Bis weit in die 1960er-Jahre hinein stand im Zentrum der internationalen historischen Forschung zum Ersten Weltkrieg die Frage nach seinen Ursachen und den Verantwortlichen für die ‚Urkatastrophe’ des 20. Jahrhunderts. In Deutschland zumal verwies die als vordringlich empfundene Widerlegung der Versailler ‚Kriegsschuldlüge’ alle anderen Themen auf die hinteren Plätze. Erst nach der Kontroverse um Fritz Fischers 1961 erschienenes Buch ‚Griff nach der Weltmacht’, das Deutschland die Hauptschuld am Kriegsausbruch zuwies, rückten wirtschafts- und sozialhistorische Probleme in den Vordergrund; seit Mitte der 1980er-Jahre haben mentalitäts- und alltagshistorische sowie lokal- und regionalgeschichtliche Arbeiten den Horizont möglicher Fragen erweitert. Was eine moderne Weltkriegs-Forschung zu leisten vermag, zeigen die hier zu rezensierenden Gesamtdarstellungen, Sammelbände und Spezialstudien. Ihr Umfang reicht von knapp mehr als 100 Seiten bis auf gut das Zehnfache dieser Zahl.
Small is beautiful. Volker R. Berghahn analysiert den Ersten Weltkrieg auf nur 115 Seiten
Der an der Columbia University, New York, lehrende Verfasser (Jahrgang 1938) hat eine kenntnisreiche und kluge Darstellung der Geschichte des Ersten Weltkriegs geschrieben. Ungewöhnlich ist der Aufbau seines Büchleins: Es beginnt mit einer Aufstellung der menschlichen und materiellen Kosten des Ersten Weltkriegs, mit den Millionen von Toten und Verletzten, und mit den 175 Mrd. Dollar, die von den beteiligten Großmächten aufgewendet wurden. Zu den Kosten im weiteren Sinn gehören auch die kollektive Verarbeitung des Massensterbens und die psychischen Folgen wie etwa die ‚Shell Shock’ genannte Kriegsneurose.
Erst nach diesen einleitenden Bemerkungen und nach einem kurzen Abriss der Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg wendet sich Berghahn den tieferen Ursachen für dessen Ausbruch zu. Er sieht sie im Bündnissystem der europäischen Großmächte und in seiner langsamen Verfestigung in zwei feindliche Blöcke, im Wettrüsten (vor allem zur See) und in der imperialistischen Expansion der Europäer. Auch innenpolitische Kräfte und Konflikte werden in Rechnung gestellt, wie etwa die ungelösten Minderheitenprobleme in multinationalen Reichen. Klar benannt werden die Verantwortlichen für die Entscheidung zum Krieg: weder anonyme Kräfte noch die Bevölkerungsmassen noch bestimmte Elitegruppen, sondern ein kleiner Personenkreis, und zwar weniger in London, Paris und St. Petersburg als vielmehr in Berlin und Wien. Dort zeigten die Entscheidungsträger eine hohe Risikobereitschaft; Missmanagement und Fehlkalkulationen verschärften die Julikrise von 1914 bis zur ‚Flucht nach vorn’ in den Konflikt mit den anderen Großmächten.
Berghahn analysiert den Krieg zunächst ‚von oben’. Den Generälen auf beiden Seiten kann er nicht viel Gutes nachrühmen: eiskaltes Kalkül, Starrsinn, Erbarmungslosigkeit, übergroßes Selbstvertrauen, Fehlkalkulationen, unglaubliche Inkompetenz und schlicht Versagen - so lautet sein harsches Urteil. Aber auch andere Elitegruppen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft schneiden nicht besser ab: Alle wurden vom ‚Geist der Härte’ erfasst, stellten ihr Fachwissen und ihre Arbeitskraft zur Verfügung, um den Sieg zu ermöglichen. Der Krieg führte in allen Ländern zu einer immer stärkeren Zentralisierung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft; die politische und militärische Führung wirkte von oben auf die innenpolitischen Entwicklungen ein. Während England und Frankreich eher zu Reformen und Verfassungsänderungen bereit waren, konnten sich in Deutschland die reformwilligen Kräfte in Regierung und Wirtschaft nicht durchsetzen.
Bei seiner Analyse des Krieges ‚von unten’ zeigt Berghahn, dass die Begeisterung der Bevölkerung in Deutschland, Frankreich und England selbst für einen kurzen Verteidigungskrieg wohl doch nicht so groß war, wie sie über Jahrzehnte hinweg in den Geschichtsbüchern geschildert worden ist. Aber warum kämpften dann die Soldaten in einem Krieg, der seit 1915 immer totaler und brutaler wurde? Motive waren kameradschaftlicher Zusammenhalt, Pflicht- und Ehrgefühl, Vaterlandsliebe und nicht zuletzt das militärische Disziplinarrecht. Je länger allerdings der Krieg dauerte, desto lauter wurde die Frage nach dem Sinn des großen Sterbens gestellt; Meutereien und Streiks zeigten die wachsende Neigung, die Bestimmung des Kriegsendes nicht mehr allein den politischen und militärischen Führern zu überlassen.
‚Totale’ Züge gewann der Krieg nicht nur an der Front, sondern auch in der Heimat. Dort war eines der wichtigsten Probleme die Lebensmittelversorgung, die in England und Frankreich besser als in Deutschland funktionierte, wo es den Behörden nicht gelang, die Verteilungskonflikte zu lösen; ähnlich war die Lage in Österreich-Ungarn, und noch schlimmer in Russland. Dort führte der Protest der Bauern-Soldaten an der Front und der Industriearbeiter in den großen Städten zum Zusammenbruch des Zarismus, und die russische Revolution nahm sowohl die militärische Niederlage als auch den Umsturz der alten politischen Ordnung voraus. Die Kosten des Ersten Weltkrieges machen es verständlich, warum Berghahn in seinem Fazit das Wort ‚Sieger’ in Anführungszeichen setzt: Für alle Beteiligten war er eine Katastrophe, in der es letztlich keine Sieger gab.
Sind irgendwelche Einwände gegen dieses Buch zu erheben, dessen Klappentext verspricht, es sei „eine vorzügliche Einführung auf dem neuesten Forschungsstand“? Berghahn bietet auf 3 ½ Seiten eine kommentierte Auswahlbibliografie. Auf zwei Bücher, die er in seine Auswahl nicht aufgenommen hat, sei hier hingewiesen. Holger Afflerbach hat in seiner Studie über den Dreibund den Ausbruch des Ersten Weltkriegs als das Resultat schwerer diplomatischer Fehler und Fehleinschätzungen bezeichnet, als ein mögliches, nicht aber als ein zwangsläufiges und sogar ein eher unwahrscheinliches Resultat der damaligen politischen Ordnung; eine unnötige, ja anachronistische Katastrophe beendete gewaltsam die friedliche Entwicklung Europas. Friedrich Kießling hat die Entspannung in den internationalen Beziehungen der Vorkriegszeit untersucht und gezeigt, wie bis unmittelbar vor Kriegsbeginn entsprechende Bemühungen mit konfrontativen und konfliktverschärfenden außen- und sicherheitspolitischen Maßnahmen einhergingen.
Die internationale Politik seit 1890 erscheint also nicht mehr als eine Einbahnstraße, die unweigerlich zum Ersten Weltkrieg führte. Berghahn selbst hat in seinem 2002 erschienenen Buch ‚Europa im Zeitalter der Weltkriege’ die Alternativen zu den Gewaltorgien zwischen 1914 und 1945 klar aufgezeigt. Seine kleine Geschichte des Ersten Weltkriegs ist daher ohne Einschränkungen zu empfehlen, nicht nur Lesern mit knappem Zeitbudget, sondern auch Studierenden zur Prüfungsvorbereitung. Dieses Urteil gilt auch für das folgende Buch, das in einer Reihe erscheint, die eine auf das Wesentliche konzentrierte Darstellung zum Grundsatz erhoben hat.
Rundumsanierung: Wolfgang J. Mommsen hilft dabei, den ‚Gebhardt’ zu erneuern
Im ‚Gebhardt’, dem bedeutendsten Handbuch der deutschen Geschichte, fasst jede Historikergeneration den Stand der deutschen Geschichtsschreibung zusammen. Die Darstellung von Epochen oder Teilepochen wird ergänzt durch detaillierte Angaben zu Hilfsmitteln, Quellen und weiter führender Literatur sowie durch Zeittafel, Orts-, Sach- und Personenregister. Der in 10. Auflage seit 2001 erscheinende ‚Gebhardt’ folgt einer ganz neuen Konzeption: Nicht mehr Politikgeschichte stellt er in den Mittelpunkt, sondern Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Statt einer bloßen Chronik deutscher Geschichte bietet er Analyse, stellt Fragen, macht weiterführende Interpretationsangebote, weist auf Lücken im Forschungsstand, auf Kontroversen und offene Probleme hin und präsentiert schließlich deutsche Geschichte in ihrer regionalen Vielfalt und in ihren europäischen Zusammenhängen.
Der Vergleich mit früheren Auflagen macht die Neuerungen sofort deutlich. In sechs Kapiteln informiert Wolfgang J. Mommsen (Jahrgang 1930) über den Stand der Forschung und ihre Kontroversen, die Julikrise und den Kriegsausbruch, die politischen und militärischen Ereignisse 1914 bis 1918, die deutsche Gesellschaft sowie die Peripetie des Krieges; in einem Ausblick fragt er nach den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf Politik, Gesellschaft und Kultur. Er berücksichtigt zahlreiche Regionalstudien und Arbeiten zum Kriegsalltag.
Deutlich zurückhaltender als früher formuliert Mommsen die Sozialimperialismus-These, der zufolge die deutschen Eliten einen Krieg anzettelten, um überfällige politische und gesellschaftliche Reformen abzuwehren, die von der Arbeiterbewegung und vom Bürgertum gefordert wurden, wie etwa die Abschaffung des preußischen Drei-Klassen-Wahlrechts. Die deutsche Bevölkerung einschließlich der großen Mehrheit der Arbeiterschaft habe der Regierung geglaubt, die den Krieg als einen lange vorbereiteten Überfall der Alliierten darstellte; eine innerlich bereits überlebte Führungsschicht habe in einem „doppelbödigen machiavellistischen Kalkül“ Vabanque gespielt. „In gewissem Sinne“, heißt es jetzt einschränkend, habe die Führung im Juli 1914 ihre Zuflucht im Kriege gesucht.
Wie sehen die neuen Schwerpunkte Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur aus? Mommsen beschreibt die Kriegswirtschaft als eine innerhalb bestimmter Grenzen durchaus effektive Kombination von freier, marktorientierter und gewinnbewusster kapitalistischer Wirtschaft mit staatlich-bürokratischer Lenkung. Den damals aufkommenden und zunächst durchaus positiv gemeinten Begriff ‚Kriegssozialismus’ lehnt er allerdings als unzutreffend ab, denn der Anteil zentraler Planung am Produktionsprozess sei denkbar gering gewesen. Die Kriegswirtschaft entwickelte sich zu einem System eines kaum gebremsten Lobbyismus; der Kriegsausschuss der Industrie gewann mehr Einfluss auf die wirtschaftlichen Entscheidungen als alle staatlichen Planungen. Finanziert wurde der Krieg nicht durch höhere Steuern, sondern durch Kredite und Kriegsanleihen, in der Hoffnung, nach einem Sieg die unterlegenen Gegner bezahlen zu lassen. Die seit Mitte 1916 eingeführten Kriegssteuern machten nur 14 Prozent aller Kriegskosten aus. Diese Art der Finanzierung führte zu einer mühsam verschleierten Geld- und Kreditinflation, deren wahre Ausmaße sich erst 1920/21 zeigen sollten.
Der Kriegskapitalismus brachte sowohl Gewinner als auch Verlierer hervor; während die Unternehmer ihre ökonomische Lage erheblich verbessern konnten, verarmte der Mittelstand – die Angestellten und Beamten, die kleinen Händler und Gewerbetreibenden sowie die von Renten und Hausbesitz lebenden Bürger. Ihnen stand auch keine Interessenvertretung zur Verfügung wie der industriellen Arbeiterschaft mit ihren Gewerkschaften. Die Industriearbeiter nahmen zwar am allgemeinen Verarmungsprozess teil und mussten große Entbehrungen auf sich nehmen, konnten aber ihren sozialen Status im Vergleich zu anderen Gruppen deutlich verbessern. Erbitterte Richtungskämpfe innerhalb der Arbeiterbewegung über die Kriegszielpolitik der Sozialdemokratie schwächten ihr politisches Gewicht; spätestens seit 1920 war sie tief gespalten und für lange Zeit neutralisiert.
Die kulturellen Eliten und die Kirchen begrüßten den Krieg fast einhellig; sie verbreiteten die Ideologie des ‚Durchhaltens’ und versuchten, die Kriegsmoral aufrecht zu erhalten. Mit den blutigen Schlachten vor Verdun und an der Somme 1916 kam es zu einer Polarisierung der kulturellen Eliten in einander scharf bekämpfende Lager. Auf der einen Seite wurden Rufe nach politischen Reformen und nach Völkerverständigung laut, auf der anderen Seite lösten sich liberale Positionen zugunsten eines völkischen Mysterienkultes auf. Die Zerklüftung der künstlerischen und intellektuellen Kultur kündigte sich an, die in der Weimarer Republik offen ausbrechen und zur Zerstörung der ersten deutschen Demokratie wesentlich beitragen sollte.
In allen drei Bereichen hatte der Erste Weltkrieg langfristige Folgen. Er brachte einen neuen, aggressiven völkischen Nationalismus und einen radikalen Antisemitismus hervor, ebenso tief greifende Veränderungen der deutschen und europäischen Kultur. Die globale Vorherrschaft Europas war unwiderruflich dahin; der Prozess der Dekolonisation und der Emanzipation der Dritten Welt kündigte sich an, und im Nahen Osten sowie auf dem Balkan entstanden neue Konfliktfelder, die bis heute die internationalen Beziehungen bestimmen.
Wolfgang J. Mommsen schreibt ebenso wie Volker R. Berghahn als Vertreter einer ‚erweiterten’ Sozialgeschichte, die ihre Begriffe, ihr analytisches Instrumentarium und ihr theoriegeleitetes Erkenntnisinteresse Max Weber verdanken. Von ihrem methodischen Ansatz ist der Autor des nun zu besprechenden Buches meilenweit entfernt.
Vorbild Ranke: Michael Salewski zeigt, wie der Erste Weltkrieg eigentlich gewesen ist
Man müsse sich der Vergangenheit respektvoll, aufgeschlossen, vorurteilsfrei, aber kritisch nähern, versichert der Kieler Ordinarius (Jahrgang 1938); nicht stolze, rechthaberische Besserwisserei sei gefragt, sondern das „bescheidene Hineindenken“ in den Geist der vergangenen Zeiten, die „Anschauung der vergangenen Wesenheiten“. Das klingt nach Ranke, räumt Salewski ein und fügt in entwaffnender Offenheit das Geständnis hinzu, er wisse nicht, wie man über ihn hinwegkommen solle. Sein Buch über den Ersten Weltkrieg orientiert sich an der klassischen Aufforderung, die Historiker sollten zeigen, wie es eigentlich gewesen ist.
So viel ist sicher: Theorien sind Salewskis Sache nicht. Große historische Theorien schadeten dem Erkenntnisprozess eher, als dass sie ihm nutzten, schreibt er auf S. 56, denn man dürfe die Geschichte des Bismarckreiches und die der letzten Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur vom Ergebnis her beurteilen; auch die Frage nach den Kriegsursachen lasse sich nicht „theoretisch“ beantworten.
Einer Theorie allerdings kann Salewski durchaus etwas abgewinnen: der Spieltheorie. Wer darüber genauere Auskunft wünscht, wird mit in einer Anmerkung auf zwei Bücher zu diesem Thema und mit der Bemerkung abgespeist, man könne die deutsche Außenpolitik als irrationales Spiel begreifen. Bismarck etwa habe Außenpolitik als Spiel betrieben, und Wilhelm II. sei ebenso eine Spielernatur gewesen wie die Paladine in seinem Dunstkreis. Im Juli und August 1914 habe man sich im Auswärtigen Amt und in der Wiener Hofburg wie bei einem Pokerspiel oder wie beim russischen Roulette verhalten; man sei unfähig zu dem Eingeständnis gewesen, dass man eine Weltmachtrolle im 20. Jahrhundert nicht spielen könne oder wolle. Also doch ein Vabanque-Spiel (wie bei Mommsen), nur eben nicht innenpolitisch motiviert. Aber was hat das alles mit Spieltheorie zu tun?
Wie auch immer - die Auseinandersetzung mit Fritz Fischer und seinen Schülern zieht sich durch das ganze Buch. Die Sozialimperialismus-These? Nichts weiter als ein „Schreibtischphänomen von Historikern“. Im Sinne des Zähmungskonzepts hätten Flottenbau und Kolonialismus kontraproduktiv gewirkt, da sie nicht nur Unsummen von Steuergeldern verschlangen, sondern auch das Geld für soziale Zwecke fehlen ließen. Etwa 1.500 Streiks pro Jahr von 1890 bis 1914 sprächen gegen die These von der Disziplinierung der Arbeiterschaft. Nur ein Krieg habe das Regime retten können? Wer die tradierte Sozialstruktur konservieren wollte, brauchte alles andere als einen Krieg, und überhaupt sei es im Deutschen Reich vor dem Ersten Weltkrieg „normaleuropäisch“, im Vergleich zu anderen Staaten sogar friedfertiger und aggressionsloser zugegangen. Zum Beweis kontrastiert Salewski das angeblich militarisierte Deutschland vor 1914 mit dem „Kriegsreich“ Hitlers und mit der alten Bundesrepublik, die beide weitaus höher gerüstet gewesen seien als das Kaiserreich.
Auch in seiner Erklärung der ‚inneren’ Kriegsursachen setzt er sich bewusst von einer als „klassisch marxistisch“ bezeichneten Deutung ab. Nicht die Industriebarone und Hochofenbesitzer führten den Krieg herbei, im Gegenteil: Sie wollten im Zeichen der Globalisierung vor 1914 ihre Geschäfte machen, und in der volkswirtschaftlichen Lehre wurde die Ansicht vertreten, ein großer Krieg sei wegen des damit verbundenen Zusammenbruchs der komplexen wirtschaftlichen Strukturen so gut wie ausgeschlossen. Wer konnte so dumm sein, den Krieg zu wünschen, wenn doch allen klar sein musste, dass man damit mehr verlieren als gewinnen würde? Schließlich war der Krieg ja „so unnötig wie ein Kropf“, wie der Autor nüchtern bilanziert; er führte nicht zur Modernisierung, sondern zu einem „historischen Rücksturz“ Europas.
Besonders unfreundliche Worte über die Sozialhistoriker fallen immer dann, wenn Salewski sein ureigenstes Gebiet verteidigt. Verständlicherweise spielt der Militärhistoriker seine Kompetenz aus, wenn er etwa den „zivilen“ Historikern die Kenntnis entsprechender Fachbegriffe abverlangt: Wenigstens in groben Zügen müsse man wissen, dass eine Division auf einem Schiff etwas ganz anderes ist als eine Division an Land. Eine jüngere Historikergeneration, so die geradezu erleichterte Feststellung, bemühe sich ernsthafter als die der 1960er und 1970er-Jahre darum, der militärischen Wirklichkeit von damals gerechter zu werden.
Die Analyse von Symbolen und Metaphern nimmt in Salewskis Buch einen bedeutenden Platz ein. Das Schlagwort vom ‚Burgfrieden’ etwa stellt er in größere Zusammenhänge: 1914 wurde das gesamte deutsche Kaiserreich zur Burg erklärt – das passte zur Einkreisungsthese und zur Behauptung, man wolle nicht erobern, denn Burgen sind defensive militärische Bauten. Daher war die Burg-Metapher hervorragend für die deutsche Friedenspropaganda geeignet; gleichzeitig suggerierte sie die schicksalhafte Notwendigkeit des Zusammenstehens aller. Im Zweiten Weltkrieg nahm Hitler diesen Gedanken der eingekreisten Burg wieder auf, in der abgewandelten Form der ‚Festung Europa’. Ähnliche mythische Qualitäten besaß das Wort ‚Skagerrak’. Die Seeschlacht am 31. Mai 1916 bewirkte strategisch und operativ nichts, psychologisch dagegen umso mehr: Wilhelm II. glaubte gar, der Nimbus der englischen Weltherrschaft sei geschwunden.
Salewskis besonderes Interesse gilt der hypothetischen Geschichtsschreibung; in der jungen Disziplin der Parallel- und Alternativgeschichte sieht er sogar einen guten Zugang zum Verständnis vieler Probleme. Warum etwa ist die zeitgenössische akademische Kritik am Schlieffenplan nicht ernst genommen, sondern wütend bekämpft worden? Oder man stelle sich vor, die Reichsleitung und die 3. Oberste Heeresleitung hätten nicht Lenin, sondern Alexander Kerenski unterstützt, eine der zentralen Figuren der Februarrevolution von 1917. Hätte man mit dem Kriegsminister und späteren Ministerpräsidenten der Provisorischen Regierung einen billigen Frieden ausgehandelt - wahrscheinlich wären der Welt 70 Jahre Kommunismus erspart geblieben (Aber, so ist hier einzuwenden, Kerenski wollte ja keinen Frieden schließen und wurde deshalb gestürzt!). Und schließlich: Was wäre geschehen, hätte es keine Novemberrevolution, sondern einen kaiserlichen Putsch gegeben? Die alliierten Friedensbedingungen wären kaum härter ausgefallen, aber in den Köpfen der Deutschen hätte sich die Vorstellung festgesetzt, Schuld an der Niederlage sei nicht der Dolchstoß der Heimat, sondern eben diese „Generalsclique“, die damit diskreditiert worden wäre - wahrscheinlich hätten dann die demokratischen Kräfte in Deutschland eine bessere Chance gehabt.
Über Leopold von Ranke kommt Salewski also doch hinweg: Er zeigt nicht nur, wie es gewesen ist, sondern auch, wie es hätte sein können. Anregungen gibt sein schwungvoll geschriebenes, aus einer Vorlesung hervorgegangenes Buch also durchaus. In seiner Vorliebe für kontrafaktische Überlegungen indessen wird sein Autor von einem englischen Historiker weit übertroffen.
Natürlich - die Engländer waren Schuld! Niall Ferguson im Spekulationsfieber
Solch einen kenntnisreichen und engagierten Fürsprecher wie Niall Ferguson (Jahrgang 1963) hat das deutsche Kaiserreich schon lange nicht mehr gehabt. Selten sind der wilhelminischen Gesellschaft und ihren Führungsgruppen so viele sympathische Züge nachgerühmt worden. Nicht an Deutschlands vermeintlicher Stärke sei die durchaus mögliche englisch-deutsche Allianz gescheitert, sondern an seiner Schwäche. Deutschland habe gar nicht nach der Weltmacht gegriffen, sondern lediglich gefürchtet, den Rüstungswettlauf zu verlieren. Die deutschen Sorgen vor einer Einkreisung zeugten weniger von Verfolgungswahn als von Realismus. Ausgerechnet die Macht, die selber einer bevorstehenden Niederlage im Rüstungswettlauf ins Auge sah, habe im Ruf eines exzessiven Militarismus gestanden.
Je heller das Licht, das auf Deutschland fällt, desto dunkler die Farben, in denen dessen Hauptgegner gemalt wird. Eben das England, von dem Salewski schreibt, ihm sei von allen Hauptbeteiligten wohl doch die geringste Schuld am Kriegsausbruch zuzuweisen, setzt Ferguson auf die Anklagebank. England hätte nicht in den Krieg eintreten müssen, schon gar nicht wegen des Einmarsches deutscher Truppen in Belgien. Die liberale britische Regierung habe sich durch den Vertrag von 1839 nicht gebunden gefühlt, die belgische Neutralität um jeden Preis zu garantieren; hätte Deutschland diese nicht verletzt, so würde Großbritannien es getan haben. Gewiss, Deutschland habe Frankreich und Russland einen Kontinentalkrieg aufgezwungen, aber es sei die britische Regierung gewesen, die den Kontinentalkrieg in einen Weltkrieg verwandelt habe.
Damit aber noch nicht genug. Aus einem Krieg ohne Beteiligung Großbritanniens und der Vereinigten Staaten wäre Deutschland als Sieger hervorgegangen und hätte mit dem ‚Mitteleuropäischen Wirtschaftsbund’ eine Version der Europäischen Union geschaffen, wie sie erst acht Jahrzehnte später Wirklichkeit wurde. Wäre der deutsche ‚Griff nach der europäischen Union’ nach Plan verlaufen, so hätte der Krieg nur halb so lange gedauert und weniger Menschenleben gekostet. Ferguson zufolge hätte ein deutscher Sieg auf dem Kontinent nicht den Anfang vom Ende der britischen Weltmacht bedeutet. Dies geschah nur, weil sich Großbritannien am Weltkrieg beteiligte. Deshalb lautet der Titel seines Buches ‚Der falsche Krieg’.
Auf fast allen Gebieten schneidet Deutschland besser ab als die Entente: Es konnte seine knappen Ressourcen besser mobilisieren, die Moral seiner Bevölkerung kam zu keiner Zeit einem Zusammenbruch so nahe wie in Russland oder Frankreich, und die Kampfkraft der deutschen Soldaten erreichte meist ein höheres Niveau an militärischer Effektivität. Positives kann Ferguson selbst den im September 1914 formulierten deutschen Kriegszielen abgewinnen, die, wären sie verwirklicht worden, zu einer von Deutschland beherrschten europäischen Zollunion geführt hätten - britische Interessen wären von ihr nicht bedroht worden.
Kein Wunder, dass der Vertrag von Brest-Litowsk im ganzen Buch nur einmal auftaucht. In diesem am 3. März 1918 von den Mittelmächten diktierten ‚Frieden’ musste die bolschewistische Revolutionsregierung u.a. der Ablösung Polens, Litauens, Estlands, Lettlands und der Ukraine einschließlich der Krim vom Russischen Reich zustimmen, das damit 34 Prozent seiner Einwohner sowie 54 Prozent seiner industriellen Unternehmen und 84 Prozent seiner Kohlenbergwerke verlor. Später folgende Zusatzverträge vervollständigten die wirtschaftliche Ausplünderung Russlands und schoben den deutschen Herrschaftsbereich immer weiter nach Osten vor. Zu Recht schreibt Volker R. Berghahn, dieser ‚Friede’ zeige, wie ernst es der Obersten Heeresleitung mit ihren Kriegszielen war: Hier sollte der östliche Teil des exorbitanten Annexionsprogramms verwirklicht werden, das Deutschland einen ‚blockadefreien’ Machtblock auf dem europäischen Kontinent zu errichten erlaubte. Brest-Litowsk gab zu erkennen, was ein siegreiches Deutschland mit Europa gemacht hätte.
Ferguson nun relativiert die Bedeutung dieses Diktatfriedens und lässt ihn sogar als akzeptabel erscheinen: Die Verringerung der russischen Macht in Osteuropa und die Schaffung eines ‚Mitteleuropäischen Wirtschaftsbundes’ hätte britischen Interessen nicht widersprochen. Großbritannien hätte die deutsche Hegemonie in Osteuropa als Bollwerk gegen den Bolschewismus durchaus hinnehmen können; schließlich hätten ja Finnland und Litauen ihre Unabhängigkeit erlangt, während allerdings, so muss Ferguson denn doch einräumen, Lettland, Kurland, die Ukraine und Georgien unter dem Deckmantel der nationalen Selbstbestimmung Opfer einer schlecht verdeckten Annexion geworden seien.
Passagen wie diese erwecken den Verdacht, dass mit Ferguson die wissenschaftliche Phantasie durchgegangen ist. Ganz anders verhält es sich dagegen, wenn der auf dem Klappentext als „Autorität für die Wirtschaftsgeschichte des Ersten Weltkriegs“ Gepriesene das Spekulieren lässt und seine in der Tat bewunderungswürdigen ökonomischen Kenntnisse ausbreitet. Man lernt viel über die Finanzierung des Rüstungswettlaufs und über die Steuersysteme verschiedener europäischer Staaten; man liest makaber anmutende, detaillierte Bilanzen über die Kosten für die Tötung eines Soldaten. Auch hier schneidet Deutschland bzw. schneiden die Mittelmächte besser ab als die Entente: Sie töteten mindestens 35 Prozent mehr Soldaten, als sie verloren; auch konnten sie 25 bis 28 Prozent mehr Gefangene machen als die Gegenseite; selbst die Niederlage hatte mehr mit Fehlern der deutschen Strategie zu tun als mit Fortschritten auf alliierter Seite.
Der nahe liegenden Frage, warum trotz aller angeblichen Überlegenheit Deutschland den Krieg schließlich dennoch verlor, weicht Ferguson nicht aus. Er konstatiert eine „Krise der Kampfmoral“ auf deutscher Seite und eine in den letzten drei Kriegsmonaten zunehmende Kapitulationsbereitschaft vieler deutscher Soldaten; daher habe der Krieg nicht länger fortgesetzt werden können. Aber wenn es stimmt, dass alle Soldaten (nicht nur die deutschen) kämpften, weil sich im Krieg eine Art ‚Todestrieb’ zeigte, dann bleibt zu erklären, warum sie schließlich damit aufhörten. Die gesunkene Kampfmoral wegen der fehlgeschlagenen Frühjahrsoffensive, Ludendorffs Bitte um Waffenstillstand sowie das wachsende Problem von Krankheiten – das alles habe deutsche Soldaten veranlasst, das Kämpfen als kostspieliger anzusehen, als sie es 1917 getan hatten; ihre Kapitulationsbereitschaft könne jedoch nicht als Ausdruck eines allgemeinen Überdrusses an der Gewalt interpretiert werden. Bei seinem Versuch, auf diese „letzte und schwierigste Frage“ eine abschließende Antwort zu geben, ist Ferguson wieder auf dem Gebiet der Spekulation angekommen.
Letztlich unerforschbar? Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert
„Wer sich mit dem Ersten Weltkrieg befasst, begibt sich auf ein vertrautes und äußerst bedeutsames, im letzten aber doch unerforschbares Gebiet.“ Trotz dieser in der Einleitung ausgedrückten Skepsis versuchen Jay Winter, Geoffrey Parker und Mary R. Habeck in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband den aktuellen Stand der historischen Forschung zusammenzufassen. Von den 13 beteiligten Autoren, die aus den USA, Kanada und Großbritannien kommen, teilen „viele“, wie es in der Einleitung heißt, einen generationenspezifische Erfahrung: Sie haben ihre Berufskarriere in einer Zeit begonnen, als der Kalte Krieg auf dem Höhepunkt war und alle militärpolitischen Fragen im Zeichen des Vietnamkrieges standen. Dieser Krieg habe deutlich gemacht, dass Militärgeschichte mehr einbeziehen müsse als nur strategische Überlegungen, Kriegstechnik, Logistik, Ideologie oder Massenpsychologie; vielmehr müsse sie mit Hilfe eines „umfassenden Ansatzes“ analysiert werden.
Was diesen Sammelband auszeichnet, ist aber nicht ein einziger umfassender, sondern sind viele verschiedene Ansätze. Im ersten Teil (‚Kriegsbeginn’) spüren die Autoren den tieferen Ursachen des Machtkampfes zwischen den Großmächten nach; im zweiten und dritten Teil (‚Kriegführung’ und ‚Im Schatten des Krieges’) präsentieren sie Aspekte des ersten totalen Krieges im 20. Jahrhundert aus vergleichender Sicht, angefangen von der Massenmobilisierung in den beteiligten Staaten bis hin zur Funktion der Kriegsökonomien und den Versuchen einer weitgehenden Einbeziehung der Arbeiterschaft in die Heimatfront; in den Blick kommen schließlich auch die langfristigen Folgen der ‚Urkatastrophe’ wie die Entkolonialisierung, die Veränderungen des internationalen Staatensystems sowie die Bildung von Mythen und Legenden.
Auch in diesem Sammelband werden kontrafaktische Szenarien entworfen. Was wäre geschehen, wenn Deutschland den Krieg gewonnen hätte? Michael Howards Antwort fällt ganz anders aus als bei Niall Ferguson: Eine antidemokratische Regierung unter Ludendorff hätte die liberale und sozialistische Opposition unterdrückt (wenn auch nicht so brutal wie die Nationalsozialisten), und protofaschistische Ideen hätten sich in Europa früher entfaltet und stärker ausgebreitet; daher habe die Niederlage Deutschlands der Demokratie in Europa wenigstens eine weitere Chance gegeben. Genau entgegengesetzt argumentiert William C. Fuller jr., der daran zweifelt, ob der Sieg der Alliierten ohne Russland tatsächlich der optimale Ausgang des Ersten Weltkriegs war. Wäre ein siegreiches Deutschland für die zivilisierte Menschheit nicht besser gewesen? Es hätte mit dem bolschewistischen Regime kurzen Prozess gemacht, und dem 20. Jahrhundert wäre Hitler und Stalin erspart geblieben.
Die Mobilisierung der Volkswirtschaften für den Krieg untersucht Gerald D. Feldman. Er sieht in der wirtschaftlichen Mobilmachung nicht das potentielle Vorspiel zu einer neuen Wirtschaftsordnung, sondern eine massive Störung und Verzerrung der hoffnungsvollen Ansätze, die das internationale kapitalistische System vor 1914 enthalten hatte. Inflation und Destabilisierung bereiteten den Weg für die Weltwirtschaftskrise, deren Bewältigung nicht gelang; die in Mittel- und Osteuropa eingeführte Zwangswirtschaft bedeutete faktisch Mangelwirtschaft. Feldman kann daher der Kriegswirtschaft keine positiven Seiten abgewinnen. Nicht die Erfahrung der wirtschaftlichen Mobilmachung im Ersten Weltkrieg, sondern die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise gab nach 1945 den Anstoß zu sozialen und wirtschaftlichen Reformen sowie zur internationalen Zusammenarbeit.
Wie wirkten sich der industrialisierte Massenkrieg und die Mobilisierung aller Ressourcen auf die Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung aus? John Horne arbeitet die Unterschiede in den kriegführenden Staaten heraus: In Nationalstaaten mit einem hohen Grad an demokratischer Legitimität und eingespielten Mechanismen zur Beilegung von Arbeitskonflikten wie Großbritannien und Frankreich hielten sich die Unzufriedenheit der Arbeiter und die sozialistische Agitation gegen den Krieg in Grenzen, zumal sich die Lebensbedingungen nicht so dramatisch verschlechterten wie in Russland und in Deutschland. Aber nicht nur in Europa führte der Erste Weltkrieg zu Revolutionen; er erschütterte auch die Grundlagen der europäischen Kolonialreiche und läutete das Ende der Vorherrschaft des weißen Mannes ein. Dabei habe das Selbstbestimmungsrecht eine Rolle gespielt, behauptet A. S. Kanya-Forstner, aber vor allem die Wahrnehmung Europas in den Kolonien: Der Weltkrieg ramponierte das Ansehen der angeblich überlegenen westlichen Zivilisation, in deren Namen sich die Europäer vier Jahre lang abgeschlachtet hatten.
In seinem Beitrag über ‚Das kulturelle Vermächtnis des Ersten Weltkriegs’ macht Modris Ekstein noch einmal seine These stark, die er in seinem 1989 erschienenen, Aufsehen erregenden Buch ‚Tanz über Gräben’ vertreten hat: Deutschland habe vor 1914 in kultureller Hinsicht seinen international anerkannten ‚Platz an der Sonne’ bereits gehabt, und der Erste Weltkrieg habe den endgültigen Durchbruch zur Moderne gebracht; die militärischen Sieger Großbritannien und Frankreich dagegen hätten den Krieg auf geistigem Gebiet verloren.
In dem Sammelband werden noch weitere Themen aufgegriffen wie etwa die aus der Perspektive des ‚kleinen Mannes’ gesehene Technik, eine Kulturgeschichte des Kampferlebnisses und die Bedeutung von Mythen. Die Untersuchungen über den Ersten Weltkrieg seien zu einem „Haus mit vielen Wohnungen“ geworden, schreiben die Herausgeber in der Einleitung, und sie wollen auf eine vergleichende Geschichte der Armeen und Gesellschaften hinarbeiten, die im 20. Jahrhundert gegeneinander Krieg geführt haben. Ihre Publikation stellt also nicht das Ende, sondern den Anfang von weiteren Forschungen dar, und so ist wohl auch die Formel von der ‚Unerforschbarkeit’ des Ersten Weltkriegs zu verstehen (wenn es kein Bescheidenheitstopos ist). Wer Freude an originellen Fragestellungen und anregenden Interpretationen hat, kommt jedenfalls bei der Lektüre voll auf seine Kosten.
Das Land der Kompensationsdiskurse – Bruno Thoß und Hans-Erich Volkmann schreiben die Erfahrungsgeschichte beider Weltkriege
Über dem Sammelband ‚Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg’ schwebt der Geist Ludwig Dehios: Deutschland unternahm im 20. Jahrhundert zwei kriegerische Anläufe zur Weltmacht, die schließlich mit seinem Zusammenbruch und mit der Zerschlagung seines militärischen Machtapparats endeten. Die Herausgeber Bruno Thoß (Jahrgang 1945) und Hans-Erich Volkmann (Jahrgang 1938), Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam bzw. Freiburg, wollen nun zeigen, dass beide Weltkriege zwar den ihnen zugrunde liegenden Typus totaler Kriegführung variierten, aber sowohl verbundene als auch unterscheidbare Kriege waren, wenn man danach fragt, wie sie von den Betroffenen an der Front, in der Heimat und in den besetzten Gebieten wahrgenommen und gedeutet wurden.
Um Erfahrungsgeschichte also geht es, und zwar am Beispiel Deutschlands. Auf eine international vergleichende Bestandsaufnahme wird verzichtet; dafür präsentiert der Sammelband den Stand der Weltkriegsforschung auf möglichst breiter Ebene und gibt zugleich inhaltlich wie methodisch weiter führende Anstöße für künftige Forschungen. Vorgeschlagen wird etwa, Militärgeschichte als historische Soziologie organisierter Gewalt zu betreiben; eine zu entwickelnde Theorie der Macht müsse den vielfältigen Perspektiven von Opfern, Tätern und Zuschauern Rechnung tragen. Ein weiterer Vorschlag lautet, Kollektivbiografien von hohen und höchsten Offizieren zu schreiben. Warum eigentlich, so die ketzerische, weil zum Konzept der ‚Geschichte von unten’ quer stehende Frage, soll jeder Schütze an der Westfront und jede Näherin in der Heimat interessanter sein als ein General?
Die insgesamt 43 Aufsätze sind sieben Großkapiteln zugeordnet: 1. Die Weltkriege als Kriege neuen Typs, 2. Deutsches Führungsdenken und technologische Entwicklung in den Weltkriegen, 3. Krieg als Welt der Soldaten: die militärische Gesellschaft, 4. Krieg als kollektive Erfahrung in der Heimat: die zivile Gesellschaft, 5. Krieg als Besatzungsherrschaft: die Welt der Besatzer und Besetzten, 6. Erinnerungskulturen und Nachkriegszeiten sowie 7. Die Epoche der Weltkriege als Methodenwerkstatt für eine interdisziplinäre Militär-, Gesellschafts- und Erfahrungsgeschichte. Natürlich können hier nicht alle Beiträge gewürdigt werden; zwei Ergebnisse erscheinen dem Rezensenten besonders bemerkenswert.
1. Offen bleibt die Frage, ob trotz aller Gemeinsamkeiten letztlich doch die Unterschiede zwischen beiden bewaffneten Konflikten den Ausschlag geben. Die Herausgeber sprechen von einem qualitativen Sprung: Der Zweite Weltkrieg sei radikaler, brutaler und in jeder Hinsicht extensiver gewesen, und zwar sowohl im Einsatz von Gewaltmitteln und -methoden als auch in der Ausbreitung in die Gesellschaft und in den europäischen Raum. Nationale Stereotypen, Vorurteile und Antisemitismus hätten nach 1941 eine neue Dimension erreicht und die ‚Vernichtung‘ und ‚Ausmerzung‘ von ‚Untermenschen‘ mit eingeschlossen. Die Ähnlichkeit zwischen beiden Kriegen sei nur scheinbar, resümiert Bruno Thoß, der vor allem in der Radikalisierung das Andersartige sieht.
Allerdings fallen viele Befunde ambivalent aus. Das zeigt etwa der Beitrag über die deutsche Militärjustiz, in dem ein radikaler Bruch zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg behauptet und mit Zahlen gut begründet wird: Es gab 48 vollstreckte Todesurteile im Ersten, dagegen knapp 20.000 im Zweiten Weltkrieg. Zwar wurde ein autoritäres, aber immer noch rechtsstaatliches Verständnis von Justiz durch ein totalitäres abgelöst, aber offensichtlich hatte dies keine Auswirkungen auf den Kriegsverlauf - trotz einer milden Justizpraxis hielt das deutsche Heer im Ersten Weltkrieg jahrelang einer enormen Übermacht stand, und trotz der radikalen Terrorjustiz der Jahre 1939 bis 1945 erlag es dieser Übermacht schließlich auch beim zweiten Anlauf.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten zeigen sich auch in der Wirtschaftspolitik. Im Vergleich zum Dritten Reich erscheint das ausgehende spätwilhelminische Deutschland noch als Hort liberaler Wirtschaftsgesinnung. Zwar lagen schon vor Kriegsausbruch theoretische Konzeptionen für einen autoritären Staat mit Kommandowirtschaft bereit, die dann auch seit 1916 von Politik und Verwaltung ansatzweise aufgegriffen wurden, aber von einer konsequenten Verwirklichung kann keine Rede sein. Aufgrund dieser Erfahrungen griffen die Nationalsozialisten zu staatlichen Lenkungsmaßnahmen im Bereich der Versorgungspolitik.
2. In vielen Beiträgen wird der Zusammenhang von Knappheitsproblemen und Kompensationsdiskursen angesprochen. Appelle an Willenskraft und Glaubensbereitschaft, an Tapferkeit und Nervenstärke dienten in beiden Weltkriegen der Mobilisierung psychischer Ressourcen als Ersatz für fehlende personelle und materielle Kräfte. Adressat dieser Kompensationsdiskurse waren zunächst die Soldaten, die im Ersten Weltkrieg den ‚Vaterländischen Unterricht’ und im Zweiten Weltkrieg die ‚Nationalsozialistische Führung’ über sich ergehen lassen mussten. Hinzu kam, dass das politische und militärische Führungsdenken hochgradig ideologisch aufgeladen und nicht selten von einem Optimismus ohne jeden Realitätskontakt geprägt war.
Erfahrungen von Knappheit machten etwa die deutschen Luftstreitkräfte. Im Ersten Weltkrieg stellten sie eine bedeutende Streitmacht dar, die allerdings wegen der begrenzten technischen Leistungsfähigkeit der Flugzeuge und der gewaltigen Ressourcen der Alliierten niemals eine strategische Wirkung entfalten konnte. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war die deutsche Luftwaffe eine der stärksten der Welt, wurde aber 1942 von den Alliierten in der Flugzeugtechnik überholt und ab 1944 regelrecht deklassiert. Überdeutlich wurden ihre Leistungsgrenzen; ein wirkungsvoller Luftkrieg gegen Ziele im feindlichen Hinterland überstieg die Fähigkeiten von Technik und Führung.
Auch im Seekrieg konnten Knappheitsprobleme nicht von überlegenen technischen Innovationen der Ingenieure wettgemacht werden. Die mitteleuropäische Kontinentalmacht Deutschland versuchte zweimal, in einer Konfrontation mit den atlantischen Seemächten durch Vernichtung ihrer Transportmittel eine Entscheidung zu erzwingen; beide Versuche scheiterten. Beim ersten Mal fehlten genügend leistungsfähige U-Boote, beim zweiten Mal setzte man zu sehr auf Quantität statt auf Qualität; spätestens Mitte 1943 war der U-Boot-Krieg unwiderruflich verloren. Als Kompensation für fehlende technische Neuerungen blieben Fanatisierung und Ideologisierung des Kampfes übrig.
Fazit: Deutschland verfügte in beiden Weltkriegen über geringe materielle Ressourcen - in Kompensationsdiskursen dagegen brachte es das Land der Dichter und Denker zu wahrer Meisterschaft.
Das Land der Kriegsdiskurse - Anne Lipp kritisiert bürgerlich-militärische Deutungsanbieter
Der Erste Weltkrieg war auch ein Kommunikationsereignis. Erstmals versuchten Staat und Militär im großen Maßstab, Meinungslenkung und Meinungsführerschaft durchzusetzen. Sie reagierten auf bestimmte negative Erscheinungen, welche die Disziplin der Soldaten zu untergraben drohten: unbotmäßiges Verhalten, Gehorsamsverweigerung, unerlaubtes Entfernen bis hin zur offenen Agitation gegen einen Eroberungskrieg. Auf drei Bereiche richteten sie ihre Bemühungen: auf den Frontalltag der Soldaten, auf deren Wahrnehmung der Heimat und auf den Krieg als nationales Groß- und Gemeinschaftsereignis.
In ihrer Tübinger Dissertation von 2000 analysiert Anne Lipp die von ihr ‚Kriegsdiskurs’ genannte Propaganda der Behörden und der militärischen Führung. Entstanden ist ihre Arbeit im Rahmen des Forschungsprojektes ‚Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs’, ein Gemeinschaftsprojekt zwischen den Universitäten Freiburg und Tübingen und der Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart sowie im Rahmen des Tübinger Sonderforschungsbereiches ‚Kriegserfahrungen, Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit’. Lipp fragt nach den soldatischen Einstellungen und Erfahrungen, die diesem Kriegsdiskurs zugrunde lagen, und nach den von ihm hervorgebrachten Deutungs- und Identifikationsangeboten. Antworten sucht sie in den Druckerzeugnissen der Feldpresse sowie in Texten, die im Zusammenhang mit dem im Sommer 1917 eingerichteten ‚Vaterländischen Unterricht’ entstanden.
Schon oft ist in der Forschung darauf hingewiesen worden, dass sich die grauenvollen Erlebnisse der Soldaten gegen eine sprachliche Vermittlung sperrten. Lipp behauptet nun, der offizielle Kriegsdiskurs der von ihr so bezeichneten ‚bürgerlich-militärischen Deutungsanbieter’ habe die soldatischen Kriegserfahrungen in bestimmte sprachliche und bildliche Deutungsmuster überführt und damit gewissermaßen monopolisiert. Er habe also das einzige öffentliche sprachliche und bildliche Zeichensystem geschaffen, um über soldatische Kriegserfahrungen zu kommunizieren. Die an die Kriegsteilnehmer gerichteten Deutungs- und Identifikationsangebote regierten stets auf jene Einstellungen und Verhaltensdispositionen, die als bedrohlich für die eigene Kampfstärke wahrgenommen wurden.
Soldatische Erfahrungen, so lautet eine ihrer Thesen, wurden in ihr genaues Gegenteil verkehrt: Gegen das Grauen und die Schwäche, gegen das drohende und tatsächliche Versagen setzte man das heroisierende Identifikationsangebot des Frontkämpfers. Zweifel am Verteidigungscharakter des Krieges versuchte man zu entkräften, indem man ihn in einen aggressiv-nationalistischen Zusammenhang stellte. Drohte die Solidarisierung von Soldaten und Zivilbevölkerung etwa im Hinblick auf die Sicherung der eigenen Existenz oder auf einen Verständigungsfrieden, so spielte man die ‚Front’ gegen die ‚Heimat’ aus. Damit wurden gewissermaßen die Weichen für die Nachkriegszeit gestellt, folgert Lipp; weder die Niederlage von 1918 noch das politische und soziale Klima der Weimarer Republik erklären den Erfolg kriegsverherrlichender Mythen und Legenden, sondern die bereits während des Krieges entwickelten und verfestigten Deutungsmuster soldatischer Kriegserfahrungen mit ihren langfristigen Auswirkungen. Lipp zeigt das an mehreren Beispielen, von denen hier nur eines angeführt werden soll.
Eine der bekanntesten und folgenreichsten Auswüchse des Kriegsdiskurses war die Dolchstoßlegende, die Behauptung also, die militärische Niederlage Deutschlands im Jahre 1918 sei nicht oder nicht in erster Linie dem Versagen der Armeeführung oder der Erschöpfung der Soldaten zuzuschreiben, sondern dem Versagen bzw. dem Verrat von bestimmten Personen oder Gruppen in der Heimat. Die Schuld an der Niederlage wurde vom militärischen in den zivilen Bereich abgeschoben. Dieses Deutungsmuster wurde allerdings schon vor dem 9. November 1918 geschaffen; bereits in den Aprilstreiks von 1917 nahm mit Wertungen wie „versagende und verratende ‚Heimat’“ die spätere Dolchstoßrhetorik konkrete Gestalt an, und noch im Januar 1918 wurden in Armee- und Schützengrabenzeitungen die Streikenden als „Brudermörder“ gebrandmarkt. Zur späteren Dolchstoßlegende bestand aber ein wichtiger Unterschied: Auch wenn die Heimat vorübergehend ihre Unterstützung versagte, galt ein deutscher Sieg immer noch als möglich; erst nach der Niederlage wurden die alten Schuldzuweisungen reaktiviert und ausgeweitet. Bereits lange vor Kriegsende und nicht erst im Dezember 1918 wurde also der ‚Dolchstoß-Vorwurf’ formuliert.
Ihre analytischen Fähigkeiten stellt Lipp nicht nur an Texten, sondern auch an Bildern unter Beweis. In dem Kapitel ‚Bilder des Durchhaltens’ unterscheidet sie subtil die Darstellung des Soldaten in Armeezeitungen einerseits und in Schützengrabenzeitungen andererseits. Die in den ersten beiden Kriegsjahren vorherrschenden ironischen Porträtskizzen des ‚unbekümmerten Landwehrmanns’ wichen spätestens 1917 stilisierten Wächter- oder Frontkämpfer-Motiven und heroisierenden Kriegsallegorien. An die Stelle der einfachen Soldaten trat immer häufiger die riesenhafte, gepanzerte Heldengestalt mit dem Stahlhelm auf dem Kopf. Mit diesem Bild vom ‚Frontkämpfer’ taten sich dagegen die Schützengrabenzeitungen viel schwerer; sie stellten ihn nicht so schematisch-entpersonalisiert dar und gönnten ihm sogar noch einen Schnurrbart, der in der Frontkämpfer-Ikonografie des stählernen Gesichtes sonst keinen Platz mehr hatte.
In diesem Zusammenhang weist Lipp - wie schon andere vor ihr - darauf hin, dass die Geburtsstunde des deutschen Bildes vom ‚Frontkämpfer’ weniger die Schlacht von Verdun als vielmehr die Somme-Schlacht war (beide 1916). Die wider Erwarten erfolgreiche Abwehr des englisch-französischen Angriffs bot sich als Symbol für das ‚Durchhalten’ geradezu an. Verdun dagegen wurde als Symbol erfolgreicher Verteidigung zum französischen Erinnerungsort. In der Nachkriegszeit, das ist hier zu ergänzen, wurde auch in Deutschland der ‚Verdun-Kämpfer’ mythisiert, wurde Verdun zum Ort eines regelrechten ‚Schlachtfeldtourismus’, wo sich ehemalige Frontkämpfer aus beiden Ländern trafen, um ihre Kampferlebnisse auszutauschen.
Der lange Abschied von der Schlachtenerzählung - Markus Pöhlmann entdeckt neue Ansätze in der traditionellen Militärgeschichtsschreibung
Zwischen 1914 und 1956 lag die amtliche deutsche Weltkriegsgeschichtsschreibung in den Händen zunächst des Großen Generalstabs, sodann des Potsdamer Reichsarchivs und später dessen Nachfolgebehörden wie dem Bundesarchiv. Die Geschichte dieser Geschichtsschreibung analysiert Markus Pöhlmann (Jahrgang 1967) in seiner bei Stig Förster entstandenen Berner Dissertation. Er wertet zeitgenössische Zeitschriften aus sowie neue Quellen aus dem ehemaligen Zentralarchiv der DDR und dem lange geheimen Sonderarchiv in Moskau. Dabei zeigt er eindrucksvoll, wie konkurrierende Deutungseliten (also keineswegs nur Historiker) ‚Geschichte’ für ihre politischen Ziele instrumentalisierten.
Das Potsdamer Reichsarchiv wurde nach dem Ersten Weltkrieg vom Chef der Heeresleitung, Hans von Seeckt, errichtet. Dort arbeitete das Personal des aufzulösenden Generalstabs; es herrschte ein ausgesprochen militärischer und antirepublikanischer Korpsgeist vor, für den schon die Wahl von Potsdam als Standort sinnbildlich war. Republikanisch gesinnte Mitarbeiter zählten zur Minderheit, und die politische Führung versäumte es, durch eine entsprechende Personalpolitik einen loyalen Beamtenstab zu schaffen. Überhaupt bejahten die meisten Wissenschaftler den nationalen Machtstaat mit dem Militär als seiner wichtigsten Stütze. Parteiübergreifend lehnten sie den Versailler Vertrag ab und verstanden ihre Arbeit als Dienst nicht an der Republik, sondern an der deutschen Nation. Niemanden konnte überraschen, dass die meisten Forscher die ab 1934 einsetzende Remilitarisierung der amtlichen Kriegsgeschichtsschreibung begrüßten.
Eine Breitenwirkung erzielte die amtliche Kriegsgeschichtsschreibung zwischen 1918 und 1945 allerdings weniger durch ihr 18 Bände umfassendes und von 1925 bis 1956 herausgegebenes Monumentalwerk ‚Der Weltkrieg 1914-1918’. Erfolg hatten vielmehr amtliche, halbamtliche und private Veröffentlichungen, ein Medienmix aus Büchern, Fachzeitschriften, Presse- und Propagandafotografie sowie dem Film. Die breitenwirksamen, volkstümlichen Regimentsgeschichten und Reihenwerke wie ‚Schlachten des Weltkrieges’ verschwiegen zwar zahlreiche und teilweise auch schwerste Niederlagen nicht, interpretierten sie aber immer als Drama, Tragödie oder Schicksal, und Buchillustrationen verstärkten diese heroische Trivialisierung und mythische Überhöhung des Krieges. Nach dessen Ursachen und Folgen zu fragen, war tabu.
In diesem reaktionären Sumpf nun entdeckt Pöhlmann einige fortschrittliche Blüten. Über den Historismus mit seiner Orientierung am Nationalstaat und an der ‚großen’ Persönlichkeit kamen die Mitarbeiter des Reichsarchivs nämlich durchaus hinweg, aber gewissermaßen gegen ihren erklärten Willen. Wer unter Berufung auf Leopold von Ranke den Primat der Außenpolitik stark machte, widersprach damit dem ‚rechten’ Erklärungsmuster für die Niederlage, nämlich der Dolchstoßlegende, die ja gerade mit dem Primat der Innenpolitik argumentierte. Auch die Auffassung von den Aufgaben amtlicher Kriegsgeschichte veränderte sich; die quellenkritische Methode wurde nun auch von Generalstabshistorikern anerkannt, man nahm die umfangreiche in- und ausländische Literatur zur Kenntnis, und mit der planmäßigen Befragung von Zeitzeugen erschloss das Reichsarchiv systematisch eine für die damalige Geschichtswissenschaft neuartige Quellengruppe. Erstmals wurde in amtlichen Darstellungen auch Kritik akzeptiert, die jedoch gewissermaßen mit der Reihenfolge der Heeresleitungen an Schärfe verlor: vernichtend für Moltke, negativ für Falkenhayn und apologetisch für Hindenburg und Ludendorff.
Methodische Innovation - das hieß also Kritik an der alten Generalstabshistoriografie, endgültige Übernahme der Methoden der Geschichtswissenschaft, Entwicklung neuer Methoden wie der Zeitzeugenbefragung, Abweichung von der traditionellen, heroisch-apologetischen Darstellung, Auswertung unkonventioneller Quellen wie etwa Stimmungsberichte der militärischen Dienststellen oder Kriegsbriefsammlungen. Kurz: die innovatorischen Leistungen lagen weniger auf inhaltlichem als vielmehr auf methodischem Gebiet; sie betrafen die wachsende Bereitschaft, individualpsychologische Faktoren und ökonomische Strukturen stärker zu berücksichtigen. Die Totalisierung des modernen Massen- und Materialkriegs zu verdeutlichen, die Entwicklung vom Krieg der operativen Führerentscheidungen hin zum Krieg der Bruttosozialprodukte und der Weltanschauungen zu analysieren - das überforderte die deutsche Generalstabshistoriografie in jeder Hinsicht.
Wissenschaftliche Erträge sieht Pöhlmann auch in Gutachten des Reichsarchivs, die im Zusammenhang mit dem Münchner ‚Dolchstoßprozess’ von 1924 angefertigt wurden. Ergebnis dieses Prozesses war, dass die Mehrheitssozialdemokraten vom Vorwurf entlastet wurden, am ‚Dolchstoß’ beteiligt gewesen zu sein. Zu diesem Ergebnis hätten Pöhlmann zufolge auch Gutachter des Reichsarchivs beigetragen, die auf die unheilvolle Rolle der annexionistischen Kreise im Krieg oder die Frage der sozialen Missstände in Heer und Marine hinwiesen. Dadurch sei das Schlagwort vom ‚Dolchstoß’ in politischen und wissenschaftlichen Kreisen weniger gesellschaftsfähig geworden.
Die kontrafaktische Frage ‚Was wäre wenn’ kann man auch im Hinblick auf die nicht geschriebene Geschichte stellen. Geplant, aber nicht realisiert wurden Sonderbände etwa zum Kolonialkrieg oder zu den Luftstreitkräften. Die bereits in der Auslieferung befindlichen Bände zur Kriegsrüstung und -wirtschaft wurden auf Befehl des Reichswehrministeriums 1922 eingezogen und vernichtet, und auch der Plan einer ‚Kulturgeschichte des Weltkriegs’ musste 1934 aufgeben werden. Über Ansätze kam die Militärgeschichtsschreibung also nicht hinaus, und der Beginn des Zweiten Weltkriegs zerstörte alle Chancen zu einer Erneuerung endgültig. Ihr Ende läutete erst die Niederlage 1945 ein, aber der Abschied von der Schlachtenerzählung sollte sich noch lange hinziehen.
Beim nächsten Krieg wird alles anders. Stig Försters Schüler rekonstruieren Sandkasten-Planungen der Zwischenkriegszeit
Von 1918 bis 1939 stand der Begriff des ‚totalen Krieges’ im Mittelpunkt einer Diskussion über moderne Kriegführung, die in verschiedenen militärischen Fachzeitschriften ausgetragen wurde. An ihr beteiligten sich Offiziere aus der Schweiz, aus dem Deutschen Reich, aus Belgien, Italien, Frankreich, Großbritannien und aus den USA. Bei der Suche nach Lösungen für das Problem der Entgrenzung und der wachsenden Unkontrollierbarkeit des Krieges spielte das Konzept des ‚totalen Krieges’ eine zentrale Rolle: Sollte man ihn bewusst anstreben oder im Gegenteil vermeiden? Die Debatte über den modernen Krieg vergleichend ausgewertet zu haben, ist das Verdienst mehrerer jüngerer Historiker (meist in den späten 1960er-Jahren geboren), die unter der Leitung des an der Universität Bern lehrenden Historikers Stig Förster (Jahrgang 1951) an einem Mitte der 1990er-Jahre begonnenen Forschungsprojekt mitgewirkt haben.
Förster grenzt das Zeitalter des totalen Krieges auf die Jahre 1861 bis 1945 ein, also vom Amerikanischen Bürgerkrieg bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. ‚Total’ ist ein Krieg, wenn er vier Merkmale aufweist: 1. Totale Kriegsziele: An die Stelle traditionell begrenzter Kriegsziele tritt die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation. 2. Totale Kriegsmethoden: Sobald beide Seiten totale Kriegsziele verfolgen, radikalisieren sich die Kriegsmethoden - Beispiele sind die Vernichtungsfeldzüge der Unionsgeneräle Sherman und Sheridan im Amerikanischen Bürgerkrieg, das brutale Auftreten deutscher Truppen in Belgien, die alliierten Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg und die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen durch die Deutschen. 3. Totale Mobilisierung: Sie wird zwar angestrebt, aber nie vollständig verwirklicht, so dass man hier lediglich von einer Tendenz sprechen kann, Gesellschaft und Wirtschaft vollständig auf den Krieg auszurichten. 4. Totale Kontrolle: Zensur und Propaganda gelten als normal, ja kriegswichtig, so war blanker Terror alltäglicher Bestandteil der nationalsozialistischen und der sowjetischen Kriegsanstrengungen.
Was beim nächsten Krieg alles anders werden würde, zeigt am besten das Beispiel des Luftkriegs, der den ‚totalen Kriegsmethoden’ zuzurechnen ist. Im Jahre 1921 veröffentlichte der italienische General Giulio Douhet sein Buch ‚Luftherrschaft’, in dem er behauptete, der zukünftige Krieg werde von derjenigen Seite entschieden, welche die Luftherrschaft durchsetzen könne; es werde ein sehr gewalttätiger Kampf werden, der im Wesentlichen darauf hinauslaufe, die Moral des Gegners zu brechen. Douhets Buch wurde mehrmals aufgelegt und in verschiedene Sprachen übersetzt, allerdings ganz unterschiedlich wahrgenommen, diskutiert und umgesetzt.
Die italienische Luftwaffe sammelte praktische Erfahrungen mit neuen Kampfflugzeugen im Spanischen Bürgerkrieg. In Frankreich brachte Douhets Theorie eine Spaltung in die Luftstreitkräfte hinein: Einige Offiziere wollten sie komplett übernehmen, andere lehnten sie rundweg ab, ohne allerdings Alternativen anbieten zu können. Diese Uneinigkeit über die Rolle der Luftstreitkräfte in einem künftigen Krieg hatte negative Folgen für die Luftkämpfe von 1940. Frankreichs Nachbar Belgien verfügte in diesem Jahr nur über eine Handvoll moderner Jagdflugzeuge, und die in den USA bestellten modernen Kampfflieger trafen zu spät in Europa ein.
In den Vereinigten Staaten selbst dominierten traditionalistische Offiziere, die an der revolutionären Kraft moderner Technologie zweifelten. Noch nicht einmal ‚Verdun’ erschütterte das Dogma von der Infanterie als ‚Königin der Schlacht’, und man glaubte, der nächste Krieg werde wiederum in Schützengräben und mit Bajonetten ausgefochten; man stellte die Luftwaffe als ‚Auge der Infanterie’ mit der Kavallerie auf eine Stufe und bestritt damit ihre Eigenständigkeit. Großbritanniens Militärs schließlich rezipierten Douhet erst in den frühen 1930er-Jahren, aber das blieb folgenlos. Trotz eines durchaus existierenden internationalen Informationsaustausches verschloss sich die Royal Air Force (ähnlich wie Heer und Marine) ausländischen Vordenkern.
Die USA und Großbritannien waren diejenigen Mächte, die im Zweiten Weltkrieg mit massiven Luftangriffen die Infrastruktur Deutschlands zerstören und die Moral seiner Bevölkerung brechen wollten. Dort diskutierte man schon seit Mitte der 1920er-Jahre über die Rolle der Luftstreitkräfte im Krieg der Zukunft. Douhets erst 1935 ins Deutsche übersetzte Buch wurde weitgehend abgelehnt; die Bombardierung von Madrid während des Spanischen Bürgerkriegs zeigte, dass die Zerstörung von Großstädten aus der Luft nicht so leicht war, wie es sich die Theoretiker des strategischen Luftkriegs gedacht hatten. Dennoch: Die Planung des Krieges in der dritten Dimension, der ja die Grenzen zwischen Front und Hinterland auflöste, bezog schon früh die Zivilbevölkerung ein, führte zur Gründung des Reichsluftschutzbundes 1933 und zum zwei Jahre später erlassenen Reichsluftschutzgesetz. Gespenstischer Höhepunkt dieser Maßnahmen bildete der Abwurf von 8.000 Papierbomben über München.
An der Diskussion über den Krieg der Zukunft fallen einige Gemeinsamkeiten auf. Zunächst wuchs die Bereitschaft zur technischen Innovation (sieht man einmal ab von der kontrovers diskutierten Rolle der Luftstreitkräfte), sodann versuchten die Offiziere, ihre Stellung in Staat und Gesellschaft zu verteidigen bzw. aufzuwerten, und schließlich war ganz allgemein die Ansicht verbreitet, der nächste Krieg sei unvermeidbar. Lediglich in Frankreich, auf dessen Territorium sich die furchtbarsten Schlachten des Ersten Weltkriegs abgespielt hatten, bildet sich eine Philosophie der Abschreckung heraus, deren Anhänger hofften, einen neuen Krieg überhaupt verhindern zu können, eben weil er aller Voraussicht nach ‚total’ sein werde.
Ein entscheidendes Element allerdings fehlte in diesen Debatten, und eben dies sollte ein Merkmal des Zweiten Weltkriegs werden: Die Bereitschaft zum Völkermord überstieg die Vorstellungskraft noch des engagiertesten Befürworters eines totalen Krieges. Insofern übertrafen die Ereignisse von 1939 bis 1945 alles, was die militärischen Denker der Zwischenkriegszeit erhofft bzw. befürchtet hatten.
Die Mutter aller Synthesen - Enzyklopädie Erster Weltkrieg
Zwei Grenzen will diese Enzyklopädie überwinden: erstens die Grenze zwischen den Spezialgebieten und zweitens die Grenze zwischen den immer noch viel zu sehr auf ihre jeweilige Nationen beschränkten Wissenschaftlern, die seit mehr als 80 Jahren die ‚Urkatastrophe’ des 20. Jahrhunderts erforschen. Die Gesamtheit des Weltkriegs soll wieder in den Blick kommen - dieses anspruchsvolle Ziel setzt sich die erste moderne deutschsprachige Enzyklopädie des Ersten Weltkriegs. Sie versteht sich nicht als eine Sammlung des verfügbaren Wissens über den Krieg, sondern möchte über die Grenzen der einzelnen Arbeitsfelder hinausgelangen und vor allem den internationalen Vergleich ermöglichen. Sie richtet sich nicht nur an Spezialisten und Forscher, an Lehrende und Studierende, sondern insbesondere auch an die allgemein historisch interessierte Öffentlichkeit. Daher verbindet sie essayistische Überblicksdarstellungen mit fundiertem enzyklopädischem Wissen.
Das mehr als eintausend Seiten umfassende Werk ist in drei Großkapitel gegliedert: Auf die Darstellungen folgt ein Lexikon sowie eine Chronik der Ereignisse von 1914 bis 1918. Im ersten Großkapitel werden einzelne europäische Staaten und die USA vorgestellt, die Gesellschaft im Krieg (Frauen, Kinder und Jugendliche, Arbeiter, Soldaten und Wissenschaftler sowie Kriegsliteratur, Religion, Propaganda, Medizin und Kriegswirtschaft). Es schließt sich ein Unterkapitel über den Kriegsverlauf an, in dem der Weg in den Krieg, die Entwicklung vom europäischen Krieg zum Weltkrieg, die Kriegführung der Mittelmächte und der Entente ebenso geschildert werden wie das Kriegsrecht, die Kriegsverbrechen und schließlich das Ende des Weltkriegs. Das dritte Unterkapitel handelt von der Geschichtsschreibung in der Bundesrepublik und in der DDR.
Während das erste Großkapitel ein knappes Drittel der Enzyklopädie umfasst, nimmt mit mehr als 660 Seiten und 650 alphabetisch angeordneten Stichworten das Lexikon den weitaus größten Teil ein; es folgt eine ausführliche Chronik, ein Autoren- und Stichwortverzeichnis sowie ein Verzeichnis der 23 Karten und über 100 zumeist unveröffentlichten Abbildungen. 146 Verfasser aus 15 Nationen haben an dieser Enzyklopädie mitgeschrieben. Bei den deutschen Autoren handelt es sich ganz überwiegend um Vertreter der ‚erweiterten’ Sozialgeschichte, allen voran Wolfgang J. Mommsen mitsamt seinen Schülern. Er ist es, der im Großkapitel ‚Darstellungen’ den Aufsatz über Deutschland im Ersten Weltkrieg schreibt; Michael Salewski dagegen steuert lediglich einen vier Seiten umfassenden Lexikon-Artikel zum Thema ‚Seekrieg’ bei.
Als eine wahre Fundgrube erweist sich das Lexikon, das auch auf den ersten Blick exotisch anmutende Stichwörter bietet wie ‚Aberglaube’, ‚Gerücht’, ‚Hochspannungszaun’, ‚Null-Acht-Fünfzehn’ ‚Soldatenhumor’ und ‚Ungeziefer’. Nach der Lektüre stellt sich eigentlich nur noch eine Frage: Ist jetzt nicht alles gesagt, ist nicht jeder Fußbreit vermessen, nicht jeder Winkel ausgeleuchtet worden? Die Herausgeber selbst weisen auf Desiderate hin. So fehlt eine international vergleichende Betrachtung politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und mentaler Prozesse im Weltkrieg. Außerdem ist bislang die Verbindung von kollektiven Mentalitäten und individuellem Entscheidungshandeln noch nicht geglückt. Wer künftig die Geschichte des Weltkriegs im Sinne einer ‚verstehenden’ Strukturgeschichte schreiben will, muss den Faktor ‚Mentalität’ in den politischen und militärischen Entscheidungen berücksichtigen. Zugleich muss er die Grenzen des Verstehens deutlich machen, die Stereotypen der Wahrnehmungen und Einschätzungen, den Gruppendruck im Prozess des ‚decision-making’, aber auch das schlichte Nichtwissen über den Verlauf des Krieges an der Front und in der Heimat.
Eines jedenfalls ist sicher: Wie auch immer die hier angemahnten künftigen Synthesen aussehen werden - aufbauen müssen sie auf diesem Buch, dessen Rang als Standardwerk schon jetzt klar erkennbar ist. Die ‚Enzyklopädie Erster Weltkrieg’ stellt eine große wissenschaftliche Leistung dar.