Titel
Visitando la isla. Temas de historia de Cuba


Herausgeber
Opatrný, Josef; Naranjo Orovio, Consuelo
Reihe
Cuadernos de historia latinoamericana 9
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Vervuert/Iberoamericana
Anzahl Seiten
190 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karsten Voss, Hamburg

Trotz des etwas vagen Titels ist der Themenschwerpunkt des vorliegenden Bandes klar profiliert. Die Einleitung und die sechs folgenden Artikel kreisen im Wesentlichen um das zweite zentrale Ereignis der modernen kubanischen Nationalgeschichte neben der Revolution von 1959: den sogenannten spanisch-amerikanischen Krieg von 1898. Dieser Krieg, bei dem Spanien seine Besitzungen in Puerto Rico, Kuba und den Philippinen verlor, war nicht nur, und noch nicht einmal in erster Linie, ein internationaler Konflikt. Aus kubanischer Perspektive stellt er vor allem das vorläufige Ende der dreißigjährigen gewalttätigen Auseinandersetzungen um die kubanische Unabhängigkeit dar. Dem Frieden von Paris folgte freilich erst einmal eine vier Jahre währende, neuerliche Besetzung Kubas, dieses Mal durch US-Truppen. Erst danach entstand schließlich die, allerdings nur eingeschränkt, souveräne Republik Kuba. Der kubanischen Verfassung von 1901 war das Platt-Amendment angehängt, das den USA ein militärisches Interventionsrecht im Falle einer Verletzung der Verfassung einräumte. Der politische und ökonomische Einfluss der USA in der Nachkriegszeit bewirkte, dass keines der beiden großen Lager, die die Unabhängigkeitsbewegung stark geprägt hatten, seine Ziele verwirklichen konnte. Die Forderung der zahlreichen Kleinbauern nach einer Agrarreform wurde ebenso wenig verwirklicht, wie der Anspruch der kubanischen Pflanzer auf eine direkte politische Vertretung. Beide Gruppen gingen ökonomisch und politisch ruiniert aus den Kriegen hervor, während US-amerikanische Investoren und kubanische Kaufleute (paradoxerweise gerade solche mit guten Verbindungen in das ehemalige Mutterland Spanien) in den Nachkriegsjahrzehnten die politische und wirtschaftliche Szene des Landes beherrschten.

Der erste Beitrag von Inés Roldán de Montaud behandelt die Geschichte der politischen Parteien, die während der Unabhängigkeitskriege auf einen Ausgleich mit Spanien setzten. Gerade in der jüngeren Historiographie wurde die Auseinandersetzung mit der Geschichte der politischen Eliten Kubas intensiviert. Aus dem Blickwinkel einer Elitengeschichte à la française erfahren die beiden wichtigsten nichtrevolutionären Parteien der kubanischen Unabhängigkeitskriege eine gewisse Rehabilitierung. Der Partido Autonomista strebte einen sukzessiven Ablösungsprozess von Spanien an. Ihm stand die spanientreue Unión Constitutional gegenüber. Beide wurden von der klassischen marxistischen Historiographie als konterrevolutionäre Gruppierungen abklassifiziert und waren daher in der Vergangenheit nur selten Gegenstand eigener Untersuchungen. Die Elitengeschichtsschreibung des letzten Jahrzehnts – wie Roldán de Montaud sie beschreibt – bringt nun erhebliche Revisionen an dieser älteren Sichtweise an: Sie kann zeigen, dass die genannten Gruppierungen durchaus genuin kubanische Interessen verfolgten und sich aktiv, und zuweilen sogar erfolgreich, für sie einsetzten. Die Sozialgeschichte dieser Parteien belegt zudem, dass sie sich nicht nur aus politischen und kommerziellen Agenten des Mutterlandes zusammensetzten, sondern die Interessen weit größerer und heterogener sozialer Gruppen, vor allem des städtischen Kuba vertraten. Auch die Programmatik dieser Parteien kann nicht pauschal als rückständig klassifiziert werden, da zumindest der Partido Autonomista auf eine Abschaffung der Sklaverei hinarbeitete und in Anbetracht der Verwüstungen der ersten Phase der Unabhängigkeitskriege (1868-78) starke pazifistische Züge trug.

In dem folgenden Aufsatz von José Piqueras Arenas wird eine Reihe einschlägiger, seit langer Zeit unwidersprochen hingenommener Thesen zu den Ursachen der kubanischen Rebellion gegen die Metropole einer Überprüfung unterzogen. Laut Arenas wurde bis in die letzten Jahrzehnte von vielen Historikern der wirtschaftspolitische Diskurs der kubanischen Eliten des 19. Jahrhunderts zu wörtlich genommen und ungerechtfertigter Weise mit der wirtschaftlichen Realität der Epoche verwechselt. Diese Tatsache habe zu der breiten Akzeptanz von sachlich falschen Allgemeinplätzen geführt. Durch die kritiklose Übernahme des Elitendiskurses sei der Eindruck entstanden, die Krise der kubanischen Wirtschaft und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei vor allen Dingen einer zunehmend reaktionären spanischen Fiskal- und Zollpolitik geschuldet. Das Mutterland habe anstatt entwicklungspolitische Maßnahmen einzuleiten und ein modernes integrierendes Finanzierungssystem zu schaffen, allein vom Einfallsreichtum und der Anpassungsfähigkeit der kubanischen Eliten profitiert. Der u. a. durch die Kolonialpolitik verursachte Mangel an Kapital und das Fehlen moderner Kreditmechanismen habe Kuba den Anschluss an die technologischen Entwicklungen in der Zuckerindustrie verpassen lassen. Piqueras Arenas weist nun einerseits einen erheblichen Kapitalfluss von Spanien nach Kuba nach. Andererseits kann er zeigen, dass ein guter Teil des Mangels an Investitionskapital in Kuba hausgemacht war. Kapitalexport und eine Diversifizierung der ökonomischen Aktivitäten trugen jedenfalls wesentlich zum Kapitalmangel im Bereich der Plantagen- und Raffineriewirtschaft bei.

Mit der Diversifizierung der kubanischen Ökonomie am Rande der dominierenden, exportorientierten Zuckerwirtschaft beschäftigt sich der Aufsatz von Antonio Santamaría García. Er beklagt zunächst die überzogene Fixierung der kubanischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts auf die Entwicklung des Zuckersektors. Ökonomische Aktivitäten, wie die Agrarproduktion für den Binnenmarkt, die Viehzucht, der Bergbau und das Manufakturwesen, seien von der bisherigen Geschichtsschreibung nahezu vollständig vernachlässigt worden. Selbst bedeutende Landwirtschaftssektoren, wie der Anbau und die Weiterverarbeitung von Tabak, Kaffee und Bananen, seien in den letzten fünfzig Jahren in insgesamt nur vier Monografien behandelt worden. Vor dem Hintergrund dieses großen Forschungsdefizits, verfolgt Garcia das bescheidene Ziel, anhand verstreut gefundener Informationen auf die grundsätzliche, und bisher offensichtlich unterschätzte, Relevanz dieser anderen Wirtschaftszweige hinzuweisen. Einer der Gründe für diese Situation scheint darin zu liegen, dass die Trennlinie zwischen dem seit 1868 sozialrevolutionären Kuba einerseits und dem reformistischen oder konservativen Kuba andererseits exakt an dieser Grenze zwischen Plantagenwirtschaft und anderen Wirtschaftszweigen verlief. Ob G. hier allerdings eher einer Chimäre nachjagt, bleibt angesichts des von ihm selbst aufgedeckten Mangels in der Grundlagenforschung in den genannten Bereichen, auch nach der Lektüre seines Aufsatzes, eine offene Frage. Schließlich haben in der Vergangenheit die Arbeiten von Allen J. Kuethe und Manuel Moreno Fraginals auf überzeugender Quellenbasis gezeigt, dass Kuba sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts von einer hochdifferenzierten zu einer hochspezialisierten Ökonomie wandelte. 1

Während die ersten drei Aufsätze die Historiographie der klassischen Ansätze der Wirtschafts- und Sozialgeschichte widerspiegeln und ein Bild der kubanischen Probleme aus der Perspektive der Eliten zeichnen, befassen sich die drei folgenden Essays mit der Sozialgeschichte der Trägerschicht der Unabhängigkeitsbewegung.

Manuel de Paz-Sánchez referiert die Ergebnisse der Forschungen zum Banditenwesen in Kuba. Paz-Sánchez geht dabei zwar vom Ansatz der Pionierarbeiten Eric J. Hobsbawms auf diesem Feld aus, kommt aber für den kubanischen Fall zum Teil zu abweichenden Ergebnissen. Die vorliegenden Studien zur Geschichte des Bandolerismo in Kuba würden zeigen, dass dieser nicht zwangsläufig ein Vorläufer sozialrevolutionärer Bewegungen sein müsse. Die neueren Studien zu diesem Phänomen wiesen vielmehr darauf hin, dass das Banditenwesen ein sozialer Ausdruck der wirtschaftlichen Misere der ländlichen Bevölkerung war. Die Flucht ins Banditentum stelle also nur eine von mehreren möglichen Varianten potenzieller Reaktionen auf die zunehmende soziale Desintegration in den ländlichen Regionen Kubas im 19. Jahrhundert dar. Eine andere Antwort auf die wachsende Marginalisierung der Kleinbauern angesichts der expandierenden Plantagenwirtschaft ließe sich in den – teilweise individuell, teilweise kollektiv verübten – Sabotageakten (wie z. B. Brandstiftungen) gegen den Plantagenkomplex und in Arbeitsverweigerungen beobachten. Schließlich dürfe die dritte Möglichkeit nicht aus den Augen verloren werden, nämlich der Beitritt zu der nationalistischen und sozialrevolutionären Befreiungsbewegung. Vorwiegend anhand seiner eigenen Studien zur Sozialgeschichte der kanarischen Immigranten im Kuba des 19. Jahrhunderts legt Paz-Sánchez überzeugend dar, dass die Verdrängung der Kleinbauern aus den westlichen Territorien nicht nur das Banditentum und politisch-soziale Bewegungen begünstigten, sondern beide Tendenzen – bei aller analytischen und realhistorischen Trennung – zugleich in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander standen.

Während Paz-Sánchez erklärt, warum sich die Misere der Kleinbauern in krimineller und revolutionärer Energie entlud, erhebt im nächsten Abschnitt Luis Martínez Fernández den Kleinbauern des kubanischen Hinterlandes zum, zumindest potenziellen, Begründer eines egalitären und demokratischen Kuba. Er argumentiert dabei mit dem Konzept der Frontier-Gesellschaften, demnach sich in den leeren Räumen der USA, Mexikos und Chiles neue und freie Gesellschaften herausgebildet hätten. Hier scheinen Zweifel angebracht, ob sich dieses Konzept, das schon in seinem Herkunftsland inzwischen eher problematisch geworden ist, tatsächlich sinnvoll auf die karibischen Binnenterritorien mit ihrer beispielsweise mehr als hundertjährigen Geschichte als militärische Rekrutierungsreservoirs sinnvoll übertragen lässt.

Michael Zeuske legt im abschließenden Aufsatz des Bandes die Methoden und Ergebnisse einer vergleichenden Mikrohistorie dar. Im Rahmen eines Projektes zur vergleichenden Geschichte der Integration ehemaliger Sklaven in die postemanzipatorischen Gesellschaften Kubas, Brasiliens und Venezuelas hat Zeuske eine Mikrogeschichte der kubanischen Zuckerregion Cienfuegos betrieben. Hierin wird eine prosopographische Studie über afrokubanische Kombattanten im Krieg von 1895-98 vorgenommen. Diese Studie wirft neues Licht auf die Menschen afrikanischer Abstammung, die den Großteil der Soldaten in der kubanischen Befreiungsarmee stellten. Die bisherigen Studien zu den farbigen Kombattanten der kubanischen Befreiungsarmee stützen sich entweder auf die Auswertung deskriptiver Quellen oder auf die Selbstdarstellungen von Teilnehmern des Befreiungskampfes. Zeuske und sein Team gehen nun einen Schritt weiter und versuchen die Ergebnisse der seit den 1960er Jahre in Kuba stark ausgeprägten oral history mit den auf der Grundlage der Dokumente der Lokal- und Provinzialarchive gewonnenen Befunden in Beziehung zu setzen. Anhand einer Liste gefallener Veteranen des Krieges von 1898 und ihrer Verknüpfung mit Archivdokumenten und mündlichen Überlieferungen können so die soziale Herkunft, das Alter und in Ansätzen sogar die ganz alltäglichen Beweggründe für die Partizipation der zahlreichen jungen Farbigen an dem Krieg für die kubanische Unabhängigkeit ermittelt werden. Es lohnt der Mühe, den nicht immer ganz einfachen Text zu lesen, um zu begreifen, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts so mancher junge Farbige aus der Generation der soeben aus der Sklaverei entlassenen zur Waffe und zu mancher List griff, um sich das Recht zu erkämpfen, einen vollwertigen Namen zu tragen.

Die Aufsätze in „Visitando la Isla“ kreisen um den Charakter der kubanischen Unabhängigkeitsbewegung. Dabei liegen den z. T. geradezu kontrapunktischen Beiträgen verschiedene Interpretationsansätze zugrunde. Während die ersten beiden Aufsätze aus der Perspektive der Elitengeschichte dazu verführen mögen, den gewaltsamen Konflikt um die kubanische Unabhängigkeit als ein „Abgleiten“ zu verstehen, weisen die Studien zur Sozialgeschichte der ländlichen Kriminalität und der Beteiligung der ehemals versklavten Bevölkerung an der bewaffneten Bewegung auf die sozialrevolutionären Komponenten der Unabhängigkeitsbewegung hin. Der Band dürfte somit auch für Historiker sozialer und nationaler Revolutionen in anderen Weltregionen von Interesse sein und spiegelt insgesamt sehr überzeugend die anregenden Potenziale der jüngeren revisionistischen Kuba-Historiographie wieder.

Anmerkung:
1 Vgl. Manuel Moreno Fraginals: Cuba /España España/Cuba, Historia común, Barcelona 1995; Alan J. Kuethe: Havana in the 18th century, in: Franklin W. Knight; Peggy K. Liss (Hgg.): Atlantic Port Cities, Economy, Culture and Society in the Atlantic World, 1650-1800, Knoxville 1991, S.13-39.

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