M. Schröder: Deutschbaltische SS-Führer

Titel
Deutschbaltische SS-Führer und Andrej Vlasov 1942-1945. "Rußland kann nur von Russen besiegt werden". Erhard Kroeger, Friedrich Buchardt und die "Russische Befreiungsarmee",


Autor(en)
Schröder, Matthias
Erschienen
Paderborn 2001: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 30,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Michael Wildt, Mittelweg 36, Hamburger Institut für Sozialforschung

Der Einfluß der Deutschbalten Alfred Rosenberg und Max Erwin von Scheubner-Richter auf die frühe politische Orientierung der NSDAP ist bekannt, ebenso die starke Stellung, die Volksdeutsche aus der Sowjetunion in Rosenbergs Ministerium für die besetzten Ostgebiete besaßen.1 Über Differenzen innerhalb der SS-Führung entlang der volksdeutschen Herkunft indessen wissen wir wenig, und es ist das Verdienst Matthias Schröders, mit einer gründlichen Studie den scheinbaren ideologischen Monolith SS differenziert zu haben.

Sein Buch gliedert sich in einen ersten Teil mit zwei ausführliche Portraits der beiden maßgeblichen SS-Führer: Dr. Erhard Kroeger, 1905 in Riga geboren, Initiator der nationalsozialistischen Bewegung in Lettland, 1939 in die entscheidenden Gespräche mit Himmler über die Umsiedlung der Baltendeutschen involviert und 1944/45 Verbindungsführer der SS-Führung zu General Vlasov, und Dr. Friedrich Buchardt, 1909 ebenfalls in Riga geboren, politischer Mitstreiter Kroegers, Herausgeber und Chefredakteur der nationalsozialistischen "Rigaer Tageszeitung", "Ostforscher" beim SD, Einsatzkommandoführer in der besetzten Sowjetunion und schließlich 1944/45 im RSHA Referatsleiter für "Fremde Völker Ost".

Der zweite Teil des Buches behandelt Entstehung und Entwicklung der "Vlasov-Bewegung", das heißt die Initiativen des 1942 gefangengenommenen russischen Generals Andrej Vlasov, eine antisowjetische russische Armee aufzubauen, einerseits und die Instrumentalisierungen Vlasovs für Propagandazwecke seitens des NS-Regimes andererseits. Im Umgang mit Vlasov spiegelte sich der politische Konflikt innerhalb der deutschen Führung über die Behandlung der Völker in der Sowjetunion wider. Während die eine Seite, vor allem in Rosenbergs Ostministerium und in der Wehrmacht zu finden, dafür plädierte, den Nationalismus und Antisowjetismus der Ukrainer, Balten, Kaukasier und selbst der Russen zu nutzen, um Verbündete im Kampf gegen Stalin zu gewinnen, beharrte Hitler, ebenso wie Himmler, auf der rassistischen Zielsetzung, daß der Krieg gegen die Sowjetunion allein der Eroberung von "Lebensraum" für die Deutschen diene und die dort lebenden "Untermenschen" allenfalls für Sklavenarbeiten einzusetzen seien. So wurden Vlasovs Aufrufe an die Soldaten der Roten Armee, die Waffen niederzulegen und überzulaufen, als Flugblätter millionenfach verbreitet. Die Aufstellung und Bewaffnung einer russischen Armee unter Vlasov hingegen scheiterten bis 1944 stets an Hitlers Widerspruch. Erst am Ende der Krieges, als der Mangel an deutschen Soldaten nur noch mit ausländischen Waffen-SS-Einheiten zu füllen war, wurde unter Aufsicht der SS eine "Vlasov-Armee" aus russischen Kriegsgefangenen aufgestellt, die Anfang 1945 in einen aussichtslosen Kampf gegen die Rote Armee geworfen wurde.

Die Geschichte der Vlasov-Armee ist von Alexander Dallin, Gerald Reitlinger, Joachim Hoffmann und anderen vielfach erzählt worden,2 aber stets waren diese Schilderungen mehr oder weniger durch den Vorwurf gefärbt, daß Deutschland den Krieg im Osten hätte gewinnen können, wenn sich nicht Hitlers Rassismus, sondern die "vernünftigen Nazis" durchgesetzt hätten. In einem ausgezeichneten Kapitel untersucht Schröder die Rezeptionsgeschichte des "Denkmal Vlasov" nach 1945 und weist nach, wie sehr in der Polarität des Kalten Krieges die kolonialistische und vor allem antisemitische Perspektive dieser scheinbar "vernünftigen" ostpolitischen Konzeption verdeckt worden ist. Der militärische Pragmatismus, der sich zum Kriegsende durchsetzte, bedeutete keineswegs die Akzeptanz einer auf politischer Gleichberechtigung gegründeten Nationalitätenpolitik Deutschlands, und die Vernichtung der Juden war als gegebenes Faktum keine Erwähnung mehr wert.

Neu an Schröders Buch ist der Nachweis, wie die Auseinandersetzung um eine nationalsozialistische Ostpolitik auch innerhalb der SS stattfand und gerade von Deutschbalten wie Kroeger und Buchardt ein mehr auf völkisch-kulturelle Hierarchie als auf "blutsbezogenen" Rassismus basierendes Modell vertreten wurde, wobei ein "eliminatorischer Antisemitismus" auch für Kroeger und Buchardt außer Frage stand. Allerdings gelangten beide erst 1944 in die Positionen, um Einfluß auf die Aufstellung einer Vlasov-Armee zu nehmen, und ihrer beider Aktivitäten in den letzten Kriegsmonaten bedeuteten nicht viel mehr als die Vergeblichkeit des letzten militärischen Aufgebots des NS-Regimes.

So liegt eine Schwäche des Buches darin, nicht die von Himmlers Position abweichenden Initiativen innerhalb der SS in den vorangegangen Jahren 1942/43, wie zum Beispiel im Reichssicherheitshauptamt im Rußlandreferat des SD-Ausland oder im SS-Hauptamt, in den Blick zu nehmen und damit die Analyse unterschiedlicher ostpolitischer Konzeptionen in der SS in einen größeren Kontext zu stellen. Die zu starke Engführung auf Kroeger/Buchardt und Vlasov hindert Schröder auch, in einem wirklich umfassenden Kapitel die verschiedenen ostpolitischen Konzepte innerhalb von SS, Wehrmacht, Ostministerium, NSDAP auf ihre Differenzen hin zu untersuchen und so – mit Bezug auf die neueren Forschungen zu den akademischen Planungsdebatten - die alten, oft verkürzenden und verharmlosenden Darstellungen abzulösen.

Die Stärke des Buches besteht daher vor allem in den beiden biographischen Portraits. In ihnen zeigt Schröder eindrucksvoll, wie sich unter den Volksdeutschen im Baltikum der Nationalsozialismus als "Bewegung der jungen Generation" verbreitete. Im Nationalsozialismus fand eine junge Elite, die gegen die Honoratioren der legalen politischen Vertretungen der volksdeutschen Minderheit opponierte, jene Weltanschauung, mit der sich "Bewegung" gegen "System", Aktivismus gegen Legalität stellen ließ und der Kampf um die Volksgruppenführung als Generationsauseinandersetzung geführt werden konnte. Das politische Zusammenspiel zwischen NS-Führung und eben diesen jungen, selbsternannten volksdeutschen Führern im Herbst 1939 führte Kroeger und Buchardt auf den Höhepunkt ihrer politische Karriere und brachte in ihrer ideologischen Perspektive Anspruch und Wirklichkeit zur Übereinstimmung.

Daß Volksdeutsche aus der Sowjetunion im NS-Regime eine wichtige Rolle gespielt haben, ist unbestritten, aber oft nur unzureichend mit deren Antikommunismus erklärt. Schröders Buch fügt Politik, Ideologie und Biographie zusammen und trägt damit wesentlich zur Erklärung dieses Phänomens bei.

Anmerkungen:
1 Hellmuth Auerbach, Hitlers politische Lehrjahre und die Münchner Gesellschaft 1919-1923, in: Vierteljahrhefte für Zeitgeschichte 25 (1977), S. 1-45; Ian Kershaw, Hitler, Bd. 1: 1889-1936, Stuttgart 1998, S. 205 f.
2 Alexander Dallin, Deutsche Herrschaft in Rußland 1941-1945, Düsseldorf 1958; Gerald Reitlinger, Ein Haus auf Sand gebaut. Hitlers Gewaltpolitik in Rußland 1941-1944, Hamburg 1962; Joachim Hoffmann, Die Geschichte der Wlassow-Armee, Freiburg i. Br. 1984.

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