H.A. Winkler: Der lange Weg nach Westen

Titel
Der lange Weg nach Westen. Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Bd. 2: Deutsche Geschichte vom 'Dritten Reich' bis zur Wiedervereinigung


Autor(en)
Winkler, Heinrich August
Erschienen
München 2000: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
1394 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Konrad Jarausch, Zentrum für Zeithistorische Forschung

Postmodernen Unkenrufen zum Trotz sind nationale Meistererzaehlungen weiterhin beim breiten Lesepublikum populaer, da sie einen autoritativen Überblick über die verwirrenden Ereignisse der Vergangenheit versprechen. Eine solche eindrucksvolle, auf das Verhaeltnis von Nation und Demokratie zugespitzte Synthese der letzten zweihundert Jahre deutscher Geschichte hat Heinrich August Winkler im vergangenen Jahr im Beck Verlag vorgelegt. In zwei dichtgedrängten Bänden bietet einer der bedeutendsten deutschen Historiker unserer Tage sozusagen eine Summa seines Lebenswerks, das von frühen Analysen des preussischen Liberalismus, über das mehrbändige Standardwerk zur Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik bis zu neueren publizistischen Stellungnahmen zu den Folgeproblemen der deutschen Vereinigung reicht. Der an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Autor, dessen liberale Sympathien der gemässigten Arbeiterbewegung gelten, schildert in farbigem Stil die Hauptlinien der politischen Entwicklung, flicht aber auch erhellende Reflexionen über führende Denker der behandelten Epochen wie Meinungsmacher des jeweiligen Zeitgeistes ein. Nicht zu Unrecht ist dieser grosse Wurf von der publizistischen und wissenschaftlichen Kritik mit grosser Aufmerksamkeit und weitgehend zustimmend aufgenommen worden.

Die packende Darstellung geht von der umstrittenen Vorstellung eines "deutschen Sonderweges" aus, die sich in einer "doppelten Verspätung" in der Nationswerdung und in der Demokratisierung äussert [Bd. 1: S. 1]. Die selbstverständliche Messlatte von Winklers Beurteilung ist die paradigmatische Entwicklung Englands und Frankreichs, die den Nationalstaat und Parlamentarismus wesentlich früher als Deutschland erreichten. Methodisch versteht der Autor sein Vorgehen als eine Form politischer Diskursgeschichte, die gleichzeitig Ereignisse und ihre Deutungen ins Visier nimmt, aber nicht um nur zu beschreiben, sondern um zu erklären, "warum es eigentlich so gekommen ist" [Bd. 1: S. 3]. Der gut lesbare und klar gegliederte erste Band kreist um den komplizierten Prozess der Nationsbildung und die stockende Entwicklung des Parlamentarismus, der in der Bismarckschen Durchsetzung der kleindeutschen, mit allgemeinem Wahlrecht verbrämten Einigung unter preussischer Aegide kulminierte. Die Darstellung beschäftigt sich mit der Entwicklung des Liberalismus, betont die Tendenzen des radikalen Nationalismus und Antisemitismus, berücksichtigt aber auch die Gegenbewegungen des politischen Katholizismus und der Sozialdemokratie. Originell ist vor allem die Betonung des Reichsmythos [Bd. 1: S. 554] - so beginnt Band 1 mit der Feststellung "im Anfang war das Reich" [S. 5] -, der über die Grenzen des klassischen Nationalstaates hinaus drängte und autoritäre, antidemokratische Tendenzen stärkte.

Der zweite, epochal etwas ungleichgewichtige Band behandelt die eigene Lebenszeit des Autors aus zeitgeschichtlicher Sicht. Er besteht aus einer komprimierten Schilderung des 'Dritten Reichs' (115 Seiten), einer ausführlicheren Darstellung beider Nachfolgestaaten (373 Seiten) und einem narrativen Überblick über die Vereinigung (151 Seiten) sowie einigen abschliessenden Überlegungen (21 Seiten). Die knappe Diskussion der NS-Diktatur ist vergleichsweise stark auf den Holocaust hin ausgerichtet und dezidiert in ihrer Betonung der deutschen Schuld. Innovativer ist die Behandlung der Doppelgeschichte der Nachfolgestaaten, denn sie versucht, in kurzen, von West nach Ost wechselnden Abschnitten eine problemorientierte Spiegelgeschichte zu schreiben, welche die unterschiedlichen Reaktionen auf ähnliche Herausforderungen herausarbeitet und den graduellen Prozess der Teilung deutlich macht. Zu vielen umstrittenen Fragen wie der Stalin-Note von 1952, der konservativen Modernisierung der fünfziger Jahre oder der ambivalenten Wirkung der Studentenbewegung von 1968 liefert der Autor treffende Urteile. Während er Adenauer und die Entwicklung der CDU eher distanziert beschreibt, analysiert er die Diskussionen innerhalb der SPD und zwischen den Intellektuellen mit viel Einfühlung und auch zeitweiliger Selbstkritik. Besonders lesenswert sind die Kommentare zu den diversen politischen und historischen Identitätsdebatten der alten Bundesrepublik, wie der Entwicklung vom Widerstand des 20. Juli zum Genozid von Auschwitz als Gründungsmythen [Bd. 2: S. 621], da sie eigenes Miterleben mit kritischer Beurteilung verbinden.

Wie weit kann eine auf sogen. grosse Politik fokussierte, demokratisierte Meistererzählung der Nationalgeschichte nach den Katastrophen der deutschen Vergangenheit am Anfang des 21. Jahrhunderts noch tragen? Die zu erwartenden Einwände haben einerseits mit spezifischen Interpretationen des Autors zu tun. Die partielle Rehabilitierung des Bismarckschen Nationalstaates als eine für Europa tolerierbare Lösung der deutschen Frage wird in manchen katholischen wie linken intellektuellen Kreisen auf Widerspruch treffen. Einige bekannte Thesen des Autors, wie die innere Neugründung des Reiches im Jahre 1879, werden kaum weiterentwickelt, und an anderen Stellen, wie bei der Behandlung des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs ["Hauptschuld" Bd. 1: S. 332], grenzt die Darstellung fast an Klischees. Die starke Betonung des radikalnationalen Entwicklungsstranges führt zu einer Teleologie auf 1933 hin, und die Erklärung der NS-Machtergreifung aus der "Ungleichzeitigkeit (...) der frühen Demokratisierung des Wahlrechts und der verspäteten Demokratisierung des Regierungssystems" [Bd. 1: S. 550] wird Sozialhistoriker kaum überzeugen, da sie die dahinter stehenden gesellschaftlichen Verwerfungen ausspart. Auch ist die interessante These der Gefährlichkeit der Träume vom Reich nicht genügend in der Darstellung selbst belegt, und die ausführlichen Anmerkungen ziehen englischsprachige Arbeiten zur deutschen Geschichte nur selten heran. Das abschliessende Urteil über die NS-Herrschaft, "nichts hatte die Deutschen vom Westen so getrennt, wie der universalistische Anspruch, den sie mit dem Reich verbanden" [Bd. 2, S. 114], diskutiert Hitlers Missbrauch der älteren Reichstraditionen zu wenig und ignoriert den westeuropäischen Imperialismus, der sich allerdings weniger in Europa austobte.

In den Ausführungen zur Nachkriegsgeschichte werden die Probleme eines politischen Metanarrativs wie z. B. Winklers politikgeschichtliche Herangehensweise in Form einer Diskursanalyse der wechselnden Geschichtsdeutungen als solchem deutlich. Vor allem im Abschnitt über die Bundesrepublik geht die politische Diskursgeschichte weitgehend in einer Beschreibung der Kabinette, Krisen und Kompromisse unter. Auch bleibt der im Untertitel des Buches angesprochene Begriff des "Westens" unterreflektiert, d.h. die politische Westbindung wird vergleichsweise kurz behandelt, die europäische Integration taucht nur am Rande auf, und der kulturelle Hintergrund der Vorstellungen eines christlichen Abendlandes oder einer anglo-amerikanischen Konsumkultur kommt kaum in den Blick. Die Hauptthese einer Verwestlichung wird auf die Veränderung des Geschichtsverständnisses reduziert, ohne andere habituelle und kulturelle Dimensionen genügend zu berücksichtigen, und die verständliche Kritik an Vorstellungen von "postnationaler Demokratie" verhindert eine positive Beurteilung von Traditionsbrüchen wie der Entmilitarisierung, Entnationalisierung und Entstaatlichung. Aus der Perspektive der Totalitarismustheorie geschrieben, ist die Darstellung der DDR zu sehr auf das repressive Regierungssystem bezogen, um die widersprüchlichen Alltagserfahrungen der Ostdeutschen in den Blick zu bekommen. Die Schilderung der Vereinigung als Wechselwirkung von innenpolitischer und aussenpolitischer Dynamik ist kompetent, betont jedoch das Ende der diversen Sonderwege und die "Ankunft im Westen" etwas zu apodiktisch. Die widersprüchlichen Prozesse der Neuorientierung politischer Kultur nach den Katastrophen kommen trotz der Erwähnung intellektueller Auseinandersetzungen nur wenig in den Blick.

In vieler Hinsicht sind diese gewichtigen Bände, die man mit viel Gewinn lesen kann, die Zusammenfassung von historischen Debatten und Interpretationen der Nachkriegsgeneration westdeutscher Historiker. Wie eine Reihe der Interviews mit namhaften Historikern der Bundesrepublik in dem Band "Versäumte Fragen" demonstrieren, ist für die Gruppe linksliberaler Wissenschaftler die Umkehrung der wilhelminischen Vorstellungen einer deutschen Überlegenheit in einen pathologischen Sonderweg axiomatisch. Die Akzeptanz westlicher Wertvorstellungen junger Intellektueller der Nachkriegszeit und der Bruch mit den nationalgeschichtlichen Traditionen sind zweifellos eine historische Leistung von grosser Bedeutung, denn sie trugen wesentlich zum Erfolg des "langen Wegs nach Westen" bei. Sollte es deshalb überraschen, dass führende Köpfe dieser Generation auf der Höhe ihres wissenschaftlichen Schaffens wie Thomas Nipperdey oder Hans-Ulrich Wehler im gleichen Verlag Gesamtdarstellungen vorgelegt haben, welche diesen eigenen Wertewandel historisch zu untermauern versuchten? In diesem Chor hat Heinrich August Winkler einen wichtigen eigenständigen Part durch die Betonung der negativen Folgen des älteren Reichsmythos, den er als "tragfähige Brücke zwischen Hitler und dem gebildeten Deutschland" apostrophiert. Nur in seinem Versuch historischer Legitimierung eines, die Bismarcksche Reichsgründung durch die Wiedervereinigung bestätigenden, "postklassischen demokratischen Nationalstaats" der Deutschen in Europa [Bd. 2: S. 638] befindet er sich unter seinen Altersgenossen wohl eher in einer Minderheit.

Problematisch ist dieser darstellerische Kraftakt jedoch zugleich, weil er eine Interpretation deutscher Geschichte anbietet, deren Prämissen zu oft unhinterfragt bleiben. Auch in demokratisiertem Gewande bleibt der Versuch einer Erneuerung einer nationalen Meistererzählung kontrovers, weil der auf Ereignisabfolge konzentrierte narrative Duktus die Vergangenheit glättet, ihre fundamentalen Brüche ignoriert und eine einzige Handlungslinie gegenüber der Vielfalt erlebter Geschichten privilegiert. Die Politiklastigkeit dieser Darstellung, die eine ausgesprochene Vorliebe für lange Zitate aus Politikerreden oder Intellektuellenessays zeigt, vernachlässigt soziale Veränderungen und kulturelle Entwicklungen und verarmt dadurch das Verständnis von Nation und Demokratie. Gleichzeitig erschwert der bildungsbürgerliche Verzicht auf Anschauungsmaterial wie Bilder, Karten und Statistiken dem allgemeinen Leser den Zugang. Schliesslich, und dies ist der gravierendste Einwand, setzt das Metanarrativ des Sonderwegs den Westen als selbstverständlichen Wertmassstab, ohne seine eigene, besonders von postkolonialen Studien hervorgehobene, Unvollkommenheit ernsthaft zu thematisieren, vergleicht also die reale deutsche Entwicklung mit einer eher imaginierten westlichen Idealgeschichte. Eine solche Perspektive kann wichtige Stadien der politischen Entwicklung auf das Vorbild des westlichen demokratischen Nationalstaates hin kenntnisreich beschreiben, aber den selbstgestellten Anspruch einer Erklärung der Hintergründe und Ursachen seines letztlichen Erfolges nicht eigentlich erfüllen.

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