V. Erkkilä: The Conceptual Change of Conscience

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Title
The Conceptual Change of Conscience. Franz Wieacker and German Legal Historiography 1933–1968


Author(s)
Erkkilä, Ville
Series
Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts (106)
Published
Tübingen 2019: Mohr Siebeck
Extent
XIII, 314 S.
Price
€ 79,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Christoph König, BSP Business & Law School Berlin / Universität Innsbruck

Franz Wieacker war einer der bedeutendsten Rechtshistoriker des 20. Jahrhunderts. Zwischen den Ursprüngen der europäischen Rechtskultur im alten Rom und den Verästelungen der gegenwärtigen Dogmatik gab es kaum ein Themengebiet, zu dem er nicht historisch fundiert und theoretisch aufgeklärt gearbeitet hat. Von Franz Wieacker stammt die noch immer wirkmächtige Meistererzählung, das Recht des 19. Jahrhunderts sei von einem leeren Formalismus geprägt gewesen, dem erst das 20. Jahrhundert mühselig verbindliche Inhalte habe abringen können.

Wie man weiß, waren diese Inhalte im Falle von Franz Wieacker, zumindest zeitweise, ziemlich braun. Seine Wahrnehmung der Moderne als einer Geschichte der Entfremdung kreist um die Versprechungen des Nationalsozialismus und die Enttäuschungen über deren Schicksal, die Enttäuschung über den Krieg und dessen Ausgang, die Enttäuschung über die Nachkriegszeit und die Entnazifizierung. Wer sich mit Franz Wieacker auseinandersetzt, kommt deshalb unweigerlich auf die Frage: Hatte Franz Wieacker seine braune Materialisierung schon immer im Kopf, und der Nationalsozialismus kam nur dazwischen? Oder war er lediglich ein vorübergehend Verführter, dessen Denken sich eher durch Brüche als durch Kontinuitäten auszeichnet?

Auch Ville Erkkilä hat sich diese Fragen in seiner Dissertation The Conceptual Change of Conscience gestellt. Wie hat sich die Enttäuschung von Franz Wieacker über sein Zeitalter in seinen Texten manifestiert? Erkkilä macht daraus drei detailliertere Fragen (S. 18): 1. Wie hat Franz Wieacker die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen wahrgenommen und warum hat er manche als angemessen und manche als unwürdig verstanden? 2. Was sind die (Dis-)Kontinuitäten in der Geschichtsschreibung Franz Wieackers und auf welchen Vorverständnissen („shared worldview and culture“) hat er seine geschichtswissenschaftliche Vision aufgebaut? 3. Wie hat Franz Wieacker seinen Glauben in die Wahrhaftigkeit („truthfulness“) geschichtlicher Entwicklungen sowie (Dis-)Kontinuitäten seiner historiographischen Herangehensweise („historiographical culture“) auf Textebene erklärt?

Dabei formuliert Erkkilä nicht den Anspruch, den wahren Franz Wieacker zu beschreiben, sondern auf Basis bisher unverarbeiteter Korrespondenz Franz Wieackers Gedankengänge sowie die „Welt, in der er lebte [sowie] möglichst den Horizont, der seine Vorverständnisse“ („representations“) prägte, zu verstehen (S. 48).

Erkkilä wählt dafür einen biografischen – wohl besser: chronologischen (S. 48) – Zugriff auf Leben und Werk Franz Wieackers. In seinen Vorüberlegungen („Theory and Methodology: Deconstructing the historiographical act“, S. 25–48) setzt Erkkilä sich mit den Werken von Arthur C. Danto, Frank Ankersmit, Reinhart Kosseleck, Erich Auerbach und anderen auseinander und formuliert daraus seinen Zugang zu narrativer Geschichtsschreibung. Die Narrative, die er dazu wählt, nennt er Rechtsbewusstsein („legal consciousness“) und Rechtsgewissen („legal conscience“).

Die Biografie beginnt klassisch mit der Geburt, braucht dann aber erfrischenderweise keine halbe Seite, um die vorakademische Zeit hinter sich zu lassen. Erkkiläs Ziel ist es hier nämlich, die Bühne für die eigentliche Aufführung vorzubereiten. Franz Wieackers Biografie vor 1934 ist die Geschichte des „Verfalls des Bürgertums“ (S. 53): Bildungsbürgertum, Kulturnation, Juristenstand, Heimatfront, Weltwirtschaftskrise. Erkkilä will in den Texten von Franz Wieacker und seiner Zeitgenossen diese Verfallsbeobachtung erkannt haben. Statt den Diskurs lediglich zu wiederholen, habe Franz Wieacker daraus eine eigene Vision der Geschichtsschreibung entwickelt. Diese Vision finde ihren Ausdruck in den Narrativen Rechtsbewusstsein und Rechtsgewissen (S. 64), auch wenn Franz Wieacker die Begriffe selbst kaum benutze (S. 283).

Gleichwohl widmet Erkkilä diesen beiden Begriffen seine zwei Hauptkapitel. In beiden findet jeweils ein Dreischritt statt. Zunächst wird unter der Überschrift „language“ der wissenschaftliche – oder zumindest bildungsbürgerliche – Sprachgebrauch des Narrativs thematisiert, historisch eingeordnet und mit Verweis auf zeitgenössische Schriften kontextualisiert. Darauf folgt unter „culture“ eine Skizze der (Rechts-)Kultur der jeweiligen Zeit, die Veränderung dieser Sprachfiguren innerhalb der Kultur wird dann unter „affections“ im Selbstverständnis Franz Wieackers verarbeitet. Daran schließt sich eine Lektüre ausgewählter Schriften von Franz Wieacker an, die diesen Dreischritt versucht ebendort nachzuweisen. Das macht Erkkilä jeweils für die Zeiträume 1933–1945 sowie 1945–1968.

Rechtsbewusstsein (III) – Untertitel: „die grausame Wirklichkeit und [dessen] menschliche Wahrnehmung“ (S. 65) – soll dabei verstanden werden als „people’s opinion on the rule of law“ (S. 65) – der gesamtgesellschaftliche Kompromiss zur Rechtsstaatlichkeit, vielleicht mit einem kleinen Drall in Richtung Volksgeist. Untersetzt wird Rechtsbewusstsein mit den weiteren Narrativen: Bildung und Stand.

Rechtsgewissen (IV) – Untertitel: Gewissen geschichtlich und rechtswissenschaftlich (S. 177) – ist dabei ähnlich konturiert wie Rechtsbewusstsein, aber zeitloser und elitärer (S. 177f.): das praktizierte Rechtsbewusstsein der sachkundigeren, kompetenteren und aufmerksameren Experten; ein intellektuelles Werkzeug („mental tool“) (S. 177). Diesem Rechtsgewissen werden die Motive Kameradschaft und Schöpfung zur Seite gestellt.

Erkkilä wählt mit seiner Einteilung anhand dieser Narrative einen originellen Zugang zur biographischen Bearbeitung Franz Wieackers und in einem gewissen Umfang auch zur Untersuchung von dessen Zeitgenossen. Die Kategorien sind schlüssig und werden mit ansprechender Detailtiefe anhand teils vorher der Öffentlichkeit noch nicht zugänglicher Quellen dargestellt. Von besonderer Nutzerfreundlichkeit ist Erkkiläs Vorgehen auch deshalb, weil er die von ihm genutzten, häufig noch unbekannten Quellen in der Regel im deutschen Original in den Fußnoten beifügt. Damit wird nicht nur das Original erschlossen, sondern zugleich der Weg von Erkkiläs Interpretationen nachvollziehbar.

Diese Transparenz macht die Deutungen natürlich auch angreifbar. Vor allem eine Facette in Wieackers Schaffen erfordert, wie eingangs erwähnt, besondere Aufmerksamkeit. Wie hält es Erkkilä mit Franz Wieacker als Nazi? Es darf kein Zweifel bestehen: An dem Makel der nationalsozialistischen Geburt1 führt kein Weg vorbei. Was unter dem Hakenkreuz gemacht, gedacht oder gelassen wurde, muss zwangsläufig herausgearbeitet, hinterfragt und kritisiert werden. Wenn das Argument einer Arbeit – wenn auch nur dem Anschein nach – der Nachweis sein soll, dass ein Gedanke bereits vor dem Hissen der Hakenkreuzflagge – wenn auch apokryph – gedacht, vom Hakenkreuz dann nicht befleckt und anschließend fortgeführt wurde, ist besondere Auseinandersetzung nicht nur angeraten, sondern notwendig.

Franz Wieacker war Anfang 1933 keine 25 Jahre alt. Seine Karriere als Wissenschaftler hatte gerade erst begonnen. Er wird wohl eher kein brennender Nationalsozialist gewesen sein, aber auch kein Problem gehabt haben, die Gewähr zu bieten, rückhaltlos für den nationalen Staat einzutreten.2 Zwischen Standartenführer und Mitgliedern der Weißen Rose eröffnet sich aber noch immer ein weiteres Feld. Für Erkkilä gilt es hier also einiges zu thematisieren: „Aktion Ritterbusch“, Kieler Schule, Rechtserneuerung, etc. Franz Wieacker war eingebettet in den Nationalsozialismus und hat zwischen 1933 und 1945 mit seinen Gedanken Karriere gemacht. Vom Nationalsozialismus haben seine Gedanken mindestens profitiert; in einem Nachruf hieß es beschwichtigend, Franz Wieacker habe zumindest niemandem geschadet.3 Erkkiläs Standpunkt lässt sich exemplarisch am ehesten so zusammenfassen: „In den Briefen, die ich bekommen konnte, lässt sich weder eine rassistische Bemerkung noch irgendein Anzeichen der Bereitschaft, die faschistische Ideologie zu verbreiten, finden. [Franz Wieacker] aber war bereit mit denjenigen Wissenschaftlern zu arbeiten, die die Rechtsstaatlichkeit herabsetzten, die rassistische Rhetorik des [‚]Dritten Reiches[‘] nachplapperten, und das totalitäre Regime offen unterstützten.“ (S. 87)

In Erkkiläs Arbeit fallen Punkte auf, die daran zweifeln lassen, ob er sich seinem Gegenstand wirklich ausreichend unbefangen angenähert hat. Zunächst stolpert man als Leser:in über eine nicht unerhebliche Anzahl von Beobachtungen, Interpretationen und Einschätzungen, die Erkkilä als „offensichtlich“, „offenkundig“ o.ä. versteht (etwa S. 9, 13, 17, 21, 27, 45, 54, 61, 88, 97, 100, 102, 104, 107, 109, 112, 113 [3x], 115, 122, 133, 138, 169, 202, 209, 212, 221, 227, 229, 243, 251, 266, 273, 274, 282, 283, 284). Offensichtlichkeiten, gerade auch an kritischen Stellen, erwecken zumindest den Anschein fehlender Distanz zu den Quellen. Der Anschein wird nicht schwächer, wenn im Literaturverzeichnis Der Doppelstaat aufgeführt ist – ohne im Textkorpus zitiert zu sein – und statt dem jüdischen Anwalt der Arbeiterbewegung Ernst Fraenkel ausgerechnet dem nationalsozialistischen Staatsrechtler Ernst Forsthoff zugeordnet wird.

Aber das ist nicht alles: Neben Wieackers Korrespondenz bezeichnet Erikkilä als zentrale Quellen für seine Interpretationen die Arbeiten von Detlef Liebs4, Okko Behrends5 und Joseph Georg Wolf6, die alle „sehr detaillierte und anspruchsvolle Biografien“ vorgelegt hätten. Und weiter: Die Biografen „haben alle unter Wieackers Anleitung studiert, und dadurch hautnah seine Persönlichkeit und Charakter erlebt. Diese Biografien stellen ein unschätzbar wertvolles Hilfsmittel dar, um die Ideen in Franz Wieackers Werken zu hinterfragen.“ (S. 19)

Daran schließt sich eine Frage an: Reicht das? Darf man einen Denker, seine Gedanken und die Verwicklungen vor, unter und nach dem Hakenkreuz vor allem mit seiner eigenen Korrespondenz und den Gedächtnisschriften seiner Schüler:innen hinterfragen (S. 19)? Ein anderer hat in einer langen Rezension äußerst deutlich mit nein geantwortet.7

Das ist nicht falsch, lässt aber Erkkiläs Arbeit weniger differenziert erscheinen, als sie tatsächlich ist. Man kann die Studie nicht einfach unter dem sonstigen Schrifttum zu Franz Wieacker ablegen, irgendwo zwischen Apologie und Gedächtnisschrift. Erkkiläs Zugang zu Franz Wieackers Werk über die von ihm ausgemachten Narrative ist originell und bietet manchen neuen Aspekt. Die periodischen Synopsen der wandelnden oder stagnierenden (Rechts-)Kultur anhand des Selbstverständnisses des Bildungsbürgertums, die Erkkilä heranzieht, um die einzelnen Erzählstränge zu kontextualisieren, ist nützlich. Die Arbeit mit unveröffentlichten Quellen und Verbindungen Franz Wieackers bleibt interessant und lesenswert. Eine ungebundenere Distanz zu den kritikwürdigeren Gedanken und Wendungen in Franz Wieackers Leben und Werk wäre aber besser gewesen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Karl-Heinz Lehmann, Ist das Rechtsberatungsgesetz zeitgemäß?, in: Neue Justiz 54,7 (2000), S. 337–339, hier S. 337.
2 Vgl. § 4 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, RGBl. 34, S. 175.
3 Dieter Simon, Franz Wieacker – In Memoriam, in: Rechtshistorisches Journal 13 (1994), S. 1–31, hier S. 4.
4 Detlef Liebs, Franz Wieacker (1908–1994). Leben und Werk, in: Okko Behrends / Eva Schumann (Hrsg.), Franz Wieacker. Historiker des modernen Privatrechts, Göttingen 2010, S. 23–48.
5 Okko Behrends, Franz Wieacker.5.8.1908 – 17.2.1994, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Romanistische Abteilung 112 (1995), S. XIII-LXII.
6 Joseph Georg Wolf, Franz Wieacker (5. August 1908 – 17. Februar 1994), in: Stefan Grundmann / Karl Riesenhuber (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler. Eine Ideengeschichte in Einzeldarstellungen, Bd. 1, Berlin 2007, S. 73–88.
7 Tomasz Giaro, A Matter of Pure Conscience? Franz Wieacker and his „Conceptual Change“, in: Studia Iuridica 82 (2019), S. 9–28, hier S. 9.

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