochaler Qualität.2
Auf beiden Spuren bilanziert nun Edgar Wolfrum die allerneueste deutsche Geschichte. Mauerfall und Wiedervereinigung liegen 30 Jahre zurück; nicht nur im Jubiläumsjahr wird dazu geforscht und daran erinnert. Bei Wolfrum markieren die Ereignisse vor 30 Jahren jedoch den Ausgangspunkt der Darstellung im Sinne einer Epochenzäsur. Insofern handelt es sich bei seinem Buch nicht um eine Geschichte der Bundesrepublik, sondern des „neuen Deutschland[s]“ (S. 7), das laut Wolfrum ganz anders sei als die untergegangene DDR, das sich aber – trotz der staatsrechtlichen Kontinuität des Grundgesetzes – auch von der alten Bonner Republik klar unterscheide: „Die Macht in der Mitte Europas wandelte sich auf fast allen Feldern“ (S. 7). Ab 1990 sei Deutschland größer und bevölkerungsreicher geworden, es habe Krieg geführt – im Kosovo und in Afghanistan –, und wirtschaftlich werde Deutschland als dominant wahrgenommen, gerade von den europäischen Nachbarn. Zugleich veränderten sich Innenpolitik und Parteiensystem und da alle Wandlungsprozesse so offen wie ungewohnt seien, wirke die Berliner Republik bisweilen unsouverän, irgendwie „halbstark“ (S. 14). Diese Ambivalenz – Erfolgsgeschichte bei gleichzeitiger Unsicherheit – bezeichnet Wolfrum mit der doppeldeutigen Metapher vom „Aufsteiger“: Nachdem Deutschland „in die erste Liga der Staatengemeinschaft“ aufgestiegen sei, „gebärdete sich der Aufsteiger nicht nur als Musterknabe oder gelegentlich als Streber, manchmal haftete ihm auch etwas Unstetes an“ (S. 11).
Wolfrums Buch gibt eine kurze, kenntnisreiche Zwischenbilanz der Berliner Republik. In zwölf systematischen Kapiteln rekapituliert es Ereignisse und Veränderungen, mit einem Schwerpunkt auf Deutschland, aber unter Einbeziehung der Europäischen Union und mit Blick auf transnationale bzw. globale Großthemen wie Finanzkrise, Digitalisierung oder Klimawandel. Dabei schöpft die Darstellung vor allem aus publizistischen Quellen und früheren Veröffentlichungen des Verfassers, namentlich über „Rot-Grün an der Macht“. Wolfrum ist profilierter Vertreter einer gegenwartsnahen Zeitgeschichte, der die Annahme, dass ein großer Zeitabstand das historische Urteil erleichtere, „nicht zwingend richtig“ findet, der vielmehr für die „Empathie“ der Zeitzeugenschaft, auch der Zeitzeugenbefragung plädiert, zumal schriftliche Akten in der Medien- und Internetöffentlichkeit nicht mehr ihre frühere Bedeutung hätten.3
Besonders stark interessiert sich Wolfrum für Politikgeschichte und Erinnerungskultur4, während Wirtschaft und Unternehmen, Demographie und Gesellschaft, Kunst und Literatur weniger Raum einnehmen. Positiv fällt seine Bilanz der rot-grünen Bundesregierung aus, einer „Reformperiode wie seit 30 Jahren nicht mehr“ (S. 37) inklusive mehrerer „posthumer ‚Siege‘“ (S. 38) wie dem Atomausstieg oder der gleichgeschlechtlichen Ehe. Wesentlich skeptischer bewertet Wolfrum hingegen die seit 2005 andauernde Regierungszeit von Angela Merkel – trotz der „ökonomisch goldene[n] Jahre“ (S. 50) eines langen Wirtschaftsbooms. Merkels wechselnde Koalitionen agierten laut Wolfrum widersprüchlich in der Klimapolitik, schwer kalkulierbar in der Außenpolitik, in der Europäischen Union stark auf den eigenen, vielleicht nur kurzfristigen Vorteil bedacht. Unterm Strich zeichnet er so das Bild eines selbstbezogenen, um sich selbst kreisenden Landes, das bisweilen so provinziell wirkt, wie das der Bonner Republik oft vorgeworfen wurde. In einem Epilog über das Humboldt Forum legt Wolfrum die Widersprüche dieses geschichtspolitischen Projekts auf dem Schlossplatz in Berlin-Mitte offen. Zwischen Wiedervereinigung und Weltläufigkeit, Preußentum und Kolonialgeschichte, „Eigenem“ und „Fremdem“ scheint die Berliner Republik mit diesem Prestigevorhaben nationaler Selbstdarstellung in der „Rolle des Zauberlehrlings“ (S. 295) zu sein, der die Geister nicht loswird.
Erzählerisch schreibt Wolfrum einen journalistischen Stil mit vielen Sprachbildern. Für die Annahme, dass sich das Buch an ein breites Publikum richtet, spricht auch die beachtliche Zahl von Rezensionen in den Literaturbeilagen zur (abgesagten) Leipziger Buchmesse 2020. In diesen Besprechungen fand die plakative Metapher vom „Aufsteiger“ allerdings weniger Anklang als die differenzierte Abwägung, die Wolfrum gleichzeitig bietet. So wies Frank Bösch darauf hin, dass die deutsche Geschichte seit 1990 nicht nur als Fortschrittserzählung gelesen werden könne, weil das Land etwa in der Industrie stark von früheren Erfolgen zehre und bei der Digitalisierung eher Nachahmer als Vorreiter sei.5 Jens Hacke erkannte gleichfalls keine glatte Success Story, vielmehr kennzeichne Pragmatismus bzw. kurzfristiges Durchwurschteln das deutsche Regierungshandeln.6 Schließlich gab Eckart Conze zu bedenken, dass Wolfrums Buch keinen „Aufsteiger“ zeige, sondern „eine noch immer und immer wieder neu lernende und suchende, zum Teil auch eine gefährdete Demokratie“.7
Die hier anklingenden Einwände resultieren aus der Art der Darstellung, aber auch aus der knappen zeitlichen Distanz zum Gegenstand. So erläutert Wolfrum zwar die erwähnten Argumente von der digitalen Rückständigkeit bis hin zur polarisierten Innenpolitik der Bundesrepublik im Zuge der „populistische[n] Revolte“ (S. 233). Allerdings steht die Differenzierung im Konflikt mit den zahlreichen Zuspitzungen. Wenn es etwa heißt, Deutschland sei in die „erste Liga der Staatengemeinschaft“ aufgestiegen, dann ist diese Übertragung aus dem Sport gar nicht so griffig, wie sie klingt, weil unklar bleibt, was „erste Liga“ heißt, wenn die Bundesrepublik weder Atommacht noch ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat ist – ganz abgesehen davon, dass schon der westdeutsche Teilstaat zum engen Kreis der großen Industrienationen gehörte und die Metaphorik eher an Vorstellungen einer kompetitiven Machtpolitik aus dem 19. Jahrhundert erinnert als an die multilateralen, vielfach supranationalen Politikformen der Gegenwart. Überhaupt ist es von Nachteil, dass die Geschichte vor 1990 (West wie Ost) fast nur berücksichtigt wird, um – im Sinne der Rothfels’schen Epochenzäsur – die Neuartigkeit der Berliner Republik hervorzuheben. Demgegenüber erscheinen die 40 Jahre der alten Bundesrepublik wie ein Kontinuum ohne größere Binnenveränderungen; zudem bleiben Kontinuitäten – im Guten wie im Schlechten – zu oft außen vor. Die starke Betonung der Epochenzäsur ist umso bedauerlicher, als Wolfrum ein namhafter Historiker des erfolgsgeschichtlichen Narrativs ist und eine stärkere Integration der Vorgeschichte der Berliner Republik sehr interessant gewesen wäre.8
Die allerjüngste Zeitgeschichte ist in ihren Folgen, Erfolgen und Misserfolgen vorerst schwer einzuordnen. Wie passt etwa zusammen, dass es mit Kohl, Schröder und Merkel in drei Jahrzehnten nur drei Bundeskanzler/innen gab, während die Krise der (ehemaligen) „Volksparteien“, insbesondere der SPD, und die Destabilisierung der politischen Verhältnisse gleichsam gesichertes Wissen zu sein scheinen? Für definitive Antworten ist es noch zu früh, und vielleicht wäre es zeithistorisch verdienstvoll, durch die kritische Betrachtung von Sprache und (medialen) Selbstbeschreibungen mehr Distanz zur Gegenwart herzustellen. Im Augenblick dieser Offenheit aber ermuntert Wolfrums „Aufsteiger“ zu Fragen, zur Diskussion und zur weiteren Forschung. Ein Diktum Axel Schildts variierend9, hat auch die Berliner Republik mittlerweile eine Geschichte – obwohl sie noch kein abgeschlossenes Kapitel darstellt. Edgar Wolfrum hat dazu eine anregende Inventur veröffentlicht – eine betont optimistische Bestandsaufnahme unmittelbar vor der Corona-Pandemie.
Anmerkungen:
1 Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 1–8, hier S. 2 und 6, https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1953_1_1_rothfels.pdf (18.06.2020).
2 Zur Biographie und Bewertung mit weiteren Literaturhinweisen: Andreas Wirsching, „Epoche der Mitlebenden“ – Kritik der Epoche, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 8 (2011), S. 150–155, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2011/4762 (18.06.2020). Vgl. Gabriele Metzler, Zeitgeschichte. Begriff – Disziplin – Problem, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 07.04.2014, https://docupedia.de/zg/metzler_zeitgeschichte_v1_de_2014 (18.06.2020).
3 Edgar Wolfrum, Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998–2005, München 2013, S. 715.
4 Ders., Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990, Darmstadt 1999.
5 Frank Bösch, Vermessung der Gegenwart, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.03.2020 (Literaturbeilage), S. L 14, https://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/der-aufsteiger-eine-geschichte-deutschlands-von-1990-bis-heute-16666046.html (18.06.2020).
6 Jens Hacke, Wider die Miesepeter, in: ZEIT, 12.03.2020 (Literaturbeilage), S. 32.
7 Eckart Conze, Blüh im Glanze, in: Süddeutsche Zeitung, 10.03.2020 (Literaturbeilage), S. 13, https://www.sueddeutsche.de/politik/edgar-wolfrum-aufsteiger-1.4832458 (18.06.2020).
8 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006.
9 Axel Schildt, Überlegungen zur Historisierung der Bundesrepublik, in: Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow (Hrsg.), Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt am Main 2002, S. 253–272, hier S. 259; zum Fortgang der Diskussion siehe auch Frank Bajohr u.a. (Hrsg.), Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik. Festschrift für Axel Schildt, Göttingen 2016.