„Die Erinnerung der Deutschen an die Eroberung Berlins 1945 scheint wie zerrissen. Was sollte denn Vorrang haben: das Nationale, also die Kapitulation, oder das Politische, mithin die Befreiung? Ergo erschien die Einnahme Berlins als Katastrophe, der Sturm auf die Reichskanzlei aber als Rettung.“ Mit diesem kurzen Klappentext stellt sich das kleine Buch von Christoph Schmidt den Lesenden vor und offenbart dabei in denkbar knapper Form seine zentrale These. In der Lesart Schmidts riss „Berlin ‘45“ eine Lücke ins Gedächtnis der Deutschen. Er macht sich daran, bei ihrer Schließung zu helfen. Dabei treiben ihn keineswegs revisionistische Motive an. Gleich zu Beginn stellt er den Journalisten Erich Kuby zitierend klar: „‚Erbärmlich und schmutzig – das war das Ende von Berlin.‘ Korrekt, könnte man sagen, und dieses Urteil macht auch begreiflich, warum die Deutschen so große Schwierigkeiten haben, sich auf das ‚Ende‘ – eigentlich ja ein Neubeginn – einzulassen. Das große Schweigen, das hieraus resultierte, haben Rechte wie Linke in seltener Einmut konstatiert.“ (S. 10)
Man erkennt den Mut zur Zuspitzung und Verdichtung, der die essayistische „Skizze“ (S. 32) prägt, aber dennoch nichts von der Dichte der Empirie nimmt. Schmidt schickt sich zunächst an, mit zehn Thesen ein Desiderat zu umreißen, dem er dann zu Leibe rückt. Nicht alle seine Thesen werden ohne Widerspruch bleiben – z.B. „Wie es ‚wirklich‘ war, steht nicht in den Quellen“ – doch deuten sie einen multiperspektivischen Zugang zum Thema an, der bisher tatsächlich fehlte. „Weit davon entfernt, die sowjetische Eroberung Berlins in toto zu rekapitulieren“, strebt das Buch an, die Defizite in der „Frage nach dem Ausmaß des Realismus zwischen Erkenntnisbereitschaft und Realitätsverlust im Frühjahr 1945“ zu überwinden. Schmidt unterscheidet drei Ebenen des Realismus – jenen NS-offiziellen „von oben“, den „von unten“ und einen „kritischen“: „Typ I gründet auf Macht, Typ II auf Überleben im Alltag und Typ III auf Moral.“ (S. 32f.) Er spitzt auf die Formel zu: „Die Frage nach der Realitätsverleugnung ist auch deshalb so schwerwiegend, weil sie im Zweifel mündet, ob die Deutschen überhaupt befreit werden wollten.“ (S. 37)
Das Buch ist mit der Einleitung in zehn Kapitel eingeteilt, die aber nicht mit den zehn Thesen korrelieren. Davon sind sieben verschiedenen Perspektiven auf „Berlin ‘45“ verpflichtet. Abgeschlossen wird das Buch von einer „Reflexion“ und einem eigenen Schlusskapitel, die zusammen ein Fünftel des Buches ausmachen.
„Die Berichte von Augenzeugen der Einnahme Berlins zerfallen in zwei Gruppen: Tagebücher und Erinnerungen. Letztere stellen die große Mehrheit. Da sich die Darstellung per Tagebuch oder Rückblick erheblich unterscheidet, verändert sich dadurch auch die Sicht auf 1945.“ (S. 43) Schmidt ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität zu Köln, was einen wohltuenden Blick sowohl auf deutsch- (auch solche aus der DDR) als auch russischsprachige Quellen und Forschungsliteratur zur Folge hat, der das Buch aus der weiteren Reihe von Veröffentlichungen zum Thema herausstellt. Eine weitere These des Autors lautet: „Deutsche und sowjetische Quellen unterscheiden sich wie Tag und Nacht.“ (S. 25) Er verweist zum Beispiel auf einen Unterschied, dass die sowjetische Zensur „Pauschalurteile über die Deutschen sorgfältig“ zurückgehalten habe, unter anderem „um das Verhältnis zur DDR nicht noch mehr zu belasten“ (S. 22). Währenddessen finde man in deutschen Erinnerungsberichten vielfach unverhohlen rassistische Beschreibungen des sowjetischen Kriegsgegners, die deutlich der „Untermenschen“-Propaganda des Nationalsozialismus verpflichtet blieben. Kritische Befunde wie diese korrespondieren aber keineswegs mit einem unkritischen Blick auf die sowjetische Siegermacht. Schmidt thematisiert beispielsweise auch Repressions- und GULag-Erfahrungen von sowjetischen Kämpfern (S. 43f., 177).
Anregend sind die Passagen, in denen er verschiedene Perspektiven auf ein Einzelereignis präsentieren kann wie bei einer Situation in einem Bunker in der Meinekestraße am 1. Mai 1945, an die es zwei weit auseinanderfallende Erinnerungen gibt. Die Darstellung dieser Spannungen fasst Schmidt in folgender Sentenz: „Alles in allem scheint Erinnerung kein Rohstoff zu sein wie Kohle, sondern ein Produkt wie Strom. Während des Transports durch Zeit und Raum ändert es den Charakter: Je weiter der Weg, desto kleiner die Spannung.“ (S. 53f.)
Wie er ein Schweigen im Bereich der Sprache konstatiert, sieht er auch eine „eigene Form der Bildüberlieferung“ (S. 64) bei den Deutschen nicht. Entsprechend sind seine Interpretationen von Fotografien und Gemälden, die das Kapitel „Perspektiven des Realismus“ durchziehen, mit aufschlussreichen Perspektivierungen verknüpft: „So überstrapaziert Chaldejs Aufnahme auch ist, hat sie dennoch eine verborgene Seite. Evgenij Chaldej entstammte einer jüdischen Familie, seine Eltern kamen bei einem Pogrom 1918 ums Leben. Die einzige Schule, die er je besuchte, war der altehrwürdige Cheder, vor allem aber gehörte Chaldej wie Liebermann, Mark Rothko oder Chagall der ersten Generation jüdischer Künstler an, die das Abbildungsverbot durchbrachen. Vor diesem Hintergrund ändert das Jahrhundertfoto seine Bedeutung, denn nun steht der Reichstag für den Ursprung des Holocaust. […] Worum es geht, ist ein Bild am offenen Grab, besser gesagt am Massengrab; von Berlins Juden gab es nur noch den Friedhof.“ (S. 56) Mit einer gewissen Folgerichtigkeit schließt ein Kapitel an, dass der Perspektive von jüdischen Überlebenden gewidmet ist. Schmidts Beschreibung kreist allerdings nur am Rande um „Berlin 45“, sondern blickt eher auf das Überleben im Untergrund. Er beruft sich auf bekannte Erinnerungszeugnisse, etwa von Hans Rosenthal oder Marie Jalowicz Simon, mit deren späterem philosophischen Werk er sich ebenfalls mit Blick auf ihre Erlebnisse im Untergrund und bei der Befreiung auseinandersetzt (S. 77–81).
Es folgen Kapitel zur Ablenkung in Anbetracht des Krieges reihum, die zwischen Alkoholexzessen, mancher scheinbar gleichgültigen Lektüre von Klassikern oder einem verkrampften Festhalten an „Zivilisation und Tischmanieren“ oszillieren konnte (S. 85). Eine interessante Perspektive auf den massenhaften Besitzerwechsel von Armbanduhren an Sowjetsoldaten bietet das folgende Kapitel, das die Kulturgeschichte Russlands bzw. der Sowjetunion einbindet. Es habe sich um eine „Enteignung der Zeit“ (S. 104) gehandelt, die allerdings auch indirekt den Druck auf das Sowjetsystem erhöht habe, weil dessen Defizite etwa in Anbetracht der Beuteuhren deutlicher zu Tage traten. Schmidts Überlegungen zu „demonstrativer Gewalt“ sowie zu den Vergewaltigungen am Kriegsende nehmen eingeführte Deutungen (etwa vom „Ersatzopfer“ für die ungestillte Gewalt oder als „Krönung“ des Sieges) kritisch unter die Lupe und entwickeln eine eigene Lesart, auch hier die sowjetische Geschichte und Gesellschaft fest im Blick.
Zu kritisieren ist an dem Buch lediglich, dass der Autor mitunter etwas weitschweifig parliert und dann schon mal den Blick vom Gegenstand der Betrachtung wegschweifen lässt, etwa wenn er Alfred Döblins Bericht über seine Flucht durch Frankreich zitiert, der mit der Eroberung Berlins 1945 genauso wenig zu tun hat wie das ausführlich erzählte Schicksal Joel Königs.
Auch wenn inzwischen die Jahrestage vorbeigegangen sein mögen, ist das Buch trotz dieser Kritikpunkte eine in mehrerlei Hinsicht anregende und beeindruckende Lektüre. Sie verweigert sich der Schlachtengeschichte vollständig, changiert stattdessen thesenstark zwischen sehr konkreten und plastischen Schilderungen und abstrakteren theoretischen Überlegungen, die man zu diesem Thema wohl kein zweites Mal findet.