: Istorija Pridnestrovskoj Moldavskoj Respubliki Bd. 1. . Tiraspol 2000 : RIO PGU, ISBN 5-88568-097-3 592 S.

Babilunga, N. V.; Beril, S. I.; Bomeko, B.G. u.a. (Hrsg.): Fenomen Pridnestrov’ja. . Tiraspol 2000 : RIO PGU, ISBN 5-88568-098-1 288 S.

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e. V. (GWZO)

„Aus der Höhe des Adlerfluges betrachtet“, so 1997 ein in Tiraspol veröffentlichtes Geschichtsschulbuch, „erinnert Transnistrien, dieser dünne Landstreifen am Ufer des grauen Dnestr, an einen gespannten skythischen Bogen.“ Das Zitat enthält in verdichteter Form die Maxime der Geschichtspolitik der 1990 proklamierten, international nicht anerkannten, zwar ca. 220 Kilometer langen, aber nur zwischen fünf und 30 Kilometer breiten „Transnistrischen Moldauischen Republik“ (Pridnestrovskaja Moldavskaja Respublika, abgekürzt PMR) - klein, dünn, aber „historisch“. Ungeachtet des autoritären, ja diktatorischen Charakters der Regimes der PMR sind die vielfältigen Unterschiede zwischen den linksufrigen und den rechtsufrigen Teilen der ehemaligen Moldauischen Sozialistischen Sowjetrepublik (MSSR) unübersehbar. Spätestens seit Ronald J. Hills Fallstudie von 1977 über die Eliten der transnistrischen Kapitale Tiraspol ist unbestritten, daß auf dem linken Ufer des Dnestr (ukrainisch Dnister, moldauisch Nistru) in sieben Jahrzehnten sowjetischer Herrschaft eine industriell geprägte Wirtschaftsstruktur entstanden ist, die in einer überaus spezifischen sozioprofessionellen und ethnokulturellen Bevölkerungsstruktur resultierte. Diese unterscheidet sich vom agrarischen Südwesten der Sowjetukraine ebenso wie vom gleichfalls rural-landwirtschaftlich geprägten Bessarabien, das erst 1940/41 vorübergehend und 1944 längerfristig an die Sowjetunion fiel. Auf dem nun der neuen MSSR zugeschlagenen Ostufer entstand eine urbane, russophone Wirtschafts-, Verwaltungs-, Partei- und Kulturelite, die aufgrund starker Funktionsrotation, weitreichender Interessenkoinzidenz und hoher Mischehenrate in sich ungewöhnlich geschlossen war und die im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion eine politische Strategie der Wahrung des eigenen Besitzstandes und Einflusses formulierte und mit hoher Risikobereitschaft durchsetzte – auch mit Waffengewalt. Die Ausrufung der dreisprachig russisch-moldauisch-ukrainischen PMR im September 1990, die Abspaltung von der 1991 gegründeten Republik Moldova und der kurze, aber grausame Krieg um die Stadt Bendery (moldauisch Tighina) auf dem Westufer des Dnestr im Juni 1992 waren deutliche Belege hierfür.

Zur eigenen Herrschaftslegitimation sowie zur Erhöhung des Loyalität der Bevölkerung setzte die Führung in Tiraspol um den 2001 zum zweiten Mal dritten Mal gewählten „Staatspräsident“ Igor‘ N. Smirnov aber auch andere Mittel ein. Diese waren die Bewahrung sowjetischer Maximen in der Sozial- und Wirtschaftspolitik, also der Erhalt der staatlichen Großbetriebe und der Systeme sozialer Sicherung für die im Rentenalter befindliche Hälfte der heute ca. 670.000 Einwohner der PMR, sowie eine aufwendige staatliche Geschichtspolitik, zu deren Konzipierung und Propagierung 1991 an der Transnistrisch-Staatlichen Taras-Ševčenko-Universität ein „Wissenschaftliches Forschungslabor der Geschichte Transnistriens“ unter Leitung des ehemaligen Chişinăuer „Memorial“-Aktivisten und Zeithistorikers Nikolaj V. Babilunga eingerichtet wurden. 1992 begann diese Institution mit der Veröffentlichung einer sechsteiligen Broschürenserie zur Geschichte Bessarabiens und Transnistriens, und seit 1997 erscheint ein Jahrbuch zur Geschichte der Region (Ežegodnyj istoričeskij almanach Pridnestrov’ja). Hinzu kommen Quelleneditionen und Schulbücher.
Die fünf zentralen und daher immer wieder wiederholten Begriffe der auf die Schaffung eines spezifisch transnistrischen Wir-Gefühls zielenden Geschichtspolitik sind „Eigenständigkeit“, „Staatlichkeit“, „Polyethnizität“, „Moldauertum“ (in einem historisch-kulturellen, nicht ethnischen bzw. sprachlichen Sinne), sowie „östliche (orthodoxe) slawisch-russländische Ausrichtung“, Haupttransmissionsriemen sind Schulen und Medien sowie Erinnerungsorte, Denkmale, Museen, staatliche Symbole und Symbolträger wie Banknoten, Münzen und Briefmarken, desgleichen eine Reihe neu geschaffener Kulte, in deren Mittelpunkt Personen wie der zarische General Aleksandr V. Suvorov, der am Ende des 18. Jahrhunderts die vormals osmanische Region zwischen Bug und Dnestr eroberte, oder die Schlacht um das als „unser West-Berlin“ heroisierte Bendery stehen.
Anläßlich des zehnjährigen Bestehens der PMR im Jahr 2000 präsentierte das genannte Tiraspoler „Labor“ seine in massenwirksam-propagandistischer Aufmachung bereits weit verbreiteten „Forschungsergebnisse“ dann auch in populärwissenschaftlicher wie geschichtswissenschaftlicher Form. Die populärwissenschaftliche Variante ist das Buch „Phänomen Transnistrien“, welches seinen Autoren zufolge „den gesetzmäßigen Charakter der Entstehung und Festigung transnistrischer Staatlichkeit aufdeckt“. Es ist explizit als eingängige Quintessenz des eigentlichen wissenschaftlichen Hauptwerks, einer zweibändigen „Geschichte der Transnistrischen Moldauischen Republik“, gedacht, deren erster Band zeitgleich erschien und „die Periode von der Steinzeit bis zum Sturz des monarchistischen Systems in Rußland“ 1917 umfaßt.
In beiden Publikationen werden die genannten fünf geschichtspolitischen Schlüsselbegriffe durch die Jahrtausende hindurch dekliniert, wobei Kern der Argumentation ist, daß sich auf dem östlichen Küstenstreifen des Dnestr zahlreiche geschichtsmächtige Besonderheiten herausgebildet haben, die erst im Zeichen der spätsowjetischen Krise zutage getreten seien und zur Herausbildung eines „Volks der PMR“ geführt hätten. Als Periodisierungsmarken dieser neuen Nationalgeschichte werden insgesamt zehn genannt: (1) Das Altpaläolithikum, für welches das östliche Dnestr-Ufer als Urheimat der Menschheit ausgemacht wird; (2) die Kiever Rus‘, als der „Weg von den Warägern zu den Griechen“ entlang des Dnestr verlief, Transnistrien somit an einer Magistrale des Welthandels lag sowie Teil der ersten russischen Reichsbildung war; (3) die Epoche der Teilung der Region zwischen dem Osmanischen Reich bzw. dem Krim-Khanat einerseits und Polen-Litauen bzw. dem Kosakenstaat andererseits, während der Transnistrien eine kulturelle Brückenfunktion zwischen Okzident und Orient beigemessen wird; (4) die Frontier-Situation von der russischen Eroberung Transnistriens 1791 bis zur Einnahme Bessarabiens 1812, als die Region den Vorposten des Zarenreiches gegenüber dem Osmanischen Reich und dem Balkan bildete; (5) Revolution und Bürgerkrieg von 1917 bis 1922, in deren Ergebnis das Territorium der heutigen PMR Teil der Ukrainischen SSR wurde; (6) die von 1924 bis 1940 innerhalb der Sowjetukraine bestehende Moldauische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (MASSR), die als Vorläufer genuin transnistrischer Staatlichkeit mit Tiraspol als Hauptstadt (ab 1929) dargestellt wird; (7) der Zweite Weltkrieg mit Schwerpunkten auf dem passiven Widerstand gegen die rumänische Besatzungsherrschaft, auf dem Partisanenkampf gegen diese und auf dem Blutzoll, den die Bewohner Transnistriens für den Sieg der Roten Armee über das nationalsozialistische Deutschland entrichtet haben; (8) die Jahrzehnte forcierter Industrialisierung in der MSSR vom Ende der vierziger Jahre bis in die siebziger hinein, die von einer Ausweitung des Bildungswesens, dem Wachstum der urbanen Zentren und einem starken Zuzug aus anderen Teilen der Sowjetunion gekennzeichnet waren; (9) die Jahre 1989-1992, als die transnistrische Protestbewegung gegen das „moldauische Sezessionsstreben“ entstand, die „Wiederherstellung transnistrischer Staatlichkeit“ erfolgte und die Schlacht um Bendery gewonnen wurde; und (10) das Folgejahrzehnt, das als Periode der Konsolidierung der PMR gewertet wird.

Auch wenn, wie es im Vorwort zum ersten Band der „Geschichte der PMR“ heißt, deren Verfasser „die Benutzung der Geschichte zur Lösung dieses oder jenen heutigen politischen Problems a priori als völlig unzulässig hielten“, ist natürlich allein die Zugrundelegung des beschriebenen Zehn-Perioden-Rasters, schon gar die Anwendung des Begriffes „Transnistrische Moldauische Republik“ auf die Ur- und Frühgeschichte, auf Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit und das 19. Jahrhundert, ein hochpolitischer Sinnstiftungsakt. Um diesen Politisierungseffekt abzumildern, hat das besagte Tiraspoler „Labor“ mit V. Ja. Grosul, G. A. Sanin und M. N. Guboglo Geistes- und Sozialwissenschaftler aus der Rußländischen Föderation eingebunden sowie darüber hinaus die sonst übliche gegen Chişinău, Rumänien und „den Westen“ gerichtete Polemik gedämpft. Ausnahmen bestätigen dabei die Regel, etwa wenn in der Einleitung von „der Blockade der jungen Republik durch Moldova“ oder von „bewaffneter Agression gegen die PMR“ durch die Zentralregierung gesprochen wird. Bei näherer Betrachtung ist es indes mit der Wissenschaftlichkeit nicht allzu weit her: Der Band verfügt weder über Fußnoten noch Anmerkungen, und nicht-russische Titel machen in der umfangreichen Bibliographie nicht einmal zwei Seiten aus. Unter ihnen findet sich keine einzige Darstellung zur osmanischen Periode, und auch Detlef Brandes grundlegende Untersuchung von 1993 zur zarischen Ansiedlungspolitik deutscher Kolonisten und Balkansiedler im Zeitraum 1751-1914 in der Region fehlt. Daß die Autoren des Bandes zusätzlich zur Geschichtspolitik Tiraspoler Prägung noch dem leninistischen Wissenschaftsideal verpflichtet sind, geht etwa aus Kapitelbezeichnungen wie „Transnistrien im System des allrussischen Marktes“ oder aus der stereotyp wiederholten Wendung „Damals schrieb Lenin: ...“ hervor.

Wie der zweite Band aussehen wird, läßt das Buch „Phänomen Transnistrien“ erahnen, das von einem kurzen Abschnitt über die Zeit vor 1917 abgesehen ganz dem 20. Jahrhundert gewidmet ist: Bürgerkrieg, MASSR, MSSR, Zweiter Weltkrieg, erneut MSSR, Gründung der PMR sowie Konflikt und anschließender Verhandlungsprozeß zwischen Tiraspol und Chişinău sind hier die Periodisierungsmarken und Schwerpunkte. Interessant zu sehen wird sein, ob die hier vorgebrachte Kritik am im Zeichen des Hitler-Stalin-Pakts gefaßten Entschluß Moskaus zur Auflösung der MASSR und zur Eingliederung ihrer Rayons in die neue MSSR aufrecht erhalten wird, ja ob nicht gar die MASSR als „Träger transnistrischer Staatlichkeit“ gänzlich gestrichen wird. Denn diese Gebietskörperschaft, die nach byzantinischem Vorbild nach einer erst noch zu erobernden Region benannt war, war aufgrund der Zugehörigkeit Bessarabiens zu Rumänien im Zeitraum 1918-1940 auf dem sowjetischen Dnestr-Ostufer gleichsam nur „geparkt“, war also nicht Resultat einer dezidierten Transnistrien-Politik Moskaus, sondern im Gegenteil Vehikel des Stalinschen nation-building-Projekts einer Umpolung der rumänischen Bevölkerungsmehrheit Bessarabiens zu einer neuen moldauischen Nation. Auf dem Hintergrund eines in der PMR zaghaft einsetzenden Diskurses über Sinn und Zweck der Bewahrung des kulturellen Erbe der Sowjetunion gleichfalls interessant wird zu sehen sein, ob die im „Phänomen Transnistrien“ enthaltene positive Bewertung des mit den Schlagworten Kulturrevolution, Kollektivierung und Industrialisierung belegten Spätstalinismus 1944-1953 aufrecht erhalten wird. Und schließlich darf man gespannt sein, ob der sowohl im Band 1 der Gesamtgeschichte wie in der derzeitigen Religionspolitik Tiraspols erkennbare Versuch einer Annäherung an die orthodoxe Kirche, welcher im „Phänomen Transnistriens“ keinen Niederschlag findet, auch mit Blick auf die diesbezüglich heikle Sowjetepoche fortgesetzt wird. Die intensiven Bemühungen „Präsident“ Smirnovs, das in einer transnistrisch kontrollierten Dnestrschleife gelegene Neu-Neamţer Kloster im Dorf Kickany (moldauisch Chiţcani) zum administrativen wie geistigen Zentrum einer neuen PMR-Staatskirche umzuwandeln, deuten darauf hin.

Die Frage nach den Ergebnissen der aufwendigen Geschichtspolitik des Regimes in Tiraspol ist naturgemäß schwer zu beantworten. Im Rahmen einer 1998 unter US-amerikanischer Mitwirkung in der PMR durchgeführten demoskopischen Erhebung über „Nationale Prozesse, Sprachbeziehungen und Identität“ sprachen sich 83 Prozent der Befragten für den Erhalt der Eigenstaatlichkeit der Minirepublik aus, und immerhin 44 Prozent waren der Ansicht, es gäbe ein „transnistrisches Volk“. Demnäch wären die Aktivitäten des „Wissenschaftliches Forschungslabor der Geschichte Transnistriens“ nicht ganz folgenlos geblieben. Allerdings dürfte ebenso großen Anteil an der Unterstützung der Sezessionspolitik die noch immer anhaltende Schockwirkung der heißen Phase des Transnistrien-Konflikts 1990-1992 haben, hier vor allem die nicht zuletzt aufgrund staatlicher Bemühungen allgegenwärtige Erinnerung an die blutigen Ereignisse in Bendery. Im Geschichts- und Heimatmuseum der Stadt findet sich eine Wandinschrift, welche das von Denkschemata wie „moldauische Nationalfaschisten“ und „Chişinăuer Aggressoren“ geprägte Weltbild der auf Besitzstandswahrung bedachten Eliten der Region auf den Punkt bringt: „Wir sind Transnistrier! Unserer Geschichte, unseres Namens, unserer Muttersprache und Nationalkultur kann man uns nicht berauben. Die PMR ist dafür die Garantie.“

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